Frau Atatürk und die symbolische, politische Gleichstellung der Frau
Apl. Prof. Dr. Sabine Mangold-Will über Latife Uşşaki, die Ehefrau des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk
Am 29. Januar 1923 heiratet Mustafa Kemal (Atatürk), Staatsgründer der modernen Republik Türkei, die 18 Jahre jüngere Latife Uşşaki (geb. 1899). Die Ehe hielt zwei Jahre und danach verschwand die Frau des Präsidenten wieder gänzlich aus der Öffentlichkeit. 2009 schrieb die türkische Journalistin Ipek Calislar eine bemerkenswerte Biographie über sie. Wer war diese außergewöhnliche Frau?
Mangold-Will: Latife war zweifellos eine beeindruckende Persönlichkeit, ob sie wirklich eine außergewöhnliche Frau war…? Latife war die Tochter eines sehr wohlhabenden, erfolgreichen und gut vernetzten Kaufmannes namens Muammar Usakizade. Als Izmir, ihre Heimatstadt, im Mai 1919 von griechischen Truppen besetzt worden war, hatte ihr Vater mit der Familie die Stadt verlassen und war nach Frankreich übergesiedelt. In Paris vertiefte Latife ihre Französisch- und weitere Sprachkenntnisse und nahm ein Studium der Rechtswissenschaften auf. Der Reichtum ihres Vaters ermöglichte ihr also eine exzellente – für eine Frau ihrer sozialen Herkunft seltene, aber nicht einzigartige – internationale Ausbildung. Wirklich außergewöhnlich wäre es gewesen, wenn sie ihr Studium beendet hätte, doch stattdessen kehrte sie nach dem Sieg der türkischen Nationalbewegung bei Sakarya (Herbst 1921) nach Izmir zurück. Dort begegnete sie im September 1922, beim Einmarsch der türkischen Truppen, dem führenden General Mustafa Kemal, der in Izmir nach einer standesgemäßen Unterkunft suchte. Das prächtige Haus der Usakizade-Familie kam dafür in Frage, und Latife bemühte sich, den wichtigsten Mann der siegreichen türkischen Nationalbewegung zum Bleiben zu bewegen. Die Quellen sprechen davon, ihre offene, westlich geprägte Art habe Kemal angezogen; begeistert soll er schließlich von ihrem Organisationstalent gewesen sein. Doch was Latife tat, war das, was Frauen in allen traditionellen Gesellschaften tun: Sie stellte sich in den Dienst seiner Sache, um den Mann dahinter für sich als Ehemann zu gewinnen. Einen Mann allerdings, der eine Ehe gerade mit ihr nur in Erwägung zog, weil sie ihm geeignet schien, sein politisches und soziales Modernisierungsprogramm zu verkörpern. Und darin lag vielleicht der Erfolg wie das Scheitern dieser Ehe begründet.
Erstmalig nach dem Ende des Osmanischen Reiches erlebte das Land eine Frau, die unverschleiert im Februar 1923 die Loge des Diplomatischen Korps des türkischen Parlaments in Ankara betrat, um die Rede ihres Mannes, die sie gemeinsam mit ihm geschrieben hatte, anzuhören. Das war ein historischer Auftritt, oder?
Mangold-Will: Ja und nein. Zunächst einmal zu der Formulierung „unverschleiert“. Wenn damit gemeint ist, dass Latife ihr Gesicht nicht bedeckte, dann stimmt das. Wenn damit gemeint ist, dass Latife ihr Haar in der Öffentlichkeit zeigte, dann stimmt das nicht. Auch Latife trat in der Öffentlichkeit immer mit einem Kopftuch auf; manchmal schauten Haare heraus, aber sie war öffentlich nie ohne Kopftuch zu sehen. Fotos, die sie ohne Kopftuch zeigen, sind im familiären Privatraum entstanden und zirkulierten ursprünglich nur dort. Erst nach ihrer Ehe im fortgeschrittenen Alter ist sie auch in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch zu sehen gewesen.
Um auf die angesprochene Szene zurückzukommen, ihr Auftritt in der Diplomatenloge des Parlaments zu Ankara: Es war einfach schon ungewöhnlich, dass überhaupt eine Frau in diesem öffentlichen politischen Raum auftauchte. Das war die Sensation. Das war die Revolution.
Einer der Abgeordneten sagte gar zu ihr: „In Ihrer Person hat die türkische Frau heute eine Revolution erlebt!“ Wie äußerte sich das im Weiteren?
Mangold-Will: Wie gesagt, bei diesem Auftritt ging es um die symbolische politische Gleichstellung der Frau. De facto brauchte es noch ein paar Jahre, bis die türkischen Frauen auch einen Rechtsanspruch auf diese Emanzipation hatten. 1925 wurde zunächst im Rahmen des „Hutgesetzes“ die Verschleierung von Staatsbediensteten in der Öffentlichkeit verboten. Das heißt, dass Frauen, die z. B. in der öffentlichen Verwaltung arbeiten wollten, mussten auf den Schleier verzichten; das Kopftuch war nicht mehr obligatorisch, aber auch nicht verboten. Das war also der Latife-Moment für alle Frauen im Dienste des Türkischen Staates.
Obwohl Mustafa Kemal, wie sein Biographen Andrew Mango mal süffisant schrieb, privat eher für den Harem war, schaffte die Türkische Republik 1926 im Rahmen der Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches zudem die Polygamie ab. Erst 1934 erhielten die türkischen Frauen dann auch das aktive und passive Wahlrecht auf nationaler Ebene, also die angesprochene politische Gleichstellung.
Latife stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Izmir und galt – Sie haben es geschildert – als hochgebildet und willensstark. Auch ihre äußere Erscheinung galt als ungewöhnlich. Aber hatte sie auch politischen Einfluss?
Mangold-Will: Nun ja, das kommt darauf an, was man unter politischem Einfluss versteht. Latife hatte keinen Beruf; sie hatte nie ein politisches Amt inne, obwohl es Versuche gab, sie zur Abgeordneten im Türkischen Parlament zu machen. Als 1935 erstmals 18 Frauen im Türkischen Parlament saßen, war allerdings Latife nicht dabei.
Ihre Biographin Ipek Calislar schreibt ihr einen indirekten politischen Einfluss zum einen durch Beeinflussung ihres Mannes Mustafa Kemal, zum anderen durch ihre mediale öffentliche Vorbildfunktion zu. Sie führt als Belege z. B. Latifes Mitarbeit an einer Rede an, die Kemal hielt, oder verweist auf zeitgenössische Zeitungsartikel, die ihr Auftreten kommentieren. Ich tue mich schwer, von „politischem Einfluss“ zu sprechen. Es lässt sich immerhin nicht leugnen, dass die Frau des Republikgründers sich eingeschrieben hat in die kollektive türkische Erinnerung. Gerade die Versuche, Latife als streitbar, unbeherrscht und „zickig“ zu diffamieren, verweisen ja darauf, wie präsent und wie herausfordernd sie für die Zeitgenossen war. Das kann man auch verstehen, wenn man je ein Bild von ihr in Reitstiefeln, Hosen und Mantel mit einem bunten Schal auf dem Kopf gesehen hat. Aber man darf nicht vergessen, dass das situationsgebundene, extreme politische Inszenierungen waren und nicht die alltägliche Realität.
Latife rettete ihrem Mann einmal sogar das Leben. Für diese Berichterstattung in der Biographie musste die Journalistin vor Gericht verantworten. Worum ging es dabei?
Mangold-Will: Ipek Calislar erzählt in ihrer Biographie eine (ihr zugetragene/durchaus bekannte) Geschichte, wonach Mustafa Kemal 1923 bei einem Überfall auf sein Haus in Ankara auf Anraten Latifes, das Haus in ihrem Ganzkörperschleier verlassen haben soll, um sich vor einer möglichen Ermordung zu retten und Hilfe zu holen. 2009, als die Biographie in der Türkei erschien, wurde die Autorin dafür nach Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt. Dieses Gesetz war 2005 nach dem Sieg der AKP bei den Parlamentswahlen von 2002 eingeführt worden. Bis 2008 mussten sich bereits rund 60 türkische Schriftsteller, Journalisten und Menschenrechtler aufgrund dieses Paragraphen vor Gericht verantworten. Viele wurden verurteilt. Ipek Calislar allerdings wurde in ihrem Prozess freigesprochen. Doch allein, dass die türkische Staatsanwaltschaft wegen dieser Lappalie Anklage erhoben hat, verweist auf das politische Klima in der Türkei in den frühen Zweitausenderjahren.
Nach zwei Jahren Ehe trennte sich Mustafa Kemal, der mittlerweile Präsident der Türkischen Republik geworden war, nach altem Scheidungsrecht von seiner Frau. Latife zog sich danach aus der Öffentlichkeit zurück. Hat sie das Frauenbild in der Türkei verändert?
Mangold-Will: Die Scheidung wurde Anfang August 1925 wirksam. Kemal sprach sie einseitig aus, und Latife blieb nichts übrig, als sie zu akzeptieren. Erst rund acht Monate später wurde das Schweizer Zivilgesetzbuch mit wenigen Änderungen als Zivilgesetzbuch in der Türkei eingeführt und damit eine solche „Verstoßung“ rechtlich unmöglich. Latifes Biographin Calislar geht davon aus, dass die „Juristin“ Latife während ihrer Ehe auf die Einführung dieses Rechts hingewirkt habe. Zweifellos hat Latife sich für mehr Frauenrechte ausgesprochen. Aber es ist unrealistisch zu glauben, die Einführung des Schweizer Zivilrechts sei eine einsame Entscheidung Kemals, der dabei an seine Exfrau gedacht hatte. Da Latife sich zuerst nach Europa und schließlich aus der Öffentlichkeit zurückzog, sehe ich nicht, dass sie wirklich das Frauenbild in der Türkei verändert hat. Dazu war ihr Auftreten zu kurz und zu exzeptionell. Ich würde resümierend vielmehr sagen: Latife war signifikant dafür, dass sich die Frauen in der Türkei während der langen Kriegsphase 1914-1923 verändert hatten, und die Männer, die nach 1918 in der Türkei die politische Elite bildeten, diesen Wandel weder ignorieren konnten, noch wollten. Soll heißen: Latife war eine der neuen türkischen Frauen, die den Wandel lebten und zugleich mehr Wandel einforderten, und sie hat zweifellos auch Frauen in der Türkei inspiriert; aber sie war keineswegs allein. Es wäre genauso wichtig oder vielleicht sogar wichtiger an die modernen Männer und zudem die vielen Frauen vor, neben und nach ihr zu erinnern wie z. B. Halide Edib Adivar, Nezihe Muhiddin oder Sabiha Gökçen, Mustafa Kemals spätere Adoptivtochter, die als Kampfpilotin ebenso an der brutalen Bekämpfung der Kurden beteiligt war, wie sie in der Öffentlichkeit die neue türkische Frau verkörperte.
Uwe Blass
Dr. Sabine Mangold-Will studierte Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Sie ist apl. Professorin für Neuere und Neuste Geschichte an der Bergischen Universität in Wuppertal.