Die Entlarvung der Propagandalügen und Barbareien des Krieges
Apl. Prof. Dr. Gabriele Sander über das wieder aktuelle Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus
Frau Sander, Karl Kraus veröffentlichte 1922 sein für unspielbar gehaltenes Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit“ als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, in dem die Absurdität des Krieges dargestellt wird. Wie macht er das?
Sander: Kraus wollte mit seiner Tragödie „die tiefere Wahrheit über den Krieg“ ergründen. Das Stück sprengt in seinen Ausmaßen alle Grenzen der Aufführbarkeit und ist mit seinen 220 Szenen so unfasslich und monströs wie sein Gegenstand: der Erste Weltkrieg. Der Herausgeber und Hauptautor der 1899 in Wien gegründeten Zeitschrift „Die Fackel“ hatte sich als hellsichtiger, scharfzüngiger und wortgewaltiger Zeitkritiker einen Namen gemacht, der vor allem die satirische Tonlage virtuos beherrschte. Mit den Mitteln der Satire arbeitete Kraus auch in seinem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“, um das Grauen und die Sinnlosigkeit des Weltkriegs vor Augen zu führen und diesen als groteske Maskerade entmenschlichter Gestalten darzustellen. Dazu bemerkte er in der Vorrede zur ersten Buchausgabe vom Mai 1922: „[...] der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren [...] und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten. Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos […].“
Das Drama ist zwar scheinbar konventionell in fünf Akte gegliedert, die sich jeweils mit einem Kriegsjahr befassen, es reiht aber die meist kurzen Szenen nur lose aneinander, sodass eher von einem offenen Drama gesprochen werden muss. Außerdem wechselt es ständig sowohl den Ort als auch die Figuren. Durch den Verzicht auf Zentralfiguren zugunsten einer Vielzahl von Stimmen bietet das Stück ein extrem breites Spektrum von Perspektiven und Reaktionen auf diesen ersten ‚totalen‘ Krieg der Weltgeschichte. Kraus versucht damit, sowohl die Abgründe der Barbarei als auch die Absurditäten der vermeintlich „großen Zeit“ in möglichst vielen Facetten auszuleuchten und die apokalyptische Dimension des Krieges deutlich zu machen. So inszeniert er im Epilog „Die letzte Nacht“ eine Art Totentanz und lässt die Welt in einem Blut-, Aschen- und Meteorregen untergehen.
Zeitgenossen beschrieben Karl Kraus so: „Das sei der strengste und größte Mann, der heute in Wien lebe. Vor seinen Augen finde niemand Gnade. In seinen Vorlesungen greife er alles an, was schlecht und verdorben sei. […] Jedes Wort, jede Silbe in der Fackel sei von ihm selbst. Darin gehe es zu wie vor Gericht. Er selber klage an und er selber richte. Verteidiger gäbe es keinen, das sei überflüssig, er sei so gerecht, dass niemand angeklagt werde, der es nicht verdiene. Er irre sich nie, könne sich gar nicht irren. (…).“ Kraus wandte sich bereits nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges entschieden gegen diesen Krieg. Wie tat er das?
Sander: Zunächst reagierte Kraus mit fassungslosem Schweigen auf den Kriegsausbruch. Er verstummte für einige Monate angesichts der Kriegsbegeisterung, die auch viele prominente Intellektuelle und Künstler erfasste. Anfang Oktober 1914 schrieb er an seine Freundin Sidonie Nádherný: „Ich denke, die Geister der Nationen stehen geistig noch tief unter dem Feldwebel.“ Erst im Dezember 1914 erschien nach fünfmonatiger Pause wieder ein neues Heft der „Fackel“. Es enthielt seine im November gehaltene Rede „In dieser großen Zeit“, in der – so heißt es zu Beginn – „eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte.“ Im Weiteren spricht Kraus von einer „lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten.“ Sein ebenso prophetischer wie zivilisationskritischer Text ist auch ein Pamphlet gegen die zeitgenössische Presse und die „missbrauchte Sprache“, die für eine beschönigende bzw. wahrheitswidrige Kriegsberichterstattung instrumentalisiert wird: „Die Depesche ist ein Kriegsmittel wie die Granate.“ Sein anfängliches Schweigen begründete er im Dezember 1915 mit dem „Abscheu gegen das andere Wort, gegen jenes, das die Tat begleitet, sie hervorruft und ihr folgt, gegen den großen Wortmisthaufen der Welt.“ Während des Krieges machte Kraus aus seiner pazifistischen Haltung keinen Hehl. Aufgrund seiner regierungs- und kriegskritischen Kommentare wurden einige Hefte beschlagnahmt, d.h. sie fielen der Zensur zum Opfer.
Das Besondere an dieser Tragödie ist die collagenähnliche Zusammenstellung von Textmaterial. Was hat er denn benutzt?
Sander: In seinem Selbstverständnis als Chronist seiner Zeit begann Kraus im Sommer 1915 damit, Materialien für das geplante Stück zu sammeln, z.B. Leitartikel aus Tageszeitungen sowie Extrablätter, die im Krieg oft sogar mehrmals täglich mit Uhrzeit erschienen, außerdem Dokumente wie militärische Tagesbefehle, Transportbegleitanhänger für Schwerverwundete, Gerichtsurteile, Reklamezettel u.a. Er schnitt Artikel, Fotos und Illustrationen aus Zeitungen und Zeitschriften aus und archivierte Postkarten aus der Kriegszeit, z.B. eine mit den kriegshetzerischen Parolen „Jeder Schuss ein Russ‘“, „Jeder Stoß ein Franzos‘“ und „Jeder Tritt ein Britt‘“. Einige der ersten Szenen, die Kraus ab 1915 für seine Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ schrieb, ließ er vorab in der „Fackel“ abdrucken.
Wie er mit dem gesammelten Textmaterial umging, lässt sich an einem kontrastierenden Paralleldruck vom Oktober 1915 verdeutlichen: Neben dem Nachdruck des „Friedensrufs des Papstes (Benedikt XV.) an die Kriegführenden“ aus dem „Osservatore Romano“ erschien unter der Überschrift „Zwei Stimmen“ in der linken Spalte „Benedikts Gebet“ und in der rechten „Benedikts Diktat“ – ein von Moritz Benedikt, dem Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, verfasster sarkastischer Kommentar zum Kriegsgemetzel in der Adria. Kraus verbindet also dokumentarische und satirische Textelemente. Das Prinzip der Collage und Montage übernahm er auch für sein Drama, das zu mehr als einem Drittel aus Zitaten besteht. Dazu heißt es in der Vorrede: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. (…) Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines.“
Besonders drastisch ist das Foto der Hinrichtung des ehemaligen Reichsabgeordneten Cesare Battisti 1916 in Trient in der ersten Ausgabe. Musste man den Leser auch bildlich auf den Schrecken des Krieges hinweisen?
Sander: Als Schriftsteller und Medienkritiker wusste Kraus natürlich um die suggestive Macht der Bilder. So wählte er für das Frontispiz der ersten Buchausgabe das – während des Krieges als Postkarte verbreitete – offizielle Foto der Hinrichtung des Trientiner Abgeordneten im österreichischen Parlament Cesare Battisti durch den Wiener Scharfrichter Josef Lang am 12. Juli 1916. Battisti war Vertreter des Irredentismus, einer nationalistischen Bewegung, die sich die Befreiung von italienisch besiedelten Gebieten wie das Trentino und Istrien auf die Fahnen geschrieben hatte. Der Vorwurf gegen ihn lautete, dass er im Krieg zu seinen italienischen Landsleuten „übergelaufen“ sei. Nach kurzem Prozess wurde er wegen Hochverrats in Trient hingerichtet. Kraus lässt dieses Ereignis in seinem Stück durch die Figur des Nörglers als Ausdruck des österreichischen Chauvinismus kommentieren:
„Das österreichische Antlitz ist jederlei Antlitz. (…) Es lächelt und greint je nach Wetter. (...) Zumal aber ist es das des Henkers. Des Wiener Henkers, der auf einer Ansichtskarte, die den toten Battisti zeigt, seine Tatzen über dem Haupt des Hingerichteten hält, ein triumphierender Ölgötze der befriedigten Gemütlichkeit, der ‚Mir-san-mir‘ heißt. Grinsende Gesichter von Zivilisten und solchen, deren letzter Besitz die Ehre ist, drängen sich dicht um den Leichnam, damit sie nur ja alle auf die Ansichtskarte kommen. (…) heute ist sie als ein Gruppenbild des k.k. Menschentums in den Schaufenstern aller feindlichen Städte ausgestellt, ein Denkmal des Galgenhumors unserer Henker, umgewertet zum Skalp der österreichischen Kultur.“
Lassen Sie uns einen Blick auf die Figuren werfen. Kraus hat fast alle Gesellschaftsschichten und auch namhafte reale Personen in dieser Tragödie verarbeitet. Welche sind besonders markant?
Sander: Bei der Gestaltung der weit über 1000 Figuren fällt auf, dass sie meist stark typisiert und entindividualisiert sind oder sogar wie Karikaturen wirken. Teils handelt es sich um reale Personen, teils um fiktive Figuren, von denen einige sprechende Namen tragen, etwa der Major Metzler, Hauptmann de Massacré, Bambula von Feldsturm, Fettköter oder die Familie Durchhalter. Kraus lässt neben einzelnen Tier- und Symbolfiguren (z.B. „Chor der Hyänen“) vor allem Repräsentanten unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten auftreten, von den politischen, kirchlichen und militärischen Würdenträgern bis zum Kleinbürger und Bettler, vom deutschen und österreichischen Kaiser über Generäle, Fabrikanten und Professoren bis hin zu den Soldaten, Invaliden, Kellnern, Prostituierten und Schiebern. Sie alle demaskiert er durch ihren standes- und milieutypischen Sprachgebrauch, indem er ihnen charakteristische Redeweisen in den Mund legt, in denen z.B. die martialische Kriegspropaganda widerhallt oder fremdenfeindliche, rassistische Vorurteile zum Ausdruck kommen. Identifikationspotenzial haben die meisten Figuren nicht, sie sollen es auch nicht haben, sondern das Lese- bzw. Theaterpublikum in eine distanzierte Haltung drängen. In diesem Punkt ähnelt seine Strategie dem später von dem Kraus-Bewunderer Bertolt Brecht entwickelten Konzept des „Epischen Theaters“.
Zu den in allen Akten präsenten Figuren gehört die österreichische Reise- und Kriegskorrespondentin Alice Schalek, die von sich behauptet: „Die 208 Leichenphotographien legitimieren mich wohl zur Genüge vor der Nachwelt; sie wird nicht zweifeln, daß ich mitten drin war im heroischen Erleben.“ Ihre – teils in authentischer, teils in fingierter Form wiedergegebenen – patriotischen Augenzeugenberichte von den Schlachtfeldern macht Kraus zur Zielscheibe seiner Medienkritik. Als sein Alter Ego kann dagegen die Figur des Nörglers gesehen werden – übrigens eine Paraderolle für Helmut Qualtinger. In Gesprächen mit dem Optimisten kommentiert der Nörgler das Kriegsgeschehen mit bissiger Ironie, oft auch mit Sarkasmus und Zynismus. Besonders scharf polemisiert er gegen die Durchhalteparolen und hohlen patriotischen Phrasen vom Opfer- und Heldentod und führt seinem unkritisch affirmativen Dialogpartner die verheerenden Auswirkungen der Materialschlachten und insbesondere des Giftgaseinsatzes drastisch vor Augen. Der Nörgler attackiert nicht nur die politisch und militärisch Verantwortlichen sowie die Schar der Mitläufer und Kriegsgewinnler, sondern stellt auch die schreibende Zunft bloß, darunter prominente österreichische Autoren wie Hofmannsthal, Werfel und andere. Mit hasserfülltem Spott reagiert er vor allem auf die Verfasser von Kriegsdichtung: „Die Gegenwartsbestie, wie sie gemütlich zur todbringenden Maschine greift, greift auch zum Vers, um sie zu glorifizieren. Was in dieser entgeistigtesten Zeit zusammengeschmiert wurde – es ergäbe täglich eine Million Tonnen versenkten Geistes (…).“
Das Werk galt nach Kraus´ eigenen Angaben als unspielbar. Bis 1964 hielten sich die Rechteverwalter auch daran. Seitdem hat es immer wieder Versuche gegeben, eine gänzliche Inszenierung gibt es bis heute nicht. Warum nehmen sich Regisseure bis heute dieses Werks immer wieder an?
Sander: Kraus zufolge war die „nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende“ umfassende Tragödie „einem Marstheater“ zugedacht, also weniger als Bühnen- denn als Lesedrama konzipiert. Dennoch hat Kraus nicht nur selbst aus dem Stück rezitiert, sondern trotz seiner Bedenken auch an der Aufführung des Epilogs an der Neuen Wiener Bühne 1923 mitgewirkt und den Text 1929/30 durch massive Kürzungen und andere Eingriffe für das Theater eingerichtet. Diese auf 74 Szenen reduzierte Bühnenfassung ermöglicht die Aufführung an einem einzigen, allerdings recht langen Theaterabend. Nach ersten Inszenierungen in den 1960er und 1970er Jahren folgten in den letzten Jahrzehnten immer neue Aufführungen – bis in die jüngste Gegenwart hinein. Trotz seiner enormen Ausmaße, Materialfülle und Komplexität hat das Antikriegsstück offenbar nichts an Faszination verloren und stellt bis heute eine besondere Herausforderung dar, den kollektiven Kriegswahnsinn auf die Bühne zu bringen. Zeitgenössische Regisseure behandeln den monumentalen Dramentext als eine Art Steinbruch, aus dem sie eine individuelle Auswahl an Szenen treffen. Das gilt z.B. für die Inszenierung von Paulus Manker, die mehr als sieben Stunden (inkl. Pausen) dauert. Sein Auswahlkriterium war nach eigener Auskunft die „Sinnlichkeit“ der Szenen. Die Erstaufführung fand 2018 in der sog. Serbenhalle in der Wiener Neustadt statt, 2021 war diese Inszenierung dann in Berlin zu sehen, in dem als Belgienhalle bekannten Industriedenkmal in der Siemensstadt. Das spektakuläre ‚Theaterevent‘ kann dort von Juni bis September 2022 erneut miterlebt werden.
Nach 77 Jahren gibt es mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine wieder einen Krieg in Europa. Sind „Die letzten Tage der Menschheit“ heute aktueller denn je?
Sander: Karl Kraus geht es in seinem Stück um die Entlarvung der Propagandalügen und Barbareien des Ersten Weltkriegs, um die Aufdeckung der Ursachen und Konsequenzen dieses Zivilisationsbruchs. Historiker wie George F. Kennan haben diesen Krieg als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, die die Welt in ein Davor und Danach einteilte. Von einer Zeitenwende wird auch heute angesichts des von Putin entfesselten Krieges in der Ukraine gesprochen, der nicht nur das europäische, sondern auch das internationale Machtgefüge in seinen Grundfesten erschüttert hat und zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass gibt. Wir sehen ja gerade auch in Deutschland, wie der Kriegsausbruch quasi über Nacht zu einem Kurswechsel in der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik geführt hat. Als unerbittlicher Sprachkritiker hätte Kraus gewiss Putins ebenso fadenscheinige wie zynische Begründung für die militärische Invasion aufs Korn genommen, die der Kreml-Chef als „Spezial-Operation zum Schutz der russischen Bevölkerung in der Ukraine“ deklariert hat. Zu seiner propagandistischen Taktik gehört die systematische Desinformation der Bevölkerung durch die staatseigenen Medien und die Pervertierung der Sprache. So sind wir in den letzten Wochen Zeuge von Putins Reden geworden, in denen er seine Soldaten als „Friedenstruppen“ bezeichnet und die demokratisch gewählte ukrainische Regierung als faschistisch denunziert. Inzwischen ist es in Russland lebensgefährlich geworden, die Vokabel „Krieg“ für den Überfall auf die Ukraine in der Öffentlichkeit zu verwenden.
Uwe Blass (Gesprächvom 11.03.2022)
Gabriele Sander studierte Germanistik, allgemeine Sprachwissenschaft und Indogermanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und promovierte 1987. Danach arbeitete sie an verschiedenen literarischen Ausstellungen sowie sprach- und literaturwissenschaftlichen Projekten (u. a. kritische Werkausgaben von Kafka, Döblin und Böll) mit. Bis 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Bergischen Universität Wuppertal.