Das Nibelungenlied – ein Heldenepos und seine Verfilmung
Prof. Dr. Christian Klein/ Germanistik
Foto: UniService Transfer

Lüge, Verrat und Rache: Das Nibelungenlied

Der Germanist Christian Klein über ein deutsches Heldenepos und seine Verfilmung

Das Nibelungenlied ist ein mittelalterliches Heldenepos und galt im 19. und 20. Jahrhundert als Nationalepos der Deutschen. Woher kommt die Geschichte und wie alt ist sie?

Klein: Das Nibelungenlied ist ein auf Mittelhochdeutsch verfasstes Versepos, das zwischen 1150 und 1200 entstanden ist und zu den wichtigsten Werken der deutschen Literatur des Hochmittelalters zählt. Es verarbeitet einen bis ins 5. Jahrhundert zurückgehenden, mündlich überlieferten germanisch-skandinavischen Sagenstoff, der historische Ereignisse aufgreift und mit mythischen Elementen verknüpft. Es muss zu seiner Entstehungszeit ein großer Publikumserfolg gewesen sein –  dafür spricht zumindest die Tatsache, dass es in siebenunddreißig (Teil-)Abschriften überliefert ist. Auch wenn heute weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass es sich beim Nibelungenlied um das in sich geschlossene Werk eines Einzelautors handelt, so kann man über die konkrete Person des Verfassers nur ausgehend von Hinweisen aus dem Text spekulieren. Sicher sind sich die meisten Forscher, dass der Verfasser des Nibelungenliedes ein gebildeter, belesener Mann war und aus dem Umfeld des Passauer Bischofshofs stammte.

Erste Seite der Handschrift C
des Nibelungenlieds (um 1220–1250)
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Worum geht es denn im Nibelungenlied?

Klein: Es geht um Lüge, Verrat und Rache. Sehr verkürzt: Siegfried, Königssohn aus Xanten, möchte Kriemhild, die Schwester des Burgunderkönigs Gunther, ehelichen. Gunther verlangt für seine Einwilligung, dass Siegfried ihm dabei hilft, die sagenhaft starke isländische Königin Brünhild zu unterwerfen, um sie zur Frau nehmen zu können. Unsichtbar unter einer Tarnkappe, die er beim Raub des Schatzes der Nibelungen mit erbeutet hat, überwältigt Siegfried, der nach einem Bad in Drachenblut unverwundbar ist (mit Ausnahme einer kleinen Stelle am Rücken), Brünhild, die glaubt, von Gunther besiegt worden zu sein und deshalb in die Ehe mit ihm einwilligt. Doch Betrug und Gewalt entfalten im Folgenden eine unheilvolle Eigendynamik: Als die Täuschung auffliegt, wird zunächst Siegfried aus Vergeltung für die Demütigung Brünhilds von Hagen, der durch eine List Siegfrieds ›wunden Punkt‹ kennt, durch einen Speer in den Rücken ermordet. Dreizehn Jahre später heiratet Siegfrieds Witwe Kriemhild den Hunnenkönig Etzel, den sie nach weiteren dreizehn Jahren davon überzeugen kann, Gunther und Gefolge zu einem Fest einzuladen. Kriemhilds Stunde der Rache ist damit nach 26 Jahren gekommen: Sie provoziert einen Streit, dem ein wahrer Blutrausch folgt. Am Schluss sind auf Seiten der Burgunder nur noch Gunther und Hagen übrig. Ihren Bruder lässt Kriemhild enthaupten und anschließend schlägt sie eigenhändig Hagen den Kopf ab. Daraufhin wird Kriemhild geköpft. Die verbleibenden Ritter stehen schließlich fassungslos am Ort des Gemetzels.

1924 sorgte der Stoff noch einmal für Furore, denn der Regisseur Fritz Lang nahm sich seiner an und schuf ein weiteres filmisches Epos. Wie setzte er den Stoff um?

Klein: Im Rahmen von zwei Stummfilmen mit insg. fünf Stunden Länge: »Siegfried« und »Kriemhilds Rache« hatten im Frühjahr 1924 innerhalb weniger Wochen Premiere. Es war das größte und teuerste Filmprojekt, das bis dahin in Deutschland realisiert wurde. Das Drehbuch musste sich angesichts der Fülle des Stoffs auf bestimmte Handlungsstränge fokussieren und dramatisch zuspitzen. Das Ganze wurde von Fritz Lang in einer Kombination aus imaginierter germanischer Sagenwelt, Mittelalter-Phantasmagorie, Jugendstil-Ästhetik und Expressionismus umgesetzt, mit einer Fülle sehr aufwändiger Bauten – inklusive archaischer Waldlandschaften usw., denn es wurde nur im Studio gedreht. Das verleiht den Filmen eine ganz eigene Stimmung zwischen Realismus und Traum. Besondere Bedeutung hatte im Stummfilm die Musik. Gottfried Huppertz arbeitet mit der Leitmotivtechnik, die Wagner – seinerseits ein großer Nibelungen-Fan – etabliert hatte.

Filmplakat Nibelungen
Die Nibelungen 1. und 2. Teil, 1924
Foto: gemeinfrei

Der Film wurde in der Hyperinflation 1923 finanziert, d.h. man glaubte felsenfest an den Erfolg der Thematik, oder?

Klein: Man hoffte zumindest, dass das deutsche Filmpublikum nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die man in weiten Kreisen als eine Art nationale Demütigung empfand, und in Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit einen Film goutieren würde, der als Balsam für die ›deutsche Seele‹ konzipiert war. Thea von Harbou, die Drehbuchautorin, und Fritz Lang, der Regisseur, arbeiteten zielgerichtet am deutschen Mythos – mit blonden, edlen deutschen Helden gegenüber Hunnen aus dem Osten, die als wildes Barbarenvolk inszeniert werden. Das unterstreicht auch die Widmung vor dem ersten Teil – »Dem deutschen Volke zu eigen« –, die aus einem letztlich übernationalen Stoff einen Nationalmythos macht. Das traf den Nerv der Zeit – so hieß es in der zeitgenössischen Presse: „Er ist aus unserer Zeit geboren, der Nibelungenfilm und nie haben der Deutsche und die Welt ihn so gebraucht wie heute. Wir brauchen wieder Helden!“ Und auch wirtschaftlich hatte man durchschlagenden Erfolg, die Premieren waren gesellschaftliche Ereignisse, die Filme wurden Blockbuster.

Bemerkenswert ist auch, dass das Drehbuch von einer Frau stammt. Das war damals schon selten, nicht wahr?

Klein: Das stimmt, allerdings war Thea von Harbou, die Autorin des Drehbuchs und (spätere) Ehefrau des Regisseurs Fritz Lang, schon eine erfolgreiche Schriftstellerin, bevor sie nach dem Ersten Weltkrieg ins Filmgeschäft einstieg. Ab den frühen 1920er Jahren war sie die führende deutsche Drehbuchautorin und bildete mit ihrem Ehemann das ´Power Couple` des deutschen Films. Die beiden arbeiteten in einer Art künstlerischer Symbiose: Thea von Harbou erzählte die Geschichten, die Fritz Lang dann auf der Leinwand zum Leben erweckte. Neben den Nibelungen-Filmen haben die beiden später dann ja auch mit Metropolis (1927) und M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1928) weitere Meilensteine der Filmgeschichte gesetzt.

Die Inszenierung lässt uns heute auch den Einfluss des Jugendstils und Art deco erkennen, doch am spannendsten waren wohl die visuellen Effekte. So etwas wie den feuerspeienden Drachen hatte man vorher noch nicht gesehen, oder?

Klein: In der Tat setzte Fritz Lang bei der Umsetzung sehr auf filmische Schauwerte und das, was man heute ›Spezialeffekte‹ nennen würde – nicht nur der über zwanzig Meter lange Drache, den Siegfried besiegt, sondern auch Trickeffekte wie das Verschwinden und Wiedererscheinen Siegfrieds unter der Tarnkappe, die flammenumloderte Burg Brünhilds oder der Palastbrand am Ende waren spektakulär.

So richtig wiederentdeckt wurde der Stoff während der Aufklärung, Mitte des 18. Jahrhunderts. Friedrich der Große, dem der erste Sammelband gewidmet war, schrieb jedoch an den Herausgeber, Christoph Heinrich Myller: „Hochgelahrter, lieber Getreuer! Ihr urtheilt viel zu vorteilhafft von denen Gedichten aus dem 12., 13. und 14. Seculo, deren Druck Ihr befördert habet, und zur Bereicherung der Teutschen Sprache so brauchbar haltet. Meiner Einsicht nach sind solche nicht einen Schuss Pulver werth; und verdienten nicht aus dem Staube der Vergessenheit gezogen zu werden. In meiner Bücher-Sammlung wenigstens würde Ich dergleichen elendes Zeug nicht dulten; sondern herausschmeißen.“ Wie kam der literarisch doch sonst bewanderte König zu diesem Urteil?

Klein: Dass Friedrich der Große als Vertreter der Aufklärung mit dem Nibelungenlied nichts anfangen konnte, liegt quasi in der Natur der Sache. Das Nibelungenlied scheint viele der aufklärerischen Grundannahmen zu negieren. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen, das sich durch Anwendung seines Verstandes zivilisatorisch weiterentwickelt, steht jedenfalls ebenso wenig im Zentrum des Nibelungenlieds wie Kants Kategorischer Imperativ. Eine Geschichte des Gemetzels, wie sie das Nibelungenlied präsentiert, musste Friedrich dem Großen daher als anachronistisch und rückständig erscheinen.

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass man sich zum Filmstart des Nibelungen-Epos dann eine besondere PR-Aktion überlegte: Am Grab Friedrich des Großen wurde ein Kranz mit der Aufschrift »Zur Premiere des Nibelungenfilms. Fritz Lang« niedergelegt. Diese vorgebliche Verneigung des Regisseurs vor dem Preußenkönig markierte eigentlich dessen Indienstnahme, nutzte man die deutsche Identifikationsfigur Friedrich doch dazu, die Bedeutung des Films für das deutsche Nationalbewusstsein zu beglaubigen. Friedrich der Große hätte sich sicherlich auf ganz eigene Weise bedankt für diese ´Ehrerbietung`.

Darstellung von Siegfrieds Ermordung aus der Handschrift k des Nibelungenlieds (1480–1490)
Foto: gemeinfrei

Eine Kritik zum Film sagt, dass Lang kein ´nationalistisches Heldendenkmal` geschaffen habe, sondern ´ein düsteres, konsequent stilisiertes Fresko des sich schicksalhaft vollziehenden Untergangs, in dem nicht Liebe und Treue, sondern Hass und Rache die Triebfedern sind`. Warum wird eigentlich eine totale Untergangsgeschichte in der Literatur und im Film bis heute immer wieder neu rezipiert?

Klein: Ob die Kritik so zutreffend ist, lassen wir mal dahingestellt. Aber die Nibelungen-Geschichte wird sicher deshalb noch immer rezipiert, weil es in ihr um die sehr grundsätzliche Einsicht geht, dass keine höhere Macht unser Leben lenkt, sondern es unser – vor allem auch emotional bestimmtes – Handeln ist, das Konsequenzen für uns und andere zeitigt. Und wie furchtbar diese Konsequenzen sein können, führt uns eben das Nibelungenlied eindrucksvoll vor Augen, es zeigt, wozu Menschen fähig sind. Jan Philipp Reemtsma, unser Wuppertaler Poetikdozent 2024, hat Schluss und Wirkung des Nibelungenlieds pointiert so zusammengefasst: „Die Raserei ist zu einem Ende gekommen, weil es nichts mehr zu erschlagen gibt. Die Wucht des Nibelungenliedes besteht in der offensichtlichen Sinnlosigkeit des Ganzen.“

Dabei arbeitet der Text aber nicht mit eindimensionalen Figuren, sondern entwirft durchaus differenzierte Charaktere: Hagen von Tronje ist nicht nur der hinterlistige Meuchelmörder und Siegfried nicht nur der strahlende Held, der verraten wird. Hagen ist vielmehr auch der politisch denkende Ratgeber, der treu und bedacht agiert und bereit ist, für die Ehre seiner Königin das eigene Leben zu geben. Siegfried hingegen ist auch eitel und aggressiv, aufbrausend und gefährlich, denn seine Überlegenheit nutzt er, um seinen Willen egoistisch durchzusetzen. Seine Mischung aus Naivität und Selbstüberschätzung kostet ihn, der nicht strategisch denkt, das Leben. Auch das ist nämlich eine Moral der Geschichte – die allerdings häufig überlesen wird: Kraft allein nützt wenig, wenn sie nicht mit Klugheit einhergeht.

Das Nibelungenlied ist in vierzeiligen Strophen gedichtet, die man eigentlich sang und in einer Sprache, die heute niemand mehr spricht. Wie kann man für eine solche Dichtung heute noch Leser*innen gewinnen?

Klein: Ich denke, dass die Thematik des Nibelungenlieds durchaus universell ist und daher auch heutige Leser*innen interessiert. Wir alle wurden ja zuletzt immer wieder darauf gestoßen, dass Gewalt nicht nur vergangene Epochen bestimmt hat, sondern auch unsere Zeit prägt. Das Nibelungenlied zeigt, dass der Mensch unter bestimmten Umständen dazu gebracht werden kann und fähig ist, rücksichtslos zu wüten und alles zu vernichten. Und wo eine Serie wie »Game of Thrones« zu einem Mega-Erfolg wird, müsste eigentlich auch ein Publikum für die Nibelungen zu finden sein. 

Sie haben zusammen mit Andreas von Arnauld das Buch „Weil Bücher unsere Welt verändern“ herausgebracht. Darin nehmen sie auch Bezug auf das Nibelungenlied. Welche Bedeutung hat es für die deutsche Kultur?

Klein: Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Nibelungenlied im Rahmen der nationalen Selbstvergewisserung als eine Art ´Manifest des deutschen Wesens` gedeutet. Als Anfang des 19. Jahrhunderts die Frage nach einer nationalen Identität jenseits der deutschen Kleinstaaterei für viele eine besondere Relevanz gewann, kam der Literatur als gemeinschaftsstiftendem Fundament eine herausgehobene Bedeutung zu. Das Nibelungenlied wurde als Denkmal einer lange vergessenen Nationalpoesie gelesen, in dem sich die „herrlichsten männlichen Tugenden“, die hier als typisch deutsch gedeutet wurden, manifestierten. Das Nibelungenlied galt fortan als eine Art „deutsche Ilias“. Es hatte enormen künstlerischen Einfluss, wurde vielfach bearbeitet und je nach den Zeiterfordernissen gedeutet. Besonders die Dramen- und Opernversionen des Nibelungenstoffes von Friedrich Hebbel und Richard Wagner trugen erheblich zur Popularisierung bei. Nie indes war es ein gutes Omen, wenn sich Politiker dezidiert auf das Nibelungenlied beriefen, an ´Nibelungentreue` appellierten oder behaupteten, dass das deutsche Militär den Ersten Weltkrieg nur verloren habe, weil es aus der Heimat hinterrücks gemeuchelt worden sei – wie Siegfried von Hagen.

Heute gilt das Nibelungenlied ungeachtet aller politischen Ideologisierungen als ein herausragendes Kunstwerk des Mittelalters, das mit bewundernswerter Detailfülle Einblicke in die höfische Gesellschaft seiner Zeit erlaubt und deutlich macht, wohin Lüge, Verrat und Hass führen können. Als Zeugnisse eines Meisterwerks der menschlichen Kreativität fanden die drei wichtigsten Handschriften, in denen das Nibelungenlied überliefert ist, 2009 Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe. Damit wurde dem Text, der vom Stoff und seiner Überlieferung her schon immer international war, auch offiziell der Status zugewiesen, der ihm eigentlich gebührt: jenseits nationalistischer Vereinnahmungen Teil des ´Gedächtnisses der Menschheit` zu sein.

Uwe Bass

Prof. Dr. Christian Klein lehrt und forscht in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften in der Abteilung Neuere deutsche Literaturgeschichte / Allgemeine Literaturwissenschaft.

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