Apokryphen – Verborgene Schriften
Prof. Dr. Kurt Erlemann / Evangelische Theologie
Foto: Sebastian Jarych

Apokryphen - Verborgene Schriften

Der Theologe Kurt Erlemann über religiöse Texte, die nicht den Weg in die Bibel gefunden haben

1947 hielt die religiöse Welt für kurze Zeit den Atem an, als am Toten Meer die sogenannten Qumran-Rollen entdeckt wurden. Sie gelten als die archäologische Sensation des 20. Jahrhunderts, denn die Texte darauf umfassen einen Zeitraum vom dritten Jahrhundert vor Christus bis zum ersten Jahrhundert nach Christus und werfen ein neues Licht auf die Bibel. Bis 1956 wurden insgesamt ca. 1000 Rollen, in bis zu 15000 zerfallenen Fragmenten, entdeckt. Unter den Qumran-Texten befinden sich einige der ältesten bekannten Bibelhandschriften, aber auch sogenannte Apokryphen, also Schriften, die später nicht in den offiziellen biblischen Kanon eingingen. „Apokryphen sind vom Wort her ´verborgene Schriften`“, sagt Kurt Erlemann, Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Bergischen Universität, „die eigentlich nicht zum Kanon der Heiligen Schriften (Der Kanon der Heiligen Schrift ist jene Liste von Schriften, die das Judentum und das Christentum als Bestandteile ihrer Bibel festgelegt hat, Anm. d. Red.) gezählt werden, sondern sozusagen ´Schriften in der zweiten Reihe` sind.“

Apokryphen stehen nicht in der Bibel

Apokryphen stehen nicht in der Bibel. „Das stimmt nicht ganz so“, schränkt Erlemann ein, „denn in der Lutherbibel sind Apokryphen durchaus mit abgedruckt, zumindest sind sie in den großen Ausgaben als Anhang drin. Da steht dann: Apokryphen. Das bezieht sich auf Schriften des Alten Testaments, die spät zum Alten Testament dazugekommen sind und wo man sich dann streiten kann, ob man denen denselben Rang einräumen soll, wie den anderen Heiligen Schriften.“  Als Beispiele nennt er Schriften wie das Buch Jesus Sirach, das Buch Judit oder das Buch der Weisheit Salomos. Interessant dabei ist der Weg, über den diese Geschichten in die Lutherbibel Eingang gefunden haben. „Die waren ursprünglich in der Septuaginta (Die Septuaginta ist die altgriechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, Anm. d. Red.) drin und von dort aus kamen sie in die lateinische Übersetzung, die Vulgata. Von dort aus wiederum gelangten sie in die katholischen Bibeln, so dass sie dann auch nicht mehr als Apokryphen, Schriften zweiter Ordnung, gekennzeichnet wurden. Luther greift nicht auf die Septuaginta und die Vulgata, sondern auf die hebräische Bibel des Alten Testaments zurück. Und dort sind diese apokryphen Schriften noch nicht drin.“ Luther übernehme sie trotzdem, schreibe aber dann: Schriften zweiter Ordnung, Apokryphen. Das sei der Unterschied zwischen den katholischen und den evangelischen Textausgaben, denn man könne bei den Katholiken nicht sehen, was da ´Schriften zweiter Ordnung` sind.

Erkenntnisse über das frühe Judentum in den Qumran-Rollen

Unter den Qumran-Handschriften befindet sich u.a. die Tempelrolle, die einen Zeitraum von 53 v. Chr. bis 21 n. Chr. abdeckt und möglicherweise neue Erkenntnisse für die Religionswissenschaft bietet. „Was diese Handschriften auf jeden Fall bereichern, sind unsere Kenntnisse des frühen Judentums“, erklärt der Theologe. „Es gab eben jenseits der kanonischen Texte auch andere Schriften, die entwickelt und tradiert wurden. Es gab jüdische Gruppierungen, die sich vielleicht von Jerusalem und dem kultischen Zentrum, dem Tempel, abgesetzt haben, weil sie sich da nicht repräsentiert fühlten. Die Qumran-Leute hatten ihre Bibliothek am Toten Meer. Das waren zum Teil kanonische Schriften des Alten Testaments wie z. B. eine Jesaja-Rolle. Dann gibt es aber auch Schriften, die speziell für diese Gemeinschaft gedacht waren, zum Beispiel eine Gemeinderegel, eine Tempelrolle und vieles andere mehr.“ Diese Schriftrollen zeigten uns heute, dass das Judentum durchaus nicht einheitlich zu Zeiten Jesu war. „Es gab zig unterschiedliche Gruppen. Wir kennen ja allein aus dem Neuen Testament nicht nur Pharisäer, es gibt auch Sadduzäer, Zeloten und Sikarier. Wir wissen über Josephus von den Essenern, es gab apokalyptische Gruppierungen, es gab Asidäer usw., also mehr oder weniger konservative jüdische Gruppierungen von hochpolitisch bis unpolitisch. Mit den Funden aus Qumran hat man Texte, die aus der Zeit Jesu stammen und die uns zeigen, es gab jüdische Gruppierungen, die z.T. ähnlich wie Jesus dachten, aber auch total anders.“

Jesu Kindheit in den Apokryphen

In der Bibel fehlen uns jegliche Angaben zu Jesu Kindheit bis auf eine Episode in einem Tempel in Jerusalem, wo der 12-jährige Jesus die Schriftgelehrten mit seinem Verständnis beeindruckt. Kindheitsgeschichten liefern aber die Apokryphen. „Man muss da zwischen der wirkungsgeschichtlichen und der theologischen Bedeutsamkeit differenzieren, denn diese Geschichten haben kräftig die Volksfrömmigkeit befeuert und kamen auch aus Bedürfnissen der Volksfrömmigkeit. Die Menschen wollten einfach auch etwas über den jungen Jesus wissen, und es haben sich viele Legenden gebildet, die die Göttlichkeit des Jesusknaben schon ab dem ersten Lebensjahr bezeugt haben.“ In den Evangelien seien lediglich ein bis drei Jahre aus dem Leben Jesu abgebildet. Die dreißig Jahre vorher lägen irgendwo im Dunkeln, und Volksfrömmigkeit wolle wissen, wie dieser Knabe herangewachsen und was er schon alles Tolles getan habe, bevor er in die Öffentlichkeit getreten sei. „Die theologische Relevanz ist eher gering, weil man weiß, es ist wenig authentisch“, sagt Erlemann, „das, was wir für den Glauben brauchen, das haben wir in den Evangelien. Außerdem sind die Geschichten manchmal auch ziemlich schräg“, lacht der Theologe, „da verhext Jesus seinen Lehrer oder rettet einen Mitschüler, der beim Spielen mit ihm vom Flachdach gefallen ist. Für die Theologie sind sie nicht bedeutsam.“

Apokryphon des Johannes:
Das linke Papyrusblatt zeigt den Titel in der Unterschrift (Subscriptio) des
Apokryphons des Johannes in Nag Hammadi Codex II. Darunter beginnt das
Thomasevangelium
Foto: gemeinfrei

Alttestamentliche Apokryphen sind gut erforscht

Wenn man von Apokryphen spreche, müsse man zunächst wieder differenzieren, denn ein enger Begriff von Apokryphen als Textkorpus beziehe sich auf die alttestamentlichen Schriften, die zwischen dem dritten und ersten Jahrhundert vor Christus entstanden seien, erklärt Erlemann „Die heißen ausdrücklich Apokryphen oder Schriften zweiter Ordnung. Daneben gibt es diesen Begriff auch für alle möglichen frühjüdischen und frühchristlichen Texte, die allerdings nie in irgendeiner Bibelausgabe gelandet sind, die man aber auch unter dem Begriff apokryph einsortiert. Die Qumran-Rollen könnte man dazuzählen oder die ungeschriebenen Jesusworte (Agrapha) sowie apokryphe Evangelien, apokryphe Apostelbriefe, apokryphe Apokalypsen usw.“ Die alttestamentlichen Apokryphen seien alle sehr gut erforscht, es gebe sie in unterschiedlichen Editionen. „Da ist nichts im Vatikan gebunkert oder unter Verschluss, weil es den Glauben unterhöhlen könnte“, stellt Erlemann klar, „die kann man alle lesen und studieren.“

40 bis 50 evangeliumsähnliche Texte sind bis heute bekannt

Außerhalb des Neues Testaments gibt es ca. 40 bis 50 evangeliumsähnliche Texte, die heute bekannt sind, und das allein aus der Antike. Im Neuen Testament stehen lediglich vier Evangelien. „Ja, das war ein langer Prozess, der über mehrere Jahrhunderte gedauert hat. Man kann nicht sagen, dass es die eine Person gab, die eine Autorität oder das Konzil, das das festgelegt hätte. Es war vielmehr so, dass die Schriften, etwa die des Paulus oder die Evangelien, in den Gemeinden tradiert und im Gottesdienst auch benutzt wurden. Es gab Schriften, die haben sich nach Erstgebrauch ziemlich schnell verschlissen, weil sie auf eine ganz konkrete Fragestellung zugespitzt waren, die in einer Generation, in einer Region mal wichtig war, aber später keine Rolle mehr spielte. Andere Schriften haben sich über die Generationen bewährt, weil sie doch ein Potenzial an Lösungsansätzen geboten haben für Fragestellungen, die weit über die erste Generation hinausgegangen sind.“ Diese Schriften setzten sich im gottesdienstlichen Gebrauch durch und konnten sich mit der Zeit als Heilige Schriften von anderen unterscheiden. „Es gab auch theologische und historische Kriterien“, erläutert Erlemann, „manche Schrift war einem Apostel oder Apostelschüler zuzuordnen.“ In der theologischen Zuordnung ging es dann darum zu erkennen, was als rechtmäßig oder legendär zu erachten sei. „Dieser Prozess setzt Mitte des zweiten Jahrhunderts ein, als ein Gnostiker namens Markion begonnen hat, einen ersten Kanon, also eine Richtschnur Heiliger Schriften, zu erstellen. Dieser Kanon war dezidiert antijüdisch. Da gab es ein von jüdischen Gedanken gereinigtes Lukasevangelium sowie zensierte Paulusbriefe. Die anderen Evangelien hat er gar nicht berücksichtigt. Auch das Alte Testament spielte für Markion und die Gnostiker aus theologischer Sicht keine Rolle.“ Das wiederum habe Kirchenväter provoziert, einen eigenen Kanon mit der Zeit zu entwickeln, mit einem klaren Bekenntnis zum jüdischen Erbe, was man in Neuen Testament und im Christentum auch habe. Anfang des zweiten Jahrhunderts gab es eine erste Zusammenstellung, den Canon Muratori, der im Prinzip die vier Evangelien, die Paulusbriefe und noch einige andere Schriften hatte. Der Prozess ging aber bis weit ins vierte Jahrhundert hinein noch weiter. „Wir haben erst in der Mitte des vierten Jahrhunderts die Rede vom Alten und Neuen Testament. Den Terminus „Kanon der Heiligen Schriften“ hat dann Athanasius, der große Kirchenvater, 367 n. Chr. erstmalig festgelegt.“ Bis heute sei der Kanon noch unterschiedlich; in den Ost- und den Westkirchen wurde er nie ganz vereinheitlicht.

Die apokryphe Geschichte vom Ochsen und Esel

Die ´Schriften zweiter Reihe` haben sich zum Teil dennoch bis heute tradiert. So stammen die Idee der Heiligen Drei Könige, das Bild von Ochse und Esel an der Krippe sowie Darstellungen des wahren Antlitzes Jesu oder die Begleitung Jesu nach Golgatha durch die Heilige Veronika, aus den Apokryphen. „Dasselbe gilt hier für die Kindheitsevangelien“, ergänzt Erlemann, „sie sind sehr bedeutsam für die Volksfrömmigkeit geworden. Volksfrömmigkeit versuchte immer so schlagzeilenträchtige Dinge zu bewahren. Alle kennen das Grabtuch von Turin, man wollte auch etwas Haptisches in der Hand haben, als Verbindung zu Jesus. Das war und ist den Menschen bis heute wichtig. Man hat auch immer von Heiligen versucht Reliquien zu sammeln und zu suchen, ob das nun Blutstropfen Jesu waren oder irgendwelche Fetzen von einem Gewand. Das fängt schon sehr früh an. Aber im protestantischen Bereich spielt das kaum eine Rolle.“ Die Geschichte vom Ochsen und Esel sei tatsächlich so nicht in den Evangelien enthalten, bestätigt der Theologe. „Wir haben die Legendenbildung ab dem vierten Jahrhundert, aber erstmalig literarisch greifbar wird es im sechsten Jahrhundert im Pseudo Matthäus-Evangelium, auch einem apokryphen Evangelium, wo Ochse und Esel an der Krippe erwähnt werden, unter Rückgriff auf Jesaja 1,3.“ Diese Erwähnung sei aber sehr antijüdisch gewesen, weil es im Text heiße: Jeder Ochs und jeder Esel erkennt die Krippe seines Herrn, nur du, Volk Israel, erkennst ihn nicht.

Wir können von den Apokryphen lernen

„Religionsgeschichtlich und theologisch können wir viel von den Apokryphen lernen“, sagt Erlemann, „wir können das Eigenprofil der Kanonischen Schriften noch schärfer in den Blick bekommen, indem wir sehen, was als kanonfähig gegolten hat und was nicht. Zudem sehen wir, es ist ein ganz minimaler Ausschnitt aus der frühchristlichen Schrifttradition, denn es gab viel Literatur im frühen Judentum und im frühen Christentum. Davon ist nur ein minimaler Prozentsatz überhaupt nachher in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen worden. Das relativiert so ein bisschen das Bild, was wir von frühem Christentum haben. Wir sehen auf einmal mit den Apokryphen den Reichtum der Literaturbildung und des theologischen Denkens bis hin auch zu Gemeindetypen, die wir so nicht repräsentiert finden in den kanonischen Schriften. An den Apokryphen zeigt sich der Reichtum der frühen Christentümer.“

Uwe Blass

Prof. Dr. Kurt Erlemann leitet den Lehrstuhl für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Bergischen Universität.

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