Die Gesellschaften der abwesenden Männer
Tatjana Tönsmeyer organisiert Konferenz zu Besatzungsgesellschaften des Zweiten Weltkrieges
„Unsere Forschung ist auf eine traurige Weise sehr aktuell“, sagt Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer vom Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität. Die Historikerin beschäftigt sich mit Besatzungsgesellschaften des Zweiten Weltkrieges und dem Einfluss von Okkupation auf den Alltag der betroffenen Menschen.
Seit mehr als einem Jahr beunruhigt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine das Leben aller Menschen weltweit. Die Not derer, die seitdem im aktuellen Kriegsgebiet und vor allem in den russisch besetzten Teilen des Landes leben, ähnelt sich heute wie damals stark. Tönsmeyer widmet sich damit einem Thema, dass in der historischen Auseinandersetzung noch weitgehend unerforscht ist.
Leben unter Besatzung
Die Professorin leitet einen internationalen Forschungsverbund zu den Besatzungsgesellschaften des Zweiten Weltkrieges. Gut 200 Millionen Menschen lebten unter dem Einfluss der deutschen Besatzung in den okkupierten Gebieten. Über ihr Leben weiß man bisher nicht viel. „Es gibt noch viele Forschungslücken“, sagt die Fachfrau, klar sei aber, dass die deutsche Besatzung in jegliche Art des Alltags von Menschen eingegriffen habe. Im Laufe der Kriegsjahre erstreckten sich die Besatzungsgebiete von West- und Nordeuropa bis in den Osten und Südosten des Kontinents. Gerade in Osteuropa waren die Besatzer von Anfang an extrem gewalttätig, nutzten die Ressourcen der unterworfenen Gebiete zu eigenen Rüstungszwecken und beuteten sie dramatisch aus. „Das hatte wiederum massive Konsequenzen auf die Versorgung. Was Menschen vorher als Normalität kannten, gab es mit Besatzung nicht mehr.“
Umgehen mit Mangelversorgung
Zusammen mit Peter Haslinger von der Justus-Liebig-Universität Gießen hat Tönsmeyer eine zweibändige Quellenedition unter dem Titel „Fighting Hunger, Dealing with Shortage“ (´ Den Hunger bekämpfen, mit dem Mangel umgehen`) herausgebracht, die sich mit dem Alltag der Menschen unter Besatzung in Europa beschäftigt. „Die Folgen dieser Kriegshandlungen kann man nachvollziehen, wenn man sich eine Karte dieser Zeit vor sein geistiges Auge hält“, erklärt die Forscherin. „Es war ja ein sehr großes Europa, von Nordnorwegen bis zum Mittelmeer, von der französischen Atlantikküste bis weit in die damalige Sowjetunion. Überall in diesen Gebieten litten Menschen sehr schnell unter Mangelversorgung und mussten damit umgehen.“ Grundnahrungsmittel waren in den Geschäften vielfach nicht mehr zu bekommen und so versuchte man sich auf dem Schwarzmarkt zu versorgen. Dort waren die Preise extrem hoch. „Zugleich übertrat man damit die Gesetze der Besatzer, denn der Schwarzmarkt wurde kriminalisiert, und es drohte Verhaftung.“ In der Quellenedition finden sich zahlreiche Beispiele aus Briefen und Tagebüchern, die die Not der Menschen belegen. So schreibt z. B. ein belgischer Tagebuchautor, dass er bereits im ersten Jahr der Besatzung 16 Kilogramm abgenommen habe. Die Situation der Menschen im damaligen Osteuropa war sogar noch dramatischer. „In der damaligen Sowjetunion setzten die deutschen Besatzer eine regelrechte Hungerpolitik in Szene“, beschreibt Tönsmeyer die Situation, „es gab viele Hungertote.“ Eine Stadt in der Ukraine, die uns aktuell ob ihrer Tragik seit Monaten in den Medien begleitet, führte auch damals die Statistik an. Dazu Tönsmeyer: „Charkiw z.B. hatte in den Jahren des Zweiten Weltkrieges die meisten Hungertoten zu verzeichnen. Aber auch andere sowjetische Städte, Griechenland und ebenso die Niederlande hatten eine enorme Zahl an Hungertoten im sogenannten Hungerwinter 1944/45.“
