Archäologie und Religion im Umfeld der Heiligen Stadt
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Dieter Vieweger / Biblisch-Archäologisches Institut
Foto: Sebastian Jarych

„Wir haben manches sicher geglaubte Weltbild zurechtgerückt“

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Dieter Vieweger, Leitender Direktor der beiden Institute des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman und Direktor des Biblisch-Archäologischen Instituts an der Bergischen Universität bleibt in Jerusalem.

Ein Interview über das 125-jährige Bestehen des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und die aktuelle Situation vor Ort.

Herr Vieweger, Sie sind Leitender Direktor der beiden Institute des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman, Vertreter des Propstes in Jerusalem und Koordinator der evangelischen Bildungsarbeit in der Heiligen Stadt sowie Direktor des Biblisch-Archäologischen Instituts an der Bergischen Universität. 2023 feiert das Deutsche Evangelische Institut für Altertumswissenschaft sein 125. Jubiläum. Ein Anlass, den Sie eigentlich würdig feiern wollten, aber durch die aktuelle Kriegslage erst einmal verschoben haben. Wie kam es denn eigentlich zur Gründung dieses Instituts?

Vieweger: Als am 31. Oktober 1898 die Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt feierlich eingeweiht wurde, besuchte zu diesem Anlass selbst der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Heilige Stadt.

Bereits 1893 hatten die Bauarbeiten für die deutsche evangelische Kirche in der Jerusalemer Altstadt begonnen, die nur einen Steinwurf von der Grabeskirche entfernt liegt. Bei den Ausschachtungsarbeiten geschah die Sensation: Die Bauarbeiter stießen auf eine 1,60 Meter breite Mauer, die zeitgenössische Gelehrte inspizierten. Der deutsche Architekt und Archäologe Conrad Schick hielt es für möglich, dass dies die gesuchte Stadtmauer aus der Zeit Jesu sei, die Herodes der Große gebaut habe.

Mit Hilfe der noch jungen Wissenschaft der Archäologie schien es also gelungen, den Streit zwischen evangelischen und katholischen Christen um den historisch richtigen Hinrichtungsort des Jesus aus Nazareth beizulegen. Das neue Gotteshaus lag direkt über dem archäologischen Beleg für die Authentizität Golgothas. In dieser frommen Überzeugung weihte Kaiser Wilhelm II. die Kirche am Reformationstag 1898 ein.

Der damalige bayerische Oberkonsistorialpräsident Dr. Alexander von Schneider trug daraufhin im Rahmen der Festveranstaltung den Gedanken vor, in Jerusalem ein der Pflege evangelischer Altertumswissenschaft gewidmetes Institut zu begründen. Diese Idee wurde vom Kaiser aufgegriffen und am 19. Juni 1900 die Stiftung „Deutsches Evangelisches Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes“ durch die Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz in Eisenach ins Leben gerufen. Ihr Ziel solle es sein, „… auf dem Gebiet der biblischen und kirchlichen Altertumswissenschaft die Beziehungen zwischen den Stätten der heiligen Geschichte einerseits und der gelehrten Forschung und dem Interesse der christlichen Frömmigkeit in der evangelischen Kirche andererseits zu pflegen, zu beleben und zu regeln.“

Luftbild Zionsberg und Altstadt: Foto: BAI

In 125 Jahren ist dort viel geschehen. Können sie einmal ein paar herausragende Ereignisse nennen?

Vieweger: Die Geschichte des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI) reicht bis ans Ende des 19. Jahrhundert zurück. Gustaf Dalman wurde zum ersten Direktor des Institutes berufen und traf 1902 in Jerusalem ein. Er eröffnete das Institut 1903 mit seiner archäologischen und ethnologischen Sammlung.

Trotz tiefer Krisen während der beiden Weltkriege begannen Mitte der 60iger Jahre Martin Noth und Ute Lux von ihrem neugegründeten Institutsgebäude in Jerusalem aus die ersten Ausgrabungskampagnen des Instituts in Madaba.

Da sich die Grenzziehung nach dem Krieg im Juni 1967 im Nahen Osten gravierend veränderte, wurde 1975 eine Zweigstelle in Amman eingerichtet.

Heute ist das DEI zu einem lebendigen Institut mit wissenschaftlichen Ausgrabungen und vielfältigen Projekten herangereift. Dazu gehören die Erforschung des Tall Zirāʿa (Jordanien) und das dazugehörige landschaftsarchäologische „Gadara Region Project“ sowie der archäologische Park unter der Erlöserkirche (Jerusalem). Die Altgrabung unter der Erlöserkirche ist unter dem Motto „Durch die Zeiten“ zum „Schaufenster“ der Tätigkeit des DEI in Jerusalem geworden und zieht jährlich tausende Besucher an. Gegenwärtig wird durch die Ausgrabung auf dem Zionsberg das Gelände um das Essener-Tor sowie die alttestamentliche Stadt der Königszeit Israels erforscht. Weiterhin erforschen wir das Zentrum der antiken Stadt Tiberias am See Genezaret.

Der 1903 von Gustaf Dalman ins Leben gerufene Lehrkurs bietet Akademikern alljährlich die Möglichkeit, die Kultur, Geschichte und Archäologie des Heiligen Landes in einer einzigartig intensiven Weise kennenzulernen.

Das DEI wird von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) getragen und ist zugleich eine Forschungsstelle des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Es unterhält Institute in Jerusalem und Amman. Damit ist es als deutsche Einrichtung und Forschungsinstitut eine wichtige Plattform für die archäologische, altgeschichtliche und theologische Arbeit in Israel/Palästina und Jordanien.

Wie kamen Sie denn selber an dieses Institut?

Vieweger: Seit 1994 grabe ich in Israel und Jordanien. Was liegt näher, als mit den deutschen Instituten vor Ort zu kooperieren. Sie haben viel Erfahrung mit den Behörden, können immer helfen, bieten eine Basis in Jerusalem bzw. Amman. – Als dann das Institut nach 2000 in tiefe Turbulenzen geriet, war es sinnvoll, Verantwortung zu übernehmen, um das Institut zu retten. So ging ich nach Jerusalem und Amman.

Sie sind seitdem jedes Jahr mehrere Monate in Jerusalem und leiten regelmäßig Grabungen. Gibt es eine Entdeckung, die Sie als ihr persönliches Highlight bezeichnen würden?

Vieweger: De facto bin ich jährlich 9 Monate in Jerusalem. Mit unseren Grabungen im Umfeld von Golgotha und im Bereich der südlichen Stadtmauern haben wir so manches sicher geglaubte Weltbild erschüttert – oder besser: zurechtgerückt.

Erlöserkirche Jerusalem: Foto: BAI

Wie schwierig sind archäologische Untersuchungen und/oder Grabungen in Jerusalem?

Vieweger: Nicht schwieriger als an den vielen anderen Plätzen dieser Welt, zumal unser Institut gut bekannt und sehr gut integriert ist in den Wissenschaftsbetrieb Jerusalems. Die Stadt ist voller Überraschungen. Hunderte Geschichten spielen hier – politische und religiöse Traditionen berufen sich auf Jerusalem. Natürlich ist die Stadt die meist ausgegrabendste Stadt der Welt ... es wird schwer, Orte und Plätze zu finden, bei denen sinnvolle Fragen anstehen, die es jetzt unbedingt zu lösen gilt ...

Der aktuelle Angriff der Hamas auf Städte in Israel hat die ganze Welt geschockt. Die Raketenangriffe zerstören auch lange mühsam wiedergefundenes Kulturgut. Wie gehen Sie als Archäologe mit dieser Situation um?

Vieweger: Ja, es kann in Israel und auch im Gaza-Streifen tatsächlich zu schwerwiegenden Zerstörungen antiker Orte kommen – aber im Moment berühren mich die Menschen – sie sterben und leiden zu Tausenden. Es scheint derzeit niemand an Zurückhaltung interessiert zu sein. Ich bin fassungslos.

Wie wird dieser Krieg ihre Arbeit im Heiligen Land verändern?

Vieweger: Wenn ich das wüsste. Wir gehen jetzt in unbekanntes Gelände, militärisch und politisch. Keiner weiß, wie unsere Welt hier nach diesem Krieg aussieht.

Die geplante Veranstaltung „Stadtgespräch“ mit Dieter Vieweger am 16. November im Theater am Engelsgarten mit dem Thema „Ausgrabungen in Jerusalem: Archäologie und Religion im Umfeld der Heiligen Stadt“ fällt aus gegebenem Anlass leider aus.

Uwe Blass

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Dieter Vieweger ist Professor für Altes Testament und Biblische Archäologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Gastprofessor für Archäologie und Alte Geschichte an der Privatuniversität Witten-Herdecke, Lehrbeauftragter an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster, Leitender Direktor der beiden Institute des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman, Vertreter des Propstes in Jerusalem und Koordinator der evangelischen Bildungsarbeit in der Heiligen Stadt sowie Direktor des Biblisch-Archäologischen Instituts an der Bergischen Universität.

Mit Terra X gestaltet er Filme zu Themen wie „Gab es Jesus wirklich?“, „Welches Geheimnis verbirgt sich unter dem Tempelberg?“, „König Herodes – Brutaler Mörder oder Friedensstifter? und “Qumran – die geheimnisvollen Schriftrollen vom Toten Meer“ – alle via You Tube/Terra X (ZDF) zu entdecken.

 

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