Die Brüder Grimm: Politisch denkende Zeitgenossen
Apl. Prof. Dr. Ewald Grothe / Geschichte
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Die Brüder Grimm waren politisch denkende Zeitgenossen

Prof. Dr. Ewald Grothe über ein bemerkenswertes Geschwisterpaar

„Es war einmal… .“ Mit diesen Worten verbinden alle Menschen weltweit Märchen. Gesammelt wurden sie vor mehr als 200 Jahren von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm in den weltberühmten „Kinder- und Hausmärchen“, die damit auch selber in die Geschichte eingingen. Doch die Brüder Grimm waren viel mehr als ausschließlich Märchensammler. Politisch und wissenschaftlich hatten sie nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Politik und Sprache. Prof. Dr. Ewald Grothe, Historiker an der Bergischen Universität, beschäftigt sich mit den beiden Begründern der Germanistik, die zeitlebens mit Mut und Zivilcourage ihre politische Meinung vertraten.
„Sie waren Germanisten, hatten ursprünglich aber auch Jura in Marburg studiert“, erklärt Grothe. Das alles habe aber eine Weile gedauert, denn nach dem Studium seien sie zunächst Bibliothekare der Landeshauptstadt Kassel gewesen und wurden 1830 als Professoren an die Universität Göttingen berufen. Berühmtheit erlangten sie jedoch durch ihre Publikationen der Kinder- und Hausmärchen (1812/15) sowie des „Deutschen Wörterbuchs“ (1838 ff.).

Kinderzeichnung zeugt von früher politischer Prägung

Schon im Kindesalter hatte die Politik einen starken Einfluss auf Jacob und Wilhelm Grimm. „Sie waren Jahrgang 1785 und 1786 und wurden damit kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution geboren. Der Revolution folgte Napoleon und durch die Wirren der Revolutionsereignisse und die nachfolgenden Kriege Napoleons, auch die Besetzung Deutschlands, sind sie ganz früh von der Politik geprägt worden“, sagt der Historiker und nennt ein anschauliches Beispiel. „1797, also als Jugendliche, haben sie gemeinsam eine Zeichnung angefertigt, die die Hinrichtung des französischen Königs Ludwigs XVI. zeigt. Das ist schon sehr bemerkenswert, hängt aber damit zusammen, dass in der Familie, allesamt Juristen und Pfarrer, sicherlich viel über Politik gesprochen wurde, so dass schon diese Kinderzeichnung im Grunde genommen die Zeitstimmung ausdrückt, mit der sie konfrontiert waren. Wenn heute ein Kind mit 10 oder 11 Jahren mit der Zeichnung einer Hinrichtung nach Hause käme, würden die Eltern sicherlich äußerst beunruhigt reagieren.“

 

Jacob Grimm (1857)
gemeinfrei

Märchensammlung soll Geschichts- und Nationalbewusstsein wecken

Die Politik habe auch einen entscheidenden Einfluss auf die Märchensammlung gehabt, erklärt Grothe, denn „die Märchensammlung erscheint 1812 im ersten, 1815 im zweiten Band und ist aus einer Zusammenstellung von den Brüdern Grimm erzählter Märchen entstanden. Sie haben sie also nicht selber geschrieben, sondern sie stammen teils aus französischen und italienischen Vorbildern und Quellen, die dann beispielsweise über die Hugenotten nach Deutschland gekommen sind.“ Die Sammlung sei also in einer Zeit entstanden, als auch im Umfeld der Brüder sehr viel an deutschen und europäischen Traditionen gesammelt wurde, um den jeweiligen „Volksgeist“ zu ergründen. „Dazu gehören auch deutsche Volkslieder. Diese Sammeltätigkeit sollte dazu dienen, im Zeitalter der Romantik ein Geschichtsbewusstsein und ein Nationalbewusstsein zu erwecken, in dem Deutschland von den Franzosen besetzt war.“

Das „Deutsche Wörterbuch“ und das vorübergehende Ende einer Karriere für die Göttinger Sieben

Den Plan, ein erstes Deutsches Wörterbuch zu erstellen, hatten Jacob und Wilhelm Grimm und ihr Stuttgarter Verleger bereits um 1830. Die Umsetzung erfolgte jedoch aus einer gewissen finanziellen Not heraus, berichtet Grothe, denn 1837 geschah Folgendes. „Die Grimms waren inzwischen als Professoren in Göttingen tätig und der neue hannoversche König, Ernst August I., ein britischer Prinz – Hannover war in Personalunion mit Großbritannien verbunden –, setzte die recht liberale Verfassung Hannovers aus dem Jahre 1833 außer Kraft. Die Grimms protestieren mit fünf anderen Professoren dagegen, die berühmten Göttinger Sieben, die alle daraufhin entlassen wurden. Zwei von ihnen, nämlich der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann und auch Jacob Grimm als Rädelsführer, wurden dann zusätzlich noch des Landes verwiesen. Das hatte zur Folge, dass die Grimms und die weiteren fünf Professoren erst einmal arbeitslos wurden. Deshalb wurde der Plan umgesetzt, ein ‚Deutsches Wörterbuch‘ ins Leben zu rufen, welches dann schlicht als Einnahmequelle dienen sollte.“ Die Entstehung des „Deutschen Wörterbuchs“ und die Entlassung der Göttinger Sieben sei damit ein Zeugnis von unmittelbaren Zusammenhängen zwischen politischen Ereignissen und der Entstehung eines wissenschaftlichen Produktes.

Keine Politiker, aber politisch denkende Zeitgenossen

„Die Grimms waren im Grunde genommen nie Politiker, aber sie waren politisch denkende Zeitgenossen. Das gilt für beide Brüder, wobei Wilhelm sich mit seinen politischen Meinungsäußerungen auf die privaten Briefwechsel und wenige Zeitungsartikel beschränkte“, berichtet Grothe. Ganz anders verhalte es sich bei Jacob Grimm, denn der habe bereits Ende der 1800er Jahre als Bibliothekar im Dienst König Jérômes, eines Bruders Napoleons, gestanden, der damals König von Westfalen war. Dadurch habe er unmittelbaren Kontakt zur Politik gehabt. Doch Jérôme musste 1813 fliehen, die Herrschaft Napoleons ging unter und der einstige Kurfürst, Wilhelm I., kehrte nach Kassel zurück. „Er schickt dann Jacob an die hessische Gesandtschaft nach Wien. Jacob wird also Gesandtschaftssekretär und ist in Wien im Vor- und Umfeld des Wiener Kongresses bei der Planung einer Wiederherstellung Deutschlands, eines möglichen Deutschen Reiches, anwesend.“ Jacob Grimm arbeitete auch wissenschaftlich in dieser Zeit. So wertete er u.a. in der Wiener Bibliothek Handschriften aus, erstellte in Paris eine Liste der aus Kassel entführten Kunstgegenstände und sorgte für deren Rückführung. „Seine Haltung gegenüber dem Kurfürsten war sehr kritisch, weil er dessen veraltetes Regime beklagte und auch mit seinem Schwager, Ludwig Hassenpflug, der in den 1830er Jahren als Konservativer Innen- und Justizminister in Hessen wurde, gerät der für Reformen aufgeschlossene Jacob Grimm über Fragen zur Verfassung und zu Grundrechten ziemlich aneinander.“ 1840 werden beide Brüder dann übrigens wieder angestellt, vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der sie als Professoren an die Preußische Akademie der Wissenschaften nach Berlin beruft. 1848 wurde Jacob schließlich in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt.

 

Verbesserungsvorschlag Grimms für die Grundrechte des deutschen Volkes, der nicht angenommen wurde.
CC BY-SA 4.0

Kölner Zeitung ruft 1848 zur Wahl Jacob Grimms in Nationalversammlung auf

Jacob Grimm hatte sich im Laufe der Jahre in politischen und wissenschaftlichen Kreisen einen Namen gemacht. „Er hatte sich spätestens 1837 politisch so exponiert, dass er als ein liberaler Stern, wie man damals sagte, galt“, sagt Grothe. Mehr noch, manche sahen in ihm gar einen Märtyrer, der für seine Überzeugung sogar seine Entlassung in Kauf genommen hatte. „Als er 1848 dann in die Nationalversammlung gewählt wurde, rief eine Kölner Zeitung schließlich dazu auf, man solle doch Jacob Grimm wählen, denn der sei doch so ein berühmter Mann, ein so bedeutender Wissenschaftler, der auch schon für die deutsche Nation eingetreten sei. Und er wird kurioserweise dann in einem Wahlkreis in Mülheim an der Ruhr gewählt. Das war nicht vom Wohnort abhängig, denn er lebte damals in Berlin, aber so konnte er dann in die Frankfurter Paulskirche einziehen.“ Grimm legte in der Nationalversammlung einen Entwurf für den ersten Artikel der Grundrechte vor, der lautete: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Sein Verbesserungsvorschlag wurde jedoch mit knapper Mehrheit abgelehnt und er zog sich alsbald ins Privatleben zurück, zumal er damals ja bereits 63 Jahre alt war.

„Jacob und Wilhelm Grimm taugen auch heute noch als Vorbilder“, sagt Grothe abschließend, „denn mit ihrem Mut, 1837 für eine Verfassung einzutreten, die mutwillig außer Kraft gesetzt worden war, zeigten sie Zivilcourage, die wir zu allen Zeiten gebrauchen können, wenn es um wesentliche Menschenrechte, Grund- oder Verfassungsrechte und Demokratie geht.“

Uwe Blass

Prof. Dr. Ewald Grothe studierte Geschichtswissenschaften, Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte in Marburg. Er habilitierte sich 2003 in Wuppertal und lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität. Seit 2009 ist er außerplanmäßiger Professor. Seit 2011 leitet er das Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach. Seit 2017 ist er Vorsitzender der Brüder Grimm-Gesellschaft in Kassel.

 

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