„Der Zauberberg“ erschien vor 100 Jahren
PD Dr. Arne Karsten / Geschichte
Foto: Sebastian Jarych

Die längste Kur der Geschichte

Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erschien vor 100 Jahren
Ein Interview mit dem Historiker Arne Karsten

Woher stammte die Idee zum ´Zauberberg`, der am 28. November 1924 erschien?

Karsten: Wie so oft bei Thomas Mann stammte die Idee aus der unmittelbaren eigenen Lebenserfahrung. Seine Frau, Katia Mann, erkrankte 1912, und man vermutete, dass sie an geschlossener Tuberkulose litt, was sich hinterher aber nicht bewahrheitete. Sie musste daraufhin - nach dem damaligen Stand der medizinischen Erkenntnisse - in die Hochalpen zur Kur und fuhr nach Davos. Dort besuchte Thomas Mann sie und bekam die ersten Eindrücke über die in sich geschlossene Lebenswelt eines Lungensanatoriums. Danach ist Katia Mann auch in Arosa gewesen und hat viele Briefe geschrieben, die er auch zum Teil als Material benutzt hat. Die sind aber leider verloren gegangen, als die Familie 1933 in der Nazizeit das Haus in München aufgab. Die Archivbestände sind dann vermutlich bei einem Luftangriff zerstört worden.

Wovon handelt der Roman?

Karsten: Der Roman handelt von einem jungen Hamburger Patriziersohn, der im Sommer des Jahres 1907 auf drei Wochen in die Hochalpen ins Sanatorium „Berghof“ in Davos fährt, um seinen an Tuberkulose erkrankten Cousin zu besuchen. Aus diesen drei Wochen werden am Ende sieben Jahre, in denen der junge Hans Castorp, so der Name des Protagonisten, eine Vielzahl von Erlebnissen durchmacht, selber erkrankt, sich in eine russische, kranke Frau verliebt, die auch zu Gast auf dem Zauberberg ist und dort das durchmacht, was man nach dem Goethe’schen Vorbild einen Bildungsroman nennen könnte. Aus dem einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Mann wird so etwas wie ein philosophischer Kopf unter dem Eindruck der geistreichen, wenn auch schwerkranken Atmosphäre auf dem Zauberberg.

Der Romanheld Hans Castorp ist eine ganz ungewöhnliche Gestalt. Was macht ihn so besonders?

Karsten: Hans Castorps Besonderheit besteht paradox gesagt in seiner Mittelmäßigkeit. Er ist ein ganz durchschnittlicher, sympathischer, aber keineswegs mit besonderen Gaben ausgestatteter Zeitgenosse. Genau deswegen wird er eine so ideale Versuchsfigur für die Zauberwelt auf der Alpkur. Er ist immerhin empfänglich für die Eindrücke, die ihm dort begegnen. Und so schreibt Thomas Mann, ´mögen wir ihn doch als etwas mehr denn durchschnittlich bezeichnen`. Am Ende ist es keine Geschichte, die jedem passiert, so charakterisiert Thomas Mann den jungen Hans Castorp, und diese Bildungsfähigkeit und Empfänglichkeit für die intensiven Eindrücke der Zauberbergwelt, das macht den Protagonisten dann doch besonders.

Thomas Mann 1929, gemeinfrei

Thomas Mann hat an diesem Roman mit langen Unterbrechungen gearbeitet. Warum?

Karsten: Vor allem kam der Erste Weltkrieg dazwischen. Das schreibt Thomas Mann ganz ausführlich auch in den dazwischengeschobenen ´Betrachtungen eines Unpolitischen` unter dem Eindruck der politischen und dann auch kriegerischen, militärischen Auseinandersetzung, die alle Werte umwertete und die Alltagswelt zerstörte. Es bedeutete das Ende des bürgerlichen Zeitalters, und unter diesem Eindruck konnte er nicht weiterschreiben. Er habe es versucht, es sei nicht gegangen, er habe sich erst Rechenschaft ablegen müssen über seine eigene politische Stellung in der Welt, und diese Rechenschaft habe ihn vier Jahre seines Lebens und eine Menge Nervenkraft gekostet.

Danach kamen ein paar kleinere Werke, um sozusagen Abstand von der für ihn selbst extrem erschöpfenden und wesensfremden Beschäftigung mit Politik zu gewinnen. Dann ging er zurück an den Zauberberg, der allerdings zu Beginn als kleine Novelle, als Gegenstück zur Erzählung „Der Tod in Venedig“ gedacht war und erst im Laufe der Zeit, unter den Händen des Autors, einen Eigenwillen entwickelte und dann die monumentalen Ausmaße von knapp 1000 Seiten einnahm.

Bei den Lesern erreichte der Roman eine ungeheure Aufmerksamkeit und hatte schon nach vier Jahren eine Auflage von 100.000 Exemplaren. Was faszinierte die Leser damals so sehr?

Karsten: Thomas Mann hat mit dieser Parabel offensichtlich den Zeitgeist getroffen. Er schildert Hans Castorps Gedanken über die Einstellung zum Leben, wenn die Zeit selbst auf die bewusst oder unbewusst, aber doch irgendwie gestellte Frage nach dem höheren Zweck und dem tieferen Sinn eines Tuns mit einem hohlen Schweigen antwortet, wenn sie sich bei aller äußeren Betriebsamkeit innerlich trotzdem als aussichtslos, hoffnungslos und sinnlos zu erkennen gibt: Dann wird gerade in Fällen redlicheren Menschentums eine gewisse lähmende Wirkung nicht ausbleiben. Das ist die Erfahrung des jungen Hans Castorp, die ihn empfänglich macht für die Zauberbergatmosphäre, ein ganz leichtes, nur der Krankheit und der Bekämpfung der Krankheit gewidmetes Leben, ohne Verpflichtung, ohne Arbeit, ohne irgendwelche Aufgaben, mit viel freier Zeit zum Nachdenken über den Sinn des Ganzen. Und diese Sinnfrage, diese Frage nach dem wohin, woher, wozu, die wurde vor dem Ersten Weltkrieg mit all seinen zerstörerischen Wirkungen und noch mehr danach intensiv gestellt. Von daher traf der Zauberberg genau die Fragen einer Gesellschaft auf der Suche nach sich selbst.

Thomas Mann verärgerte aber auch Leser. Sein Kollege Gerhart Hauptmann war auf ihn lange Zeit nicht gut zu sprechen. Was war passiert?

Karsten: Thomas Mann hatte Hauptmann in der Figur des Mynheer Peeperkorn, einer spät auftretenden, aber wichtigen Figur im Zauberberg portraitiert und auch ein wenig karikiert, wie er das oft tat. Er hat immer wieder gesagt: „Ich habe in meinem Werk nichts erfunden.“ Er hat immer wieder Personen, Eindrücke aus der Gegenwart, der eigenen Erlebniswelt transformiert und zu Romanfiguren umgestaltet. Diese Benutzung von lebenden Figuren, um sie dann ironisierend, leicht karikierend in den Werken zu Romanfiguren zu machen, ist ihm wiederholt übelgenommen worden. Gerhart Hauptmann war relativ großzügig, zwar einen Moment lang verstimmt, aber sehr bald hatten sich die beiden ausgesöhnt.

1929 erhielt Thomas Mann den Literaturnobelpreis. Fachleute ordnen den Roman als Anti-Bildungsroman ein. Was bedeutet das?

Karsten: Vielleicht ist der Roman eher als Parodie auf den Bildungsroman zu sehen, insofern, als der klassische Bildungsroman nach Goethe’schem Vorbild ´Wilhelm Meister` den Protagonisten immer reifer, immer lebenstauglicher werden lässt.  Hans Castorp wird zwar geistreicher, aber nicht lebenstauglicher. Am Ende marschiert er in den Ersten Weltkrieg als Soldat. Es wird offengelassen, wie es endet, aber der Autor suggeriert sehr stark, dass Hans Castorp diesen Krieg nicht überlebt. Die Bildung ist also hier nicht erlösend und führt nicht dazu, dass die Person in der Welt ihren Platz findet.

Der Tod hat in Thomas Manns gesamten Werk immer eine besondere Bedeutung. Warum war ihm das so wichtig?

Karsten: Zum einen aufgrund früherer persönlicher Erfahrungen. Sein Vater ist 1891 gestorben, da war Thomas Mann 16 Jahre alt. Kurz zuvor hatte er den Tod der geliebten Großmutter intensiv miterlebt. Er ist von klein auf mit der Erfahrung des Todes groß geworden. Zum anderen ist es sein persönliches Gegengift, gegen eine von hohlem Fortschrittsoptimismus geprägten Zeit, in der eben das, was Hans Castorp, der auch todesfasziniert ist, so sehr prägt. In einer Zeit, die vor hektischem Aktivismus weder aus noch ein weiß, die aber die Fragen nach dem Sinn gerade mit diesem Aktivismus verdrängt, für die ist es ein wichtiges Gegengift: Zu bedenken, das alles menschliche Tun endlich ist und alle menschlichen Wesen sterblich sind. Ohne das Bewusstsein des Todes gibt es keine Philosophie. Nichts desto Trotz ist eine der zentralen Erkenntnisse von Hans Castorp der Schlüsselsatz: Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.

In seiner Rede zum 50. Geburtstag sagt Thomas Mann: „Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, dass es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß.“ Können Sie das erklären?

Karsten: Genau das, was in diesem Satz zum Ausdruck kommt: ein Leben, das den Tod verdrängt, bleibt oberflächlich und banal. Es erschöpft sich im praktischen, alltäglichen Tun, geht aber den wesentlichen Fragen nach dem woher, wohin, wozu, also dem, was den Menschen vom Tier unterscheidet, systematisch aus dem Weg. Diese Betriebsamkeit bricht man auf, wenn man das Ende bedenkt. Auf der anderen Seite ist die alleinige Rückwärtsgewandtheit, das Fixiertsein auf die Endlichkeit des Daseins, lebensschädlich, weil sie das Zurandekommen mit dem Leben verhindert. Das ist das, woran die Zauberberggäste leiden, was sie krankmacht: Dass sie es nicht auf sich nehmen wollen, sich den Herausforderungen und Mühen des Daseins zu stellen.

Uwe Blass

PD Dr. Arne Karsten (*1969) studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Göttingen, Rom und Berlin. Von 2001 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin. Seit dem Wintersemester 2009 lehrt er als Junior-Professor, seit der Habilitation 2016 als Privatdozent für Geschichte der Neuzeit an der Bergischen Universität.

 

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