Tattoos – ein Hauch von Abenteuer
Prof. Katja Pfeiffer / Kunst
Foto: Sebastian Jarych

Tattoos - Ein Hauch von Abenteuer

Die Kunstprofessorin Katja Pfeiffer über die Geschichte der Tätowierung

Frau Pfeiffer, warum lassen sich Menschen tätowieren?

Pfeiffer: Ich bin keine ausgewiesene Tattoo Expertin, und mein Interesse gilt vor allem den Schnittstellen von Tätowierung und Kunst.
Die schlichte, aber unbefriedigende Antwort auf die Frage, warum sich Menschen tätowieren lassen, lautet: „Aus genauso vielen verschiedenen Gründen, wie es unterschiedliche Tattoos gibt.“ Das kann man schon aus der Beobachtung ableiten, wenn man sich die Bandbreite betroffener Körperstellen und die abwechslungsreiche Motivpalette ansieht. Es gibt sicher für jedes „Arschgeweih“ einen Auslöser, für Tränen am Augenrand gibt es berüchtigte Anlässe, für eintätowierte Namen und Geburtsdaten von Partner*innen und Kindern mag der Verewigungsaspekt auch von außen betrachtet, leicht nachvollziehbar sein.
Natürlich gibt es darüber hinaus Befragungen, nationale sowie internationale und nach Geschlechtern unterschiedene bzw. nach Motiven forschende Perspektiven auf die Tätowierung als Phänomen. Diese Studien fragen einerseits aus der Perspektive derer, die tätowiert sind, andererseits aber auch aus der Sicht der Betrachter*innen. Durch solche Untersuchungen wird den unterschiedlichen Motivationen nachgespürt und auch den Folgen im sozialen Umfeld. In Deutschland ist etwa jeder zehnte Mensch tätowiert und ca. 5% der Befragten sind irgendwann nicht mehr sehr glücklich darüber. Das kann dann auch sehr verschiedene Gründe haben. Etwa das Gefühl, nur noch langärmlig an der Arbeitsstelle erscheinen zu können, um nicht unangenehm aufzufallen oder den Namen einer längst vergangenen Liaison einer neuen Partnerschaft nicht stets präsent halten zu wollen.
Ich war bei der Recherche überrascht wie kleinteilig hier alles Erdenkliche untersucht wird bis hin zum Konsumverhalten und den Vorlieben für experimentelle Lebens- und Beziehungsmodelle, die angeblich bei Tätowierten etwas höher liegen als im Durchschnitt der Bevölkerung. Weiterhin haftet der Tätowierung also ein Hauch von Abenteuer an, selbst wenn es sich vielleicht nur um zwei Delfine im Bereich der Fußfessel handelt.

5200 Jahre alte Mumie im Britischen Museum, an der man eine Tätowierung gefunden hat
Foto: gemeinfrei

Tattoos haben eine lange Tradition. Die älteste je gefundene ägyptische Mumie eines Mannes befindet sich im britischen Museum. Sie ist über 5000 Jahre alt und erst jetzt hat man an ihm zwei Tiertätowierungen gefunden, also aus einer Zeit, in der nicht einmal die Hieroglyphenschrift voll ausgereift war. Der dargestellte Auerochse und das Mähnenschaf kannte man bereits aus der damaligen Kunst in Zusammenhang mit männlicher Potenz. Ist das visuelle Körperkunst in prähistorischer Zeit?

Pfeiffer: Es wäre meinerseits Spekulation diese Frage zu beantworten. Interessant finde ich den Ausstellungsort. Das Britische Museum ist voll von Gegenständen, deren Provenienz umstritten sind, da sie vielfach zusammengetragen wurden, als sich die Europäer auf ausschweifende Entdeckungsreisen begeben haben und in den entdeckten Regionen jeweils die irre Vorstellung hatten, einfach alles mitnehmen zu können, was sie dort vorgefunden haben. Hiermit überschneidet sich die Legende, dass es vor allem der Kontakt der Schiffsbesatzung von James Cook zu den entdeckten indigenen Völkern war, der in Europa zur Verbreitung erster Tätowierungen führte. Wie sowohl die Mumie des British Museums als auch der allen geläufige „Ötzi“ mit seinen Tätowierungen von ca. 3250 v.Chr. beweisen, gab es im europäischen Raum visuelle Körperkunst, aber auch schon weit vorher. Vermutlich gab es auch in solchen Zeiten schon verschiedene, teils sicher rituelle, Gründe, sie zu tragen. Im Fall von Ötzi wird diskutiert, dass die Strichbündel und kreuzförmigen Zeichen aus therapeutischen Gründen in die Haut eingebracht wurden und schmerzlindernd wirken sollten. Die entdeckten indigenen Völker betreffend, beschäftigten deren Tätowierungen bereits im 19. Jahrhundert die Forschungsarbeit vieler Anthropologen und Ethnologen. Interessant sind hier sicher die Erkenntnisse zu den Unterschieden im Körperverständnis. In der christlichen Tradition galt der Leib zunächst als unantastbar, seine dauerhafte Bemalung war nicht gestattet und führte zur „Entweihung“. Das hat sich aber geändert, als ausgerechnet Pilgerstätten und ihre Tätowierstuben zur Verbreitung und Anerkennung von Tätowierungen beitrugen. Es gibt inzwischen eine Reihe von spannenden Forschungsarbeiten, die solche Erkenntnisse in bemerkenswerter Ausführlichkeit zusammengetragen haben.

Tätowierungen galten lange Zeit als nicht gesellschaftsfähig, ihre Motive waren bis ins 18. Jahrhundert geprägt von Südseemotiven durch Matrosen, religiösen Zugehörigkeiten, Erinnerungs- und Identifikationszeichen oder Ausdruck politischer Ideologien. Sie fanden dann aber sowohl in der Literatur Europas Eingang, wie das Beispiel des ganzkörpertätowierten Südseeinsulaners Queequeg in dem Roman Moby Dick zeigt, als auch durch die japanische Kunst des 19. Jahrhunderts, beeinflusst von der Ukiyo-e-Kunst (der japanische Holzschnitt). Welchen Einfluss hatten sie dort?

Pfeiffer: Die Zugehörigkeit zur Seefahrt bestätigt auch die erste Tätowierung, die mir persönlich am nicht mehr lebenden Objekt begegnet ist. Das war ein Anker auf einem eingelegten Hautstück im anatomischen Museum des Ospedale di San Giacomo in Rom. Dieser Überrest einer Biografie hat mich sehr fasziniert und angerührt. 
Was die Südseeinsulaner in der kanonisierten Weltliteratur angeht, finde ich auch einen Blick auf die anderweitigen gesellschaftlichen Auswirkungen des Exotismus interessant. Ganzkörpertätowierte Menschen waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebte „Ausstellungsstücke“ auf Jahrmärkten. Und auch andere Gruppen von Menschen, die sich in irgendwelchen Merkmalen sichtbar von der durchschnittlichen Bevölkerung unterschieden, wurden auf solche Weise zu Objekten verwandelt und damit entmenschlicht.
Die Mechanismen mit denen wir Menschen auf Fremdheitserfahrungen reagieren, verweisen darauf, wie herausfordernd diese Aufgabe anscheinend ist und wie sehr sie uns mit unserer eigenen Identität bzw. Alterität konfrontiert. Der stete Wandel der Bewertung von Tätowierungen ist an dieser Stelle ein gutes Beispiel für mögliche Wahrnehmungsverschiebungen im Blick auf gesetzt erscheinende Bewertungsmaßstäbe. Bislang bleibt es aber lediglich eine Hoffnung, dass es eine Art Prozess der Zivilisation gibt, der schließlich dazu führt, dass Andersartigkeit erstmal mit Akzeptanz begegnet wird.

Tattoobeispiel von Jana Fischer

Mit der Befreiung aus der Schmuddelecke von Hafenkneipen, Knast und Motorradgangs haben Tattoos alles Anrüchige verloren und sind vom Modetrend inzwischen zur technisch hochentwickelten Kunstform geworden. Literarische Tattoos finden sich u.a. auch auf Lady Gagas Oberarm. Dort hat sich die Popdiva einen Auszug aus Rainer Maria Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ stechen lassen. Welche Botschaften transportieren Tätowierungen heute?

Pfeiffer: Die Frage schließt an die erste an, also an die Frage nach dem „Warum“. Tätowierungen betreffen mit ihrer Lokalisierung in der Haut die Grenze zwischen dem Innenleben und der Außenwelt, sie dienen als Mittler zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Die Haut kann sowohl als Hülle oder Maske, aber auch im übertragenen Sinne als “Synonym für das Ich” teilweise im wahrsten Sinne des Wortes „gelesen“ werden.
Im nord- und südamerikanischen Raum scheint das Ziel darin zu liegen sich für das jeweilige Geschlecht des Interesses attraktiver zu machen. Europäische oder Deutsche Menschen wollen laut Befragungen durch Tätowierungen besonders ihre Individualität und Einzigartigkeit herausstreichen.
Sieht man sich die Tätowierungen von herausragenden Studios an, dann können hier Werke entstehen, die dazu geeignet sind, sowohl in Schrift- als auch in Bildform die Einzigartigkeit der Persönlichkeit des tätowierten Menschen abzubilden oder zu unterstreichen. Die Bildfindung durchläuft dort einen langen individuellen Prozess. Der variantenreiche Inhalt der Botschaften hängt laut Untersuchungen sehr vom Alter derer ab, die ihre Haut bebildern. Wenn dies im Übergang zum Erwachsenwerden geschieht markiert die Tätowierung häufig genau diese Schwelle und hat etwas mit Identitätsfindung zu tun. Auch im späteren Verlauf des Lebens können Tätowierungen auf bemerkenswerte Übergangsphasen hinweisen.

Tattoobeispiel von Jana Fischer

Das englische Wort Tattoo kommt von dem tahitianischen Begriff „te tatau“ und bedeutet „richtig, kunstgerecht“. In den letzten Jahren hat sich das Tätowieren gesellschaftlich etabliert, Tattoostudios boomen und auch die Motive und Themen haben sich verändert. Kunst am Körper kennen wir bereits durch die Ganzkörperbemalung. Welchen Stellenwert hat die Tattookunst heute?

Pfeiffer: Bei dieser Überlegung finde ich die Anschlussfrage wichtig über wessen Tattookunst man nachdenkt. Ein Freibadbesuch mag dazu verleiten, sich die Frage generell zu stellen. Ich selber habe mich mit dem Phänomen der Tätowierung ab dem Zeitpunkt mehr beschäftigt, als bei uns im Fach Kunst eine Tätowiermaschine auftauchte und sich die Kunststudierenden gegenseitig oder eigenhändig tätowiert haben. Das haben natürlich nicht alle gemacht und es war nicht Teil der Praxisseminare, aber ich war völlig fasziniert. Zum einen, weil die Qualität der Zeichnungen in einer Fakultät für Design und Kunst naturgemäß ziemlich hoch ist, zum anderen aber auch, weil es sich in der Regel nicht um riesige vollflächige Bilder gehandelt hat, sondern um kleine emblemartige Skizzen. Die Botschaften erschließen sich Außenstehenden nicht zwangsläufig. Warum sollte man sich einen Tetrapack tätowieren? Einen einzelnen Zahn? Ich weiß das in vielen Fällen auch nicht. Interessant an diesem Phänomen ist jedoch, dass die Zeichnung auf dem eigenen Körper zu den unmittelbarsten zeichnerischen Aneignungen gehört und es darüber hinaus in der Regel nicht bei einem Bild geblieben ist. Der Körper wird zum Skizzenbuch und trägt ab jetzt für immer die Erinnerung an unsere Fakultät und das Kunststudium an der Bergischen Universität mit sich. Das fand ich natürlich sehr schön, wobei ich es mit der Hoffnung verknüpfe, dass es sich mehrheitlich um schöne Erinnerungen handelt und nicht zu viele nachher zum Laser greifen müssen. Wir haben die Welle dieser Körperbilder jedenfalls zum Anlass genommen, eine ganze Serie von Einladungskarten damit zu gestalten.

Tattoobeispiel von Jana Fischer

Der Tätowierer wird zum „Tattoo Artist“, der Vorstadtladen zum „Studio“, die Bilder in der Haut werden modisch und zur Sammelleidenschaft. In der Gegenwart lassen sich Individuen verschiedenster sozialer und kultureller Herkunft sowie unterschiedlichsten Alters aus unterschiedlichsten Motivationen tätowieren. Welchen Einfluss hat diese Art von Kunst auf die Entwicklung unserer Gesellschaft?

Pfeiffer: Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, der Tätowierung eine gesellschaftsverändernde Kraft zuzuschreiben. Es gibt jedoch Kunstwerke, die das Medium Tattoo involvieren, denen ich eine weitreichende Wirkung zuschreiben würde. Künstler*innen haben teils, wie die Studierenden, Tätowierungen und andere Eingriffe am eigenen Körper vollzogen. Aber es gibt auch Arbeiten, die Zeichnungen auf Fremdkörpern darstellen. Ein sehr drastisches Beispiel ist die Arbeit „8-Foot Line Tattooed on Sic Remunerated People“ aus dem Jahr 1999. Der spanische Künstler Santiago Sierra bot für die Erstellung des Werks Freiwilligen in Havanna eine Entlohnung von 30 US Dollar an, wenn sie sich eine horizontale Linie auf den Rücken tätowieren ließen. Um das Ergebnis als ästhetisches Phänomen ging es dabei natürlich nicht. Vielmehr fragt die Arbeit nach gesellschaftspolitischen Rollen. Es geht um den Akt eines Menschen, den eigenen Körper gegen Entlohnung zur Verfügung zu stellen und sei es für ein bleibendes Mal auf der Haut. Wenn man das weiterdenkt, kommt man schlussendlich zu Fragen an das gesamte Wertegefüge einer Gesellschaft, denn gerade Linien auf dem Rücken sind bei weitem nicht das schlimmste, was manche Lohnerwerbsarbeiten auf Körpern an Spuren hinterlassen. 
Ein anderer Künstler, Wim Delvoye, ist ebenfalls sehr weit gegangen in seinen Arbeiten, indem er Hausschweine zum Träger seiner Tätowierungen gemacht hat. Den (ausgestopften) Ferkelkörper von „Louise“ hat er etwa mit dem bekannten Handtaschenornament von Louis-Vuitton-Taschen verziert. Die Fragen zum Markenfetisch, die hier aufgeworfen werden, weisen auch weit über die üblichen Körperbemalungen hinaus.

Würden Sie sich ein Tattoo stechen lassen?

Pfeiffer: Tatsächlich denke ich immer mal darüber nach, was ich mir für ein Tattoo stechen lassen würde. Gar nicht um zur Tat zu schreiten, sondern um über die Haltbarkeit von Motiven nachzudenken. Ich finde den Gedanken an die Finalität einer solchen Entscheidung spannend. Es sei denn, man entscheidet sich immer weiter zu machen. Aber selbst dann ist irgendwann die zur Verfügung stehende eigene Hautfläche belegt, und es gibt keine zweite Seite. Ich überlege dann, was mir zum jetzigen Zeitpunkt so viel bedeuten würde, dass ich es mir für meine restliche Lebensspanne anschauen möchte. Bislang ist mir nichts begegnet, das diesem Anspruch standgehalten hätte. Ich will mir einfach zu viele verschiedene Bilder anschauen.
Mein Mann meinte, er würde sich möglicherweise tätowieren lassen, dass er kein Marzipan mag und eine Allergie gegen Rotbarsch hat… damit er das später nicht von irgendwelchen Altenpfleger*innen in den Mund geschoben bekommt, wenn er es selber nicht mehr sagen kann. Darüber habe ich sehr gelacht.

Uwe Blass

Katja Pfeiffer, Jahrgang 1973, absolvierte ein Lehramtsstudium in Kunst und Erziehungswissenschaften an der Kunstakademie Düsseldorf in den Klassen Günther Uecker, Alfonso Hüppi und Jan Dibbets sowie ein Lehramtsstudium der Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität. Sie war Meisterschülerin bei Alfonso Hüppi. Seit 2006 ist sie Professorin für Kunst mit dem Schwerpunkt künstlerische Praxis an der Bergischen Universität Wuppertal.

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