„Das Feld Populärkultur hat für die Wissenschaft viel zu bieten“
Professor Dr. Birgit Spengler und der andere Blick auf die USA
„Ich bin keine autorzentrierte, sondern eher eine themenzentrierte Leserin. Was ich lese, hängt weniger von bestimmten Autor*innen als von den Themen ab, die mich gerade bewegen“ sagt Birgit Spengler, Professorin für Amerikanistik an der Bergischen Universität. Dennoch gibt es zeitgenössische Schriftsteller*innen, die die Wissenschaftlerin besonders empfehlenswert findet. Neben so bekannten Namen wie der Nobelpreisträgerin Toni Morrisson nennt sie u.a. auch hierzulande weniger bekannte Literatinnen, wie die haitianisch-amerikanische Autorin Edwidge Danticat, die indianisch-stämmige Louise Erdrich oder die in den USA lebende Mexikanerin Valeria Luiselli. Ein Element, das diese drei Autorinnen verbindet, findet sie in den von ihnen beschriebenen „Ausnahmezuständen“, die Spengler im Rahmen eines aktuellen Projekts erforscht. So widmet sich Danticat etwa dem Thema Gewalt in Haiti und den Migrationsbewegungen, die diese Gewalt auslöst. „In Danticats Dew Breaker (2004) wandern auch die Geschichten selbst zwischen den USA und Haiti hin und zurück und vermitteln uns so einen Eindruck von der Gewalt, die die Geschichte Haitis prägt und die Figuren auch in den USA nicht loslässt. Danticat macht ihren Leser*innen das Leid ihrer Figuren sehr einfühlsam und dennoch eindrücklich erfahrbar, ohne dass wir traumatisiert aus dem Leseerlebnis gehen würden. Gerade das ist eine große Kunst“, begeistert sich die Literaturwissenschaftlerin. „Damit stellt sich Danticat auch einer der maßgeblichen Herausforderungen unserer Zeit. Wir müssen das Leid anderer stärker zur Kenntnis nehmen und unser Handeln dementsprechend verändern. Die Literatur kann Prozesse des Umdenkens anstoßen und neue Welten und Seinsmöglichkeiten eröffnen“. Louise Erdrich wiederum beleuchtet in zahlreichen Romanen das Leben auf einem fiktiven Chippewa Reservat Nordamerikas. Dazu Spengler: „Sie verwebt Geschichte, Geschichten und Genealogien. Einige Figuren oder ihre Familien und Nachfahren treten in verschiedenen Texten immer wieder auf. Erdrich verwebt so Familien- und persönliche Geschichte(n) mit nationaler Geschichte um unter anderem Themen wie Kolonialisierung und deren Auswirkungen aufzuarbeiten. Trotz dieser ernsten Themen kommt aber auch der Humor in Erdrichs Romanen nicht zu kurz“. Zu den zehn besten Büchern 2019, die von der New York Times gekürt wurden, gehört auch der neueste Roman von Valeria Luiselli. Lost Children Archive (2019) nähert sich der U.S. amerikanisch-mexikanischen Grenzproblematik über die Gegenüberstellung eines modernen Road Trips und des Leids der unbegleiteten Kinder aus Guatemala, Honduras und El Salvador, die 2013/14 zu zehntausenden in den USA Asyl suchten. Zeitgeschichte wird für die Leserin oder den Leser auf eine Art und Weise erfahrbar, die Nachrichtenmedien nicht leisten können. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Literatur- und Kulturwissenschaft sich genauer anzusehen, wie solche Darstellungen funktionieren und welche Strategien sie entwickeln, um gesellschaftliche Prozesse, Themen und Probleme zu reflektieren. In dieser Hinsicht findet die Amerikanistin auch den jüngsten Roman von Richard Powers, The Overstory (2018), besonders aufschlussreich. In diesem Roman, mit dem sich der amerikanische Schriftsteller in die umweltpolitische Diskussion einschaltet, versucht er, Literatur, Leben und Welt „baumzentriert“ zu denken und so neu zu konzeptualisieren. Das Faszinierende an der amerikanischen Literatur sei ihre Vielfalt, betont Spengler, die vielen unterschiedlichen Einflüsse, aus denen sie sich speist und die den Leser oder die Leserin immer wieder Neues entdecken lassen.
Gemeinsames Aufbegehren gegen Herrschaftsstrukturen
Einen klar definierbaren epochenübergreifenden Unterschied zwischen europäischen und amerikanischen Autor*innen sieht Spengler eher nicht. „Es gibt natürlich seit der Kolonialisierung Amerikas enge Beziehungen zwischen der amerikanischen und der europäischen Literatur. Obwohl es viele Gemeinsamkeiten und verbindende Elemente gibt, bin ich aber auch davon überzeugt, dass Autorinnen und Autoren immer von ihren kulturellen Kontexten geprägt werden und auf diese reagieren. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Literatur des Gebiets, das später zur USA wird, in einer anderen Weise als zum Beispiel die britische Literatur. Es sind andere Themen, andere Schwerpunkte, mit denen sich auseinandergesetzt wird, und das zeigt sich schon in der Kolonialliteratur“. Parallelen zwischen Autorinnen in Europa und den USA gebe es dennoch viele, betont Spengler, denn bestimmte Stoffe und Motive seien transatlantisch hin- und hergewandert. Ein Anliegen, das zahlreiche europäische und amerikanische Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts teilen, ist zum Beispiel das Aufbegehren gegen bestehende Herrschaftsstrukturen. Hier findet nach Spenglers Ansicht ein ausgeprägter transatlantischer Dialog statt, ein Bewusstsein von einer Art transatlantic sisterhood. Dennoch ist die Betonung U.S. amerikanischer und europäischer literarischer Beziehungen auch einschränkend: Hemisphärische und inter-amerikanische Zusammenhänge oder ein erweitertes Verständnis transatlantischer Beziehungen, das auch den afrikanischen Kontinent mit einbezieht, werden damit ausgeblendet.
„Ich bin kein Fan von Geschlechterdichotomien“, erklärt die gebürtige Südhessin auf die Frage, ob Frauen anders schreiben als Männer. „Es sind vor allem die äußeren Umstände und deren Verarbeitung, die Schreiben und Geschlechtsidentität rahmen und prägen“. Wenn zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext unterschiedliche Schreibweisen oder Schreibstrategien entwickelt werden, seien diese weniger auf naturgegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen als auf unterschiedliche Formen der Teilhabe – z. B. an gesellschaftlichen Diskussionen, Bildung und Herrschaftsmacht.
Visual turn – eine Umorientierung
Für ihre Dissertation zum Thema „Vision, Gender and Power in Nineteenth-Century American Women`s Writing (1860 – 1900)“ wurde Birgit Spengler 2007 mit dem Cornelia Goethe Preis in Frankfurt ausgezeichnet. Darin setzt sie sich mit Geschlechter- und Machtverhältnissen in dieser Zeit auseinander. „Meine These in der Arbeit ist, dass diese Verhältnisse von Schriftstellerinnen u.a. über Blickregime verhandelt werden. Gesellschaftliche Verhältnisse werden also metaphorisch über Sehverhältnisse, aber auch über visuelle Technologien und erkenntnistheoretische, philosophische Fragen dargestellt und ausgehandelt. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist deswegen so interessant, weil der sog. „visual turn“ eigentlich erst um die Jahrhundertwende angesetzt wird“. Neuerungen in der visuellen Technologie des 19. Jahrhunderts, neue physiologische Erkenntnisse über die Funktionsweisen des Sehens, die schon wesentlich früher im 19. Jahrhundert gemacht werden, haben aber bereits vor den großen Realisten wie Henry James und dem Einzug der literarischen Moderne Auswirkungen auf das Neudenken von Sehen und dessen erkenntnistheoretische Implikationen. Weil Frauen aufgrund von gesellschaftlichen Normen während des 19. Jahrhunderts besonders oft zu Objekten eines gesellschaftlich disziplinierenden und männlich begehrenden Blicks reduziert wurden, finde ich die Art und Weise, wie Schriftstellerinnen Blickweisen und Visualität auf der Handlungsebene fiktionaler Texte thematisieren, besonders spannend.“
Ich möchte Studierende an den Fragen teilhaben lassen, für die ich brenne
Seit 2017 lehrt und forscht die Wissenschaftlerin an der Bergischen Universität und möchte ihre Studierenden motivieren, indem sie versucht, ihre Neugier zu wecken. „Das Best-Case-Szenario ist, Studierende dazu zu bringen, selbst zu lesen und selbst zu entdecken“. Da Spengler Lernen als einen „sehr individuellen“ Prozess einschätzt, bei dem persönliche Erfahrungen und Wissensbestände mit Neuem in Verbindung gesetzt werden müssen, setzt sie auf Einsicht und sagt: „Am Schönsten finde ich es, wenn Studierende aus dem Kurs oder der Vorlesung gehen und sagen, `hier möchte ich weiterlesen. Das hat mich gepackt´. Es geht weniger darum einen Wissenskanon zu vermitteln, als um analytische Fähigkeiten und Fertigkeiten“. Auch die Beschäftigung mit Populärkultur ist in diesem Rahmen absolut legitim. „Ich denke“, erläutert Spengler, „dass Populärkultur so interessant ist, weil sie gesellschaftliche Strömungen, Krisen und Ängste oft viel unmittelbarer aufnimmt als hochkulturelle Formen und das kulturelle Imaginäre einer Gesellschaft so auf den Punkt bringt“. Was zur Populärkultur gehört und wie sie beurteilt wird, ist allerdings sehr wandelbar. „Vereinfachend könnte man sagen, dass Populärkultur ist immer das ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht zur Hochkultur zählt. Selbst Shakespeare wurde nicht immer der britischen Hochkultur zugerechnet“, erklärt sie. Einem mindestens ebenso starken Wandel unterliegen akademische Herangehensweisen an Populärkultur. Sehen die einen in der Populärkultur ein Mittel der gesellschaftlichen Subversion, argumentieren andere in Richtung einer bloßen Kommerzialisierung. Mittlerweile ist die Populärkultur im Rahmen der Kulturwissenschaft aber ein fester Bestandteil wissenschaftlicher Betrachtung in den Geisteswissenschaften.
Formen von Mobilität in Comics in Zeiten der Digitalisierung
Die engagierte Wissenschaftlerin forscht auch selbst auf dem Terrain der Populärkultur. The Unwritten ist eine amerikanische Comic-Serie von Mike Carey mit Kunstwerken von Peter Gross. Birgit Spengler hat untersucht, wie in dieser Reihe Formen von Mobilität dargestellt werden, denn „hier wird ein besonders interessantes und gesellschaftlich relevantes kulturelles Phantasma aufgenommen: die Vorstellung einer grenzenlosen Mobilität.“ Mobilität hat in unserer Zeit aufgrund von technischen Innovationen entschieden zugenommen. Wir sind „connected“, virtuell und physisch und am besten jederzeit und an jedem Ort. „Der Comic nimmt dieses Thema auf und imaginiert eine Welt, die Formen von Mobilität, die uns heute zur Verfügung stehen, abbildet und potenziert, sie dabei aber auch kritisch reflektiert.“ Die im Comic dargestellte Welt besteht nicht nur aus der uns bekannten, sondern auch aus den Welten literarischer Texte: zum Beispiel die Welt von Moby-Dick oder die eines Romans von Charles Dickens. Diese Welten sind eng miteinander verknüpft und im Comic in ihrem Fortbestehen voneinander abhängig: Die Vielzahl literarischer Welten hält unsere Welt in Balance, verhindert das Vorherrschen einer einzigen „Geschichte“, bzw. einer einzigen autoritären Deutung von „Welt“. Eine ominöse Macht versucht aber, gerade diese Pluralität über das Zerstören literarischer Welten zu unterbinden. Der Protagonist, der mit Hilfe einer literarischen Landkarte und eines magischen Türknaufs die Schwelle zwischen „Realität“ und „Literatur“ überschreiten kann, müsse dies verhindern. „Dieser utopischen Form einer grenzenlosen und jenseits von zeitlichen Beschränkungen existierenden Mobilität stellt der Comic das Dasein all jener Figuren entgegen, die durch das Zerstören ihrer literarischen Welten in einer Art Niemandsland gefangen sind.“ Spengler beschäftigt sich anhand dieser Reihe mit Fragen der Globalisierung als den weitreichenden Verflechtungen fremder Welten untereinander. „Das ist ein Aufgreifen der Problematik, die unsere Zeit umtreibt“.
Auf der Suche nach der weiblichen Sicht der Dinge
Ein weiteres Forschungsthema der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin sind Fotografien von Frauen der Jahrhundertwende im Westen der USA. „Der Westen hat eine besondere Faszinationskraft. Die Landschaften, die Natur und die Geschichten, die über den Westen erzählt werden, haben solch populäre Genres wie den Western hervorgebracht und werden von diesem verbreitet und propagiert,“ erläutert sie und erklärt ihren Forschungsansatz folgendermaßen: „Die visuelle Kultur im 19. Jahrhundert, insbesondere Fotografie und Malerei, haben einen großen Beitrag dazu geleistet, den Westen in die kulturelle Imagination der Nation zu integrieren. Malerei und Fotografie liefern Bildlichkeiten, die den Westen in die Narrative eingliedern, welche die Nation über sich selbst erzählt“. Zu diesen Narrativen gehört auch die amerikanische Doktrin des „Manifest Destiny“ – sie besagt, dass die USA einen göttlichen Auftrag zur Expansion hätte. Der Westen wird im Sinne des „Manifest Destiny“ zunächst durch große Expeditionsreisen erkundet und dann physisch, wo nötig auch brutal durch physische Gewalt, vereinnahmt. Die Idee des „Manifest Destiny“ werde aber auch mit Hilfe der visuellen Ikonographie in der Landschaftsfotografie des Westens kommuniziert und naturalisiert. Spengler ist in diesem Kontext speziell auf der Suche nach der weiblichen Sicht der Dinge. „Mich interessiert, wie Frauen, die erst Ende des 19. Jahrhunderts in die Fotografie des Westens einsteigen, dazu beitragen, die Bildlichkeit des Westens zu verändern“. Dazu reiste sie selber in die Staaten und fand Belege für einen anderen Blick. „Ich habe in verschiedenen Archiven in den USA geforscht und dabei Fotos entdeckt, die vorherrschende Blickkonventionen unterwandern. Solche Darstellungen ziehen zum Beispiel dem Betrachter den Boden unter den Füßen weg. Sie spielen mit der Blickperspektive auf eine Art und Weise, die uns in die Landschaft hineinzieht und uns desorientiert, statt uns über sie zu erheben. Mich interessiert besonders das bildliche Werk, das vernachlässigt wurde. Es kann dazu beitragen, eine andere Sicht der Dinge einzunehmen“, sagt sie, „vielleicht auch eine andere Ethik des Blicks zu entwickeln“.
Prof. Dr. Birgit Spengler beobachtet in ihren Forschungen mit einem ganz eigenen, innovativen Blick die immer spannende – und spannungsgeladene – USA des 19., 20. und 21. Jahrhunderts in Literatur und Kultur. Die Erkenntnisse dieses besonderen Blicks möchte sie mit ihren Studierenden teilen und sagt abschließend: „Wenn ich es schaffe, durch forschungszentriertes Lernen Studierende an den Fragen teilhaben zu lassen, für die ich brenne, um sich mit ihnen eigenständig zu beschäftigen und individuelle Fragen zu entwickeln, ist mein Ziel erreicht.“
Uwe Blass (Gespräch vom 17.12.2019)
Professor Dr. Birgit Spengler studierte Amerikanistik, Englische Literatur und Literaturwissenschaft sowie Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Frankfurt. 2013 habilitierte sie sich. Nach weiteren Stationen in Göttingen und Bonn ist sie seit 2018 Professorin für Amerikanistik an der Bergischen Universität Wuppertal.