Die Besatzer ordneten Arbeitspflicht an, die Menschen wurden aber immer schwächer, versuchten sich mit Ersatzprodukten auf dem Schwarzmarkt zu versorgen, manche brachen an ihren Arbeitsplätzen zusammen. „Wir haben Quellen, wo Menschen berichten, dass sie Futter für Tiere gegessen hatten. Und vom Oktober 1941 liegt uns die Warnung des Präfekten von Paris vor, der die Stadtbevölkerung davor warnt, gekochtes Katzenfleisch zu verzehren, weil es Krankheiten überträgt.“
Frauen für Familie verantwortlich
Die Quellenedition folgt dem Konzept der Besatzungsgesellschaften und Tönsmeyer sagt: „Wir zeigen, wie diese Gesellschaften funktionierten.“ Es sei eine Gesellschaft der abwesenden Männer gewesen, erklärt sie, denn man müsse sich vorstellen, dass die Väter entweder zum Krieg eingezogen, oder bereits gefangen genommen, verwundet oder gar gefallen waren. Diesen Familien fehlten daher die Ernährer. „Diese Gesellschaften bestanden zu größeren Prozentsätzen aus Frauen, Kindern und alten Menschen als in Friedenszeiten.“ Kinder und alte Menschen seien in diesem Zusammenhang als bedürftige Menschen zu betrachten, die auch in normalen Situationen Unterstützung bräuchten. Zudem wurden immer wieder Arbeitskräfte zu Rüstungszwecken ins Deutsche Reich deportiert, so dass das Leben von ständiger Angst geprägt war, erklärt die Wissenschaftlerin. In dieser Situation seien es vor allem die Frauen gewesen, die versucht hätten, die Familie zusammenzuhalten, zu ernähren und Schutz zu finden. Auch hier drängt sich die Parallele zum Ukrainekrieg wieder auf, wo eine ähnliche Situation wie vor 80 Jahren im Zweiten Weltkrieg herrscht. „Ich habe selber Menschen getroffen, die schon kurz nach dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind“ sagt Tönsmeyer, „die haben mir immer berichtet, dass sie entweder aus den Erzählungen der Familien oder aus der Schule wissen, was Besatzung bedeutet und sie sagen: ´Das will ich auf keinen Fall erleben. Ich will auf gar keinen Fall unter Besatzung leben! ` Dann fliehen sie nach Deutschland und stellen fest, dass Besatzung hier kein großes Thema ist.“
Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission hat im letzten Herbst ein Seminar veranstaltet, in der ein ukrainischer Wissenschaftler, der in zeitweise in einem Gebiet mit Besatzung gelebt hat, über die aktuelle Situation im Land berichtete. Tönsmeyer selber referierte gleichzeitig über ihre historischen Forschungen und stellte fest: „Da konnten wir sehen, dass die Gewalt, die um die nächste Ecke lauert, die Ängste beim Einkaufen, die Wohnung, die kein sicherer Rückzugsort mehr ist, weil Besatzer an die Türe hämmern und man als Zivilist nichts machen kann, die Tatsache, dass man keine verlässlichen Informationen mehr bekommen kann, kennzeichnen Vergangenheit und Gegenwart.“
600 Quellen aus ganz Europa
In den gedruckten Editionen sowie einem zusätzlichen Online-Portal finden sich rund 600 aussagekräftige Quellen, berichtet Tönsmeyer, die aus ca. 70 Archiven aus allen europäischen Ländern, die einmal deutsch besetzt waren, stammen. Darunter sind Tagebücher, Briefe, Petitionen, aber auch Marktordnungen und Verfügungen. „Aus ca. 20 Sprachen haben wir diese Quellen ins Englische übersetzt. Im Online-Portal gibt es dazu noch ein originalsprachliches Transkript sowie die Möglichkeit, Originalscans aufrufen. Somit bietet das Portal noch eine Vielzahl zusätzlicher Möglichkeiten“, ergänzt sie.
Um die alltäglichen Einschränkungen nachvollziehbar zu machen, nennt die Wissenschaftlerin das perfide Beispiel einer Marktordnung aus der Ukraine. „Darin legt der deutsche Kommandant detailliert fest, wann auf dem Markt was verkauft werden darf, wie die Stände zu beschriften sind und dass Verkäufe auf den Wegen streng bestraft würden. Dann folgt eine sehr lange Liste, in der minutiös aufgeführt wird, was nicht verkauft werden darf, zum Beispiel kein Fleisch, aber auch keine Milch- oder Getreideprodukte. Wenn man das liest, fragt man sich: Was bleibt denn überhaupt noch übrig? Und am Ende steht dann: alles andere ist frei verkaufbar.“
Die Edition zeige nun, wie die Menschen mit diesen Auflagen umgingen.
Tagung in Wuppertal beschäftigt sich mit Lokalverwaltungen unter Besatzung
Der Rahmen, in dem die einheimischen Menschen in den besetzten Gebieten agieren konnten, war sehr begrenzt. Die von Tönsmeyer in Wuppertal initiierte Tagung widmet sich dieser Situation unter dem Titel ´Occupied Societies and Local Administration` (Besetzte Gesellschaften und lokale Verwaltung). „Dieser Raum von Nordnorwegen bis ins Mittelmeer und von der französischen Atlantikküste bis weit in die damalige Sowjetunion hinein ist so groß, dass die deutschen Besatzer immer auch einheimisches Personal brauchten, um ihre Anweisungen durchsetzen zu lassen“ erklärt die Wissenschaftlerin. Viele ihrer Quellen stammen daher nicht aus Akten der obersten Behörde in Berlin, sondern sind örtliche und regionale Erlasse. „Man sieht, dass Lokalverwaltungen überall in den besetzten Gebieten in Europa eine große Rolle spielten, weil sie sozusagen zu Handlangern der Besatzer gemacht wurden, um deren Ziele zu realisieren.“ Diese meist einheimischen Verwaltungsorgane organisierten das administrative Alltagsmanagement, kontrollierten die Marktordnung, gaben Lebensmittelrationen aus und nahmen Verhaftungen vor. „Im Rahmen der Tagung werden wir uns die Polizeiarbeit ansehen, es wird um Gerichte gehen, Sozial- und Gesundheitspolitik und auch Phänomene wie Denunziation“, erklärt Tönsmeyer und fährt fort, „man muss sich eins klarmachen: Wo immer Menschen aufs Amt gegangen sind, da mag vielleicht der Amtschef ein Deutscher gewesen sein, aber die, mit denen man am Schalter zu tun hatte, waren wahrscheinlich Einheimische.“ Die Vermittlung von Ge- und Verboten durch einheimische Verwaltungsmenschen führte so zu schnellerer Akzeptanz.
Auch die Zahlen der Menschen, die in den Behörden arbeiteten, wuchsen unter Besatzung, und das habe eine Logik in sich, erklärt die Forscherin. „Zum einen sind diese Deutschen kontrollfanatisch. Es gibt Massen von Regeln, Gebote und Verbote, die sie alle kontrolliert haben wollen, und dafür brauchen sie Personal. Zum anderen habe ich am Anfang davon gesprochen, dass Menschen im großen Stil zur Arbeit abtransportiert wurden. Und gerade Frauen hofften, dass, wenn sie eine Stelle bei der Behörde, einer dieser Lokalverwaltungen hatten, sie der Deportation entgehen konnten.“ Frauen vor Ort konnten sich weiter um ihre Kinder oder kranke Angehörige kümmern und hätten somit ein Interesse gehabt, in dieser Art von Behörde zu arbeiten. Aber diese Tätigkeit konnte katastrophale Folgen für andere Menschen haben. „Es sind auch diese Behörden, die die jüdische Bevölkerung zu registrieren hatte. Wir wissen, wie anders der Alltag unter Besatzung war, aber jüdische Menschen waren noch einmal besonders betroffen“ unterstreicht Tönsmeyer. „Sie hatten die niedrigsten Lebensmittelrationen, sie waren am meisten auf den Schwarzmarkt angewiesen und sie verfügten im östlichen Europa nur über Rationen, von denen man nicht überleben konnte. Lokalverwaltungen wurden somit für die deutschen Herrschaftsziele, auch die Mordpolitik, in Dienst genommen. Dazu ist in letzter Zeit viel Spannendes erforscht worden und darüber wollen wir diskutieren.“
Internationale Auszeichnung erhalten
Durch die aktuellen kriegerischen Handlungen in der Ukraine bekommen Tönsmeyers Forschungen zu Besatzungsgesellschaften zusätzlich Bedeutung, die auch international honoriert wurde. Die ´American Library Association`, der Dachverband der Bibliotheken in Nordamerika zeichnete die von Tönsmeyer mitherausgegebene Quellenedition aus. „Wir haben uns darüber besonders gefreut, weil es ein neues Thema ist und wir mit diesem neuen Thema aufgefallen sind. Darüber hinaus ist es ein Projekt, was zentral an der Bergischen Universität Wuppertal angesiedelt ist. Wir haben es damit auch geschafft, einen Standard im Englischen halten zu können, den normalerweise nur Native Speaker vorweisen.“
Uwe Blass
Tatjana Tönsmeyer studierte Geschichte, Osteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaften und Publizistik/Medienwissenschaften an den Universitäten Bochum und Marburg und promovierte 2003 an der Humboldt-Universität zu Berlin wo sie bis 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Sie habilitierte sich in an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet seit 2011 den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität.