Die Pflicht zur Solidarität
Dr. Élise Julien zur Ausstellung „Standing for Freedom“ über Wissenschaftler*innen im Exil, die vom 03. bis 29. April an der Bergischen Universität zu sehen ist
Frau Julien, ab dem 3. April ist im Foyer des Gebäudes K an der Bergischen Universität eine Ausstellung unter dem Titel „Standing for Freedom / Poser pour la liberté / Portraits Forschender im Exil“ zu sehen, die unter Ihrer Federführung in Wuppertal gezeigt wird. Worum geht es dabei?
Julien: Diese Ausstellung zeichnet in Texten und Bildern die Lebenswege von Forschenden nach, die ins Exil gezwungen wurden.
Wird die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt, ist dies ein frühes Warnsignal für eine gefährdete Demokratie. Auf der ganzen Welt werden Wissenschaftler*innen wegen ihrer Forschung oder ihrer Äußerungen bedroht, zensiert, verfolgt, entlassen, verhaftet, gefoltert, hingerichtet. Oft sind sie daher gezwungen, ins Exil zu gehen, um frei zu sein, aber auch, um weiterhin einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten. Um Zuflucht zu finden, sind sie auf die Einladungen von Kolleg*innen angewiesen. Auch diese erscheinen in der Ausstellung. So spannt die Ausstellung einen thematischen Bogen von der Geschichte des Wissenschaftsasyls zur aktiven Solidarität.
Wie wird die Ausstellung präsentiert?
Julien: Die Ausstellung bietet einen Streifzug durch vier Themengebiete: Geschichte des Wissenschaftsasyls; Forschende in Lebensgefahr; Wissenschaft im Exil; Berichten, Beobachten, Bezeugen. Jedes Thema wird von einer erklärenden Tafel (Französisch/Englisch, Deutsch unter QR-Code) eingeführt und zeigt mehrere Porträts als transparenter Abzug.
Diese Portraits sind Foto-Kompositionen, die die Geschichten der jeweiligen Personen abbilden. Für die Aufnahmen wurden diese gebeten, vier Objektkategorien symbolischer Natur mitzubringen: Fotos ihres Herkunftslandes und des Aufnahmelandes, persönliche Gegenstände oder solche, die auf ihren Forschungsbereich verweisen. Der Fotograph hat eine Apparatur mit einem Spiegel entwickelt, die es ermöglicht, all dies bei der Aufnahme unmittelbar übereinanderzulegen (d.h. ohne nachträgliche Fotomontage). Durch das Spiel mit der Transparenz vermischen sich die Gesichter mit den symbolischen Fragmenten und zeichnen so die verschiedenen Lebenswege nach. Manchmal verschwinden sie auch, um die Anonymität bedrohter Wissenschaftler*innen aufrechtzuerhalten.
Wer hat die Ausstellung konzipiert und wie schwierig war es, die Informationen zusammenzustellen?
Julien: Diese Ausstellung ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Pascale Laborier, Professorin für Politikwissenschaft in Paris, und Pierre-Jérôme Adjedj, Fotograph in Berlin. Sie entstand aus ihrem Dialog über die Darstellung des wissenschaftlichen Exils.
Ähnlich wie in Deutschland die Alexander von Humboldt-Stiftung und das Auswärtige Amt 2015 die „Philipp Schwartz-Initiative“ ins Leben gerufen haben – mit deren Hilfe gefährdete Wissenschaftler*innen ihre Arbeit an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen fortsetzen können – hat in Frankreich das Ministerium für Hochschulbildung und Forschung Anfang 2017 das Programm PAUSE (Programme d'Accueil en Urgence des Scientifiques et Artistes en Exil i.e. „Programm zur Notaufnahme von Wissenschaftler*innen und Künstler*innen im Exil“) ins Leben gerufen, um die Aufnahme von solchen gefährdeten Personen in Hochschul-, Forschungs- oder Kultureinrichtungen zu fördern. Pascale Laborier war an der Gründung dieses Programms beteiligt.
In Zusammenarbeit mit dem Programm PAUSE führen Pascale Laborier und Pierre-Jérôme Adjedj das Projekt RESTRICA (Regards sur les Exils Scientifiques Contraints d’hier et d‘aujourd’hui i.e. „Einblicke in das erzwungene wissenschaftliche Exil in Vergangenheit und Gegenwart“) durch: Seit Dezember 2018 treffen sie sich mit Forscher*innen, die sich in einer Situation des erzwungenen Exils befinden, um über ihre einzigartigen Erfahrungen zu berichten. Sie tragen mit Bildern und Worten dazu bei, sie sichtbar zu machen und zu bezeugen, was sie verloren haben: Gegenstände, Orte, ein Haus, Freunde und Kolleg*innen.Die Ausstellung, wie wir sie heute sehen können, wurde im Januar 2021 in der „Cité du Design“ in Saint-Étienne eröffnet und ist nun auf Wanderschaft.
Es handelt sich wie gesagt um eine Wanderausstellung, die auch in anderen europäischen Ländern zu sehen sein wird. Rund 40 Wissenschaftler*innen werden dort vorgestellt. Aus welchen Ländern kommen die Exilanten?
Julien: Im Rahmen des Projekts RESTRICA wurden viele Menschen interviewt und fotografiert und andere werden weiterhin interviewt und fotografiert. In der Ausstellung werden 15 Porträts großformatig dargestellt. Dazu kommen drei Bildschirme mit filmischen Präsentationen: eine ist der Animation der 40 Porträts gewidmet, die auch in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Hommes & Migrations“ mit Augenzeugenberichten sowie weiteren, das Thema vertiefenden Texten, veröffentlicht wurden.
Während die meisten gefährdeten Forschenden aus dem Nahen und Mittleren Osten stammen, kommen immer mehr aus Afrika, Asien und Lateinamerika.
Welchen Bedrohungen waren und sind die Wissenschaftler in ihren Herkunftsländern ausgesetzt?
Julien: Manche kommen aus Regionen, in denen die Bevölkerung aufgrund von Verfolgung, bewaffneten Konflikten, Gewalttaten oder Menschenrechtsverletzungen vertrieben wurde, beispielsweise aus Syrien oder dem Irak. Andere werden zur Zielscheibe autoritärer Regime, wie Künstler*innen, Intellektuelle oder Aktivist*innen früher in Chile oder Uruguay, heute in der Türkei, in Burundi oder in China. Andere müssen in Xinjiang (China) oder Aleppo (Syrien) die Zerstörung ihrer Arbeitsstätten oder ihres Zuhauses mitansehen. Ob in der Demokratischen Republik Kongo oder Venezuela, alle prangern schwere Menschenrechtsverletzungen durch Unterdrückungsregime an, in denen es keinen Platz für Meinungsfreiheit gibt.
Welche Lebensgeschichte hat Sie besonders beeindruckt?
Julien: Diese Ausstellung ist sehr bewegend, jedes Porträt bringt eine Menge Emotionen und Überlegungen mit sich. Persönlich haben mich besonders die Porträts berührt, die auf die eine oder andere Weise mit meiner Identität, sei es privat oder beruflich, in Resonanz standen.
Einerseits hat mich die Geschichte von Jean-Philippe Gunn besonders beeindruckt, vielleicht, weil ich wie er Historikerin bin. Dieser Forscher ist vor der Unterdrückung geflohen, der er in Togo ausgesetzt war, allerdings sind die Gefahren und Bedrohungen für ihn auch in Frankreich nicht verschwunden. Zu wissen, dass Kollegen, denen wir täglich an unseren Universitäten begegnen, in ständiger Angst leben und arbeiten müssen, sollte uns zu einer Pflicht zur Solidarität aufrufen. Jean-Philippe Gunn erinnert uns darüber hinaus an eine allzu oft übersehene Tatsache: „Niemand wählt den Weg ins Exil aus Spaß“. Auf seinem Porträt ist sein Blick direkt auf die Kamera gerichtet und sein rechter Arm ist über der linken Schulter erhoben: Es ist nicht klar, ob er sein Gesicht entblößt, eine Träne wegwischt oder die Faust ballt. Diese Haltung spiegelt möglicherweise Gefahr, Schmerz, Entschlossenheit – oder vielleicht alles auf einmal – wider.
Andererseits bin ich empfänglich für die Geschichte von Menschen (es gibt hier einige davon), die sich für die Aufnahme der Exilanten engagieren. Dies ist insbesondere die Geschichte von Amaryllis Quezada. Sie wurde in Frankreich geboren, wo sie erst spät das Ausmaß der Gräueltaten entdeckte, von denen ihr Vater während der chilenischen Militärdiktatur Opfer war. Dieser war 1977 geflohen, promovierte und wurde Professor für spanische Literatur. Heute engagiert sich Amaryllis Quezada im Rahmen des Programms PAUSE für die Aufnahme von gefährdeten Forschenden. Diese junge Frau stellt für mich eine Art Übermittlung dar: die Übermittlung einer familiären Erinnerung, die aus Leiden, aber auch aus Hoffnungen besteht, sowie die Übermittlung eines demokratischen Engagements, das sich heute in einer Gegenleistung für das ausdrückt, was ihr Vater damals als Hilfe erhalten hat.
Sie sagen, bei dieser Ausstellung „handelt es sich um ein originelles Format der politischen und kulturellen Vermittlung“, die von zusätzlichen Veranstaltungen begleitet wird, um Wissenschaftler*innen und die Zivilgesellschaft weiter zu sensibilisieren. Was ist geplant?
Julien: Am Anfang dieses Projekts stand die Überlegung, was das Exil bedeuten kann, wenn man über die Feststellung hinausgeht. Als Zwischenergebnisse wurden Ende 2019 achtzehn Porträts in Paris auf eine Leinwand projiziert und musikalisch von dem aus Flüchtlingen bestehenden Ensemble „Orpheus XXI“ begleitet; 2020 wurde ein Film gedreht, der anlässlich des Weltflüchtlingstages gezeigt wurde; auch eine Instagram-Kampagne aus acht Porträts wurde organisiert. Als (provisorisches) Endergebnis ist die Ausstellung in sich an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Forschung und Kunst. Sie bietet daher ein originelles Format und die Möglichkeit einer vielfältigen Vermittlung zum Thema Exil.
Bei unserer feierlichen Eröffnung am 11. April werden wir die Blickwinkel ausdehnen: den politikwissenschaftlichen Blick der Kuratorin, den künstlerischen Blick des Fotografen, den Blick aus der Erfahrungswelt einer geflüchteten Kollegin aus der Ukraine. Die Veranstaltung wird durch einen musikalischen Beitrag bereichert: Das Duo „Marion & Sobo“, mit französisch-amerikanische und polnische Wurzeln in Deutschland gegründet, vermischt Sprachen und Kulturen in einem Stil, der Chanson und globale Musik miteinander verbindet. Dies ist eine andere Art, das Exil zu begreifen und zu empfinden, zwischen Nostalgie und Hoffnung. Schließlich wird eine Podiumsdiskussion mit Teilnehmern aus verschiedenen Disziplinen (Literatur, Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie) stattfinden, um wissenschaftliche Analysen zum Exil zu liefern. Es wird für jeden Geschmack etwas dabei sein!
Wie lange wird die Ausstellung an der Bergischen Universität zu sehen sein?
Julien: Die Ausstellung ist vom 3. bis zum 29. April im Gebäude K der Bergischen Universität (Campus Grifflenberg) zu sehen. Sie ist barrierefrei und frei zugänglich: Alle sind herzlich willkommen! Am 11. April ab 16:00 Uhr bietet außerdem die feierliche Eröffnung die Gelegenheit für ein abwechslungsreiches Programm sowie für eine Führung durch die Ausstellung.
Mehr zur Ausstellung: https://www.romanistik.uni-wuppertal.de/de/personal/literaturwissenschaft/dr-elise-julien/dr-elise-julien/ausstellung/
Uwe Blass
Dr. Élise Julien ist seit Oktober 2021 Gastdozentin an der Bergischen Universität Wuppertal. In der Romanistik unterstützt sie insbesondere den binationalen Studiengang „Angewandte Kultur- und Wirtschaftsstudien: Deutsch-Französisch“. Die Wissenschaftlerin kommt von der Grande École Institut d'études politiques de Lille. Gefördert wird die Dozentur durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD).