Die stigmatisierte Mystikerin
Dr. Astrid Albert / Geschichte
Foto: UniService Third Mission

Eine Provokation für die moderne Gesellschaft

Astrid Albert über die Mystikerin Anna Katharina Emmerick, die im 19. Jahrhundert mit ihren Visionen Staat und Kirche beschäftigte

Eine kränkelnde Frau des 19. Jahrhunderts fasziniert mit ihren Visionen bis heute Millionen Menschen weltweit. Durch Filme, Ausstellungen und Seligsprechung bekannt, beschäftigte die Dülmenerin Anna Katharina Emmerick zu Lebzeiten bereits Regierungsmitarbeiter und Kirchenmänner. Die Wuppertaler Historikerin Astrid Albert hat sich mit dem Leben und Leiden der ehemaligen Nonne und deren gesellschaftlicher Bedeutung beschäftigt.

Anna Katharina Emmerick

Wer Anna Katharina Emmerick wirklich war, lasse sich nur schwer beantworten, beginnt die Historikerin und sagt: „Was wir gesichert wissen, ist, dass sie 1774 in eine kleinbäuerliche Familie in Coesfeld in Westfalen geboren wurde. Sie hat dann einige Jahre im Kloster Agnetenberg in Dülmen gelebt, bevor das Kloster 1812 von den Franzosen säkularisiert wurde. Ab 1813 – sie war inzwischen 38 Jahre alt - lebte sie als Haushälterin eines Geistlichen in Dülmen. In diese Zeit fallen dann die ersten Gerüchte, denen zufolge sie stigmatisiert (mit den Wunden Jesu Christi gezeichnet, Anm. d. Red.) worden sei.“ Es hieß, sie weise die 5 Wundmale Christi auf, ernähre sich nur von der Hostie und habe Visionen über das Leben und Sterben Christi. Emmerick selber habe keine Quellen hinterlassen, erklärt Albert, höchstwahrscheinlich konnte sie nicht einmal lesen. Aber ihre Geschichte sorgte zwischen 1813 und 1824 für besondere publizistische Aufmerksamkeit. „Das ist die erste wichtige Information über Anna Katharina Emmerick“, betont die Wissenