Männlichkeitsforschung
PD Dr. Torsten Voß / Germanistik
Foto: UniService Transfer

Den Mann als Mann gibt es gar nicht

Der Germanist PD Dr. Torsten Voß über Männlichkeitsforschung (Masculinities) an der Bergischen Universität

´Wann ist der Mann ein Mann? ` fragt Herbert Grönemeyer 1984 in seinem Song ´Männer` und listet eine ganze Reihe an Attributen auf, die gerne dem starken Geschlecht zugesprochen werden. Aber ist das wirklich so? Männlichkeitsforschung oder auch Men`s Studies entwarfen das Konzept der hegemonialen Männlichkeit, welches Mitte der 1980er Jahre entwickelt wurde. An der Bergischen Universität beschäftigt sich der Germanist Dr. Torsten Voß mit diesem Forschungsbereich. Auf die eingangs gestellte Songfrage angesprochen sagt der Forscher spontan: „Niemals!“ Warum das so ist, was sich im Laufe der Zeit verändert hat oder warum diese Forschung noch so jung ist, schildert der versierte Wissenschaftler und beginnt doch mit ersten schriftlichen Erkenntnissen, die bereits im 19. Jahrhundert festgehalten wurden.

Die Eigenschaften eines Helden sind der Beginn

„Eigentlich beginnt die Männlichkeitsforschung schon im 19. Jahrhundert mit dem Engländer Thomas Carlyle, der 1840 ein Buch mit dem Titel ´On Heroes, Hero Worship, and the Heroic in History` geschrieben hat“, erklärt Voß. Es sei eine Arbeit, die darstelle, welche Eigenschaften ein Held haben müsse. Da gebe es zum ersten Mal Kategorien für Heldentum und Männlichkeit. „Das ist keine ideologiekritische Arbeit, sondern es ist ein noch aus dem Geiste des Romantizismus und Historismus geborener Essay, der versucht, mit Figuren aus der Heldengeschichte, aus der Mythologie, aber auch aus der Politikgeschichte, Beispiele für männlich heroisches, besonders exponiertes Verhalten zu zeigen.“ Ansonsten entstehe die Männlichkeitsforschung eigentlich immer schon implizit indirekt mit der Frauenforschung und dem Konstruktivismus. Die Frauenforschung sei zu Beginn ein Politikum gewesen, welches sich aus dem Feminismus entwickelt habe und auf die ungerechte Verteilung der Geschlechter in Führungspositionen sowie in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Stellungen hinwies. Damit wurde der Konstruktcharakter vom Geschlecht relativ früh beleuchtet.  „Und wenn man das bei der Frau macht, kann man das genauso gut natürlich auch beim sogenannten männlichen Geschlecht machen“, sagt der Wissenschaftler. Wichtige Grundlagen der Männlichkeitsforschung kommen aus den Vereinigten Staaten und erreichen Deutschland erst in den 1980er/1990er Jahren.

Frauenforschung bedingt Männlichkeitsforschung

Die Frauenforschung war in ihren Anfängen nicht unbedingt rein epistemologisch orientiert, sie folgte nicht nur einem Erkenntnisinteresse“, erklärt Voß, „sondern war in erster Linie ein politisches, ein soziales Anliegen, um auf Missstände aufmerksam zu machen.“ Die Männlichkeitsforschung habe aber natürlich einige Begrifflichkeiten aus der Frauenforschung übernommen. „Die große Differenz zwischen sozialem Geschlecht und biologischem Geschlecht, zwischen Sex und Gender, hat die amerikanische Philosophin Judith Butler sehr früh schon in den USA sehr deutlich gemacht, und das ist in die Männlichkeitsforschung sowohl in den USA als auch in Deutschland übergeflossen.“ Im Unterschied zur Frauenforschung konnte sich die Männlichkeitsforschung jedoch schon immer eher auf rein wissenschaftstheoretische Zusammenhänge konzentrieren und musste nicht so sehr in diese Vorkämpferstellung gehen, wie es im Feminismus der Fall war.

Forschung am Mann setzt spät ein

Erst in den 1990er Jahren setzte die Männlichkeitsforschung in Deutschland ein, sieht man einmal von Klaus Theweleits Klassiker Männerphantasien (1977/1978) ab, der sich ideologiekritisch und psychoanalytisch mit dem Aggressionspotential von Freikorps und anderen Männerbünden der Zwischenkriegszeit auseinandersetzte. Die Kultivierung des (prä)faschistischen Bewusstseins in Verbindung mit dem soldatischen Konzept vom „Körperpanzer“ wurde als konstitutiv für die Entstehung damaliger Männlichkeitsvorstellungen herausgearbeitet und entwicklte innerhalb der Geschlechterforschung bis heute eine große Nachhaltigkeit. „Dennoch waren die Geisteswissenschaften, die Literatur- und Kulturwissenschaften in den 80er und frühen 90er Jahren noch anders dominiert, es herrschten andere Forschungsansätze“, sagt Voß. „Der Dekonstruktivismus (ein analytisches Verfahren, das zentrale, vorausgesetzte Begriffe der traditionellen Philosophie kritisch infrage stellt, Anm. d. Red.), der überhaupt jegliche Form von Sinnkoherenz in Texten aber auch in sozialen Zusammenhängen leugnete, konnte dann aber mit den Men`s Studies ganz gut fusionieren. Gerade wenn man davon ausgeht, dass es so etwas wie ein fest determiniertes Geschlecht gar nicht gibt, kann man sehr schön mit konstruktivistischen oder sozialhistorischen Ansätzen arbeiten, wenn es darum geht, unter welchen Bedingungen Männlichkeiten entstehen.“ Man habe also die vorherigen Disziplinen wie die Sozialgeschichte, die Dekonstruktion und den Poststrukturalismus genutzt, um über die Entstehungsfaktoren die Bedingungen von Männlichkeiten genauer zu analysieren und zu rekonstruieren. Die Ursprünge dazu kamen aus den USA. Robert/Raewyn Connell und Judith Butler seien neben deutschsprachigen Pionieren wie Walter Erhart, Stefan Horlacher und Toni Tholen dabei federführend gewesen.

Konkurrenzdruck evoziert Platzhirschverhalten

Ein Aufsatz mit dem Titel ´Ansätze zu einer neuen Soziologie der Männlichkeit` der Autoren Carrigan, Connell und Lee hatte 1985 großen Einfluss auf die Theorieentwicklung der Männlichkeitsforschung. Dabei geht es u.a. um die Führungsrollen der Männer, in denen sie häufig nicht nur Frauen, sondern auch Geschlechtsgenossen unterdrücken. „Das ist ganz platt und populistisch ausgedrückt erst einmal dieses einfache Platzhirschverhalten“, sagt Voß und stellt gleichzeitig die These auf, dass dafür auch ganz einfach neoliberale Wirtschaftsstrukturen verantwortlich seien, die dafür sorgten, dass ein stärkerer Konkurrenzkampf entstehe, den er auch in der Wissenschaft sehe. „Man versucht, karrierebedingt, Konkurrentinnen und Konkurrenten natürlich auch zu übertreffen und kleinzuhalten, d.h. nicht zu Wort kommen zu lassen, die eigene Position stärker zu betonen, als sie eigentlich ist, den Diskurs zu verweigern, um sich prominenter zu positionieren. Und dafür sind nicht nur Geschlechterattribute oder Geschlechterkonstrukte verantwortlich, sondern eine allgemeine neoliberale, vom Konkurrenzdruck ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialstruktur, die sich zurzeit durch alle Tätigkeitsbereiche zieht und sich mit den Attributen der Wettbewerbsfähigkeit und Effizienzoptimierung zu schmücken weiß. Subkutan spielen auch immer wieder gendercodierte Vorstellungen in dieses Denken und Verhalten mit hinein.“

Männliche Lebenswelten damals

In der Forschung liest man oft von ´männlichen Lebenswelten`. Aber wie sehen die aus? „Aufgrund der Durchmischung der Geschlechter und der Arbeitsbereiche gibt es die ja gar nicht mehr“, erklärt Voß. „Man muss da zwischen historischen Männlichkeitswelten und aktuellen Männlichkeitswelten differenzieren. Typische männliche Lebenswelten waren früher natürlich das Militär, die Kaserne, die Kneipe bzw. der Stammtisch, der Sportplatz, das Bordell oder das Spielkasino. Dort, wo der Mann seinen Mann stehen konnte, wo er ‚Wer-Sein' konnte, wie es der australische Philosoph und Männlichkeitsforscher Michael Eldred treffend formuliert hat.“ Dafür gebe es wunderbare literarische Beispiele, die man auch ´Kasernenliteratur` oder ´Bordellliteratur` nenne und zu deren Vertretern z.B. Joseph Roth, Alexander Lernet-Holenia oder Ernst von Salomon gehören. Selbst Räume wurden gegendert, also männlich oder weiblich besetzt. Ein typisches Beispiel dafür sei das Herrenzimmer. „Nach dem Dinner sitzt man dort und trinkt seinen Brandy, während früher die Damen im Salon ihren Mokka verkosteten. Mit der zunehmenden Durchmischung allerdings ist da dann auch mit der Zeit ein Fluidum zu registrieren.“

Men`s Studies oder Masculinities

Schon der Name „Men`s Studies“ ist umstritten. Der britische Soziologe und Mitbegründer der Männerforschung, Jeff Hearn, schlug z.B. ‚The
Critique of Men‘ als Fachbezeichnung vor. „´The critic of men` ist sehr umständlich“ sagt Voß, „ich finde ein Schlagwort interessanter. Men`s Studies lehne ich selber ab, weil es meines Erachtens zu stark auf den Mann ausgerichtet ist, auch wenn es eine Pluralform ist. Ich wähle in meinen eigenen Arbeiten immer Masculinities, also Männlichkeiten, und orientiere mich dabei bewusst an einer neutralgehaltenen Pluralformel.“ Masculinities zeigt den Mann in allen Facetten. Den Mann als Vater, Sohn, Soldaten, Arbeiter, Liebhaber, Objekt und Subjekt. Den Mann als diverses Wesen. Den Mann als Konstruktion. „Bei ´the critic of men` schwingt immer gleich auch ein wissenschaftsfernes, ideologiekritisches, politisches Interesse mit, und ich befürchte immer wieder -und das ist auch der Vorwurf, der uns Genderforscherinnen und - forschern immer gemacht wird-, wir würden unsere eigenen Befindlichkeiten, unsere eigenen Interessen und sexuelle Disposition zum Gegenstand der Forschung machen. Die Pluralformel in Masculinities zeigt überdies sehr schön, dass es den Mann als Mann gar nicht gibt, sondern verschiedene Verständnisse von Männlichkeiten, die sich immer wieder neu entfalten, behaupten, performieren und neu konstruieren.“

Kommt Männerforschung aus der Schwulenszene?

1975 fand im Berliner Schwulenzentrum das erste bundesweite Männergruppen-Treffen mit ca. 100 Anwesenden statt. Da drängt sich die Frage auf, ob die deutsche Männerforschung also aus der Schwulenszene kommt. „Jain würde ich sagen. Da diese Männlichkeitsforschung, diese Masculinities nicht unbedingt nur ideologiekritisch sein wollte“, erklärt Voß. In der Schwulenszene gehe es auch ganz stark um Emanzipationsbestreben und nicht nur in erster Linie um einen erkenntnistheoretischen Beweggrund. Da habe man eine Parallele zum frühen Feminismus, wo man allgemein auf der Ebene des einfachen menschlichen Zusammenlebens auf Missstände und Unterdrückung aufmerksam machen wolle. „Das ist zwar auch Thema der Wissenschaften, aber man hat da eine ähnliche Problematik mit skizziert, die wir auch beim frühen Feminismus hatten. Dann steht das Politikum vor dem Erkenntnisinteresse.“
Seit 1983 treffen sich einmal im Jahr um den Feiertag ´Christi Himmelfahrt‘ geschlechtssensibilisierte Männer in Eigenregie zum ‚Bundesweiten Männertreffen‘. In Anlehnung des traditionellen Vatertages werden bei diesen Treffen jedoch andere Inhalte besetzt, sie zeigen Strömungen und Entwicklungen der Männerbewegungsszene. Themen beim ersten Treffen waren damals u.a. Männerpolitik, Körpererfahrung, Unterschied zwischen Orgasmus und Samenerguss. Überhaupt stand das Thema ‚sexuelle Orientierung‘ mehrere Jahre lang in der Rangliste der Diskussionen an erster Stelle. „In der Literaturwissenschaft spielt es in der Adoleszenzliteratur sowie in Kinder- und Jugendromanen immer noch eine immens große Rolle“, sagt der Wissenschaftler. Fragen nach der Geschlechtigkeit, der sexuellen Orientierung oder erste homoerotische Erfahrungen eines ansonsten eher als heterosexuell eingestuften Jungen würden da in wunderbaren Texten behandelt. „Außerdem spielt so etwas wie sexuelle Orientierung natürlich immer noch eine große Rolle, weil es catchy (eingängig) ist, und damit kann man unheimlich viele Rezipient*innen erreichen.“

Erfahrungsformen von Männlichkeit

Die Themen der Männlichkeitsforschung sind umfangreich, aber man müsse zwischen den Wissenschaftsdisziplinen trennen, erklärt Voß. So habe das Thema zunächst in der Soziologie, den Sozialwissenschaften, der Psychologie, den Erziehungswissenschaften aber auch der Literaturwissenschaft Einzug gehalten. „Und da greifen verschiedene Wissenschaften ineinander über, so dass die Männlichkeitsforschung, genau die wie Genderforschung, im Allgemeinen ein wunderbares Entfaltungsgebiet für fächerübergreifendes Arbeiten, für Interdisziplinarität ist.“
 „Entscheidend in der Männlichkeitsforschung z.B. in der Literatur-, Kunst- oder Medienwissenschaft, sind die verschiedenen Erfahrungsformen und Praktiken von Männlichkeiten, die rekonstruiert werden“ fährt Voß fort. „Wo verortet sich Männlichkeit, wo werden Männlichkeiten inszeniert, torpediert oder verhindert? Welche sozialen, räumlichen, körperlichen und habituellen Entfaltungsformen von Männlichkeit gibt es und wie werden diese eingesetzt im sozialen Miteinander, in kommunikativen Zusammenhängen und im Gespräch?“ Da sei vor allem die Literaturwissenschaft, die sich mit Kommunikation und Sprache beschäftige, ungeheuer maßgeblich, weil sie dieses an den literarästhetischen Inszenierungen von Geschlechterrollen angemessen nachweisen könne.

Männer und Vaterschaft

Ein weiterer Bereich der Männlichkeitsforschung beschäftigt sich auch mit dem Thema Vaterschaft. Galt das Windeln wechseln früher als No-Go, ist es heute für junge Väter ganz selbstverständlich. „Das liegt daran, dass die Selbstbehauptung, oder wie man sich sozial verortet, wenn es um Wahrnehmung geht, nicht mehr primär über das Geschlecht abläuft, sondern auch über Fähigkeiten.“ Die Tätigkeitsfelder von Männern, Frauen und Diversen seien nicht mehr so festgeschrieben, weil man sich nicht mehr über ein typisches männliches oder weibliches Tätigkeitsfeld definiere. Es bestehe eine große Differenz zwischen Vaterfiguren beispielsweise in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, die noch sehr stark über die Außenwirkung in Berufen und Verhaltensweisen auf der einen und über das Verhalten in privaten Lebenszusammenhängen auf der anderen Seite beschränkt war. „Moderne Eltern erziehen heute anders und legen nicht mehr so viel Wert auf diese binären Differenzen.“

Wann ist der Mann ein Mann?

Das Bild des Mannes hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Den Mann als Mann hat es also nie gegeben und dennoch versuchen uns Songs, Filme und Literatur mit bekannten Männlichkeitsbildern immer wieder vorzugaukeln, wie sie sein sollten. „Es gibt nicht den Mann“, fasst Voß zusammen, „da kann uns der Begriff der Masculinities weiterhelfen. Es gibt verschiedene männliche Verhaltensformen. Sitze ich am Stammtisch, bin ich in der Kaserne, bin ich in der Studentenverbindung, sitze ich in der Fakultätskonferenz usw., ich switsche also situativ bedingt zwischen verschiedenen Männlichkeiten und dementsprechenden Verhaltensweisen hin und her.“ Man sei auch im Beruf mitunter anders Mann als etwa zu Hause oder gar auf dem Opernball. „Dieses situative Wechseln zwischen den Männlichkeiten ist immer auch wieder eine Melange aus Fremderwartung und Selbstverständnis.“ Literarisch könne man dies besonders eindrucksvoll in der Erzählung ´Der preußische Offizier` von D.H. Lawrence lesen, in der ein preußischer Hauptmann plötzlich erkenne, dass er sich in seinen Fähnrich verliebt habe. „Dieses Tabu lebt er aus, indem er den Fähnrich quält, eine in der damaligen preußischen Armee, mit ihrem Kadavergehorsam durchaus gängige Verhaltens-, Kommunikations- und Bestrafungspraxis wählt, um auf diese Art und Weise seinen Trieb zu kanalisieren.“ Diese Geschichte zeige sehr plastisch dieses Missverhältnis von Selbstverständnis und Fremderwartung, welches eben auch auf solchen Konflikten beruhe und zeige, dass es nicht die Männlichkeit, sondern nur verschiedene Männlichkeiten gebe.
Selbst heute scheine es für viele Männer schwierig zu sein, mit ihren diversen Rollen umzugehen. Schwäche zu zeigen, sei bis heute in vielen Bereichen unmöglich. „Ich kenne Kollegen aus der Schweiz, die in der industriellen Forschung arbeiten. Outing wäre da kein Problem, aber Schwäche zu zeigen, nach dem Motto, ich kann das heute nicht, wird auch heute nicht gerne gesehen. Man darf es also nicht nur nicht sagen, sondern man darf sich auch nicht so verhalten. Dieser Druck ist zwar geschlechterunabhängig, wirkt sich aber unterschiedlich aus, weil Männer oder Männerrollen anders auf diesen Druck reagieren.“ Der Literaturwissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, dieses an literarisch ästhetischen Inszenierungsformen zu rekonstruieren, nachzuweisen und zu zeigen, wie Geschlecht inszeniert und performiert wird.

Uwe Blass

PD Dr. Torsten Voß ist Lehrbeauftragter im Teilfach Neuere deutsche Literatur in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.

Weitere Infos über #UniWuppertal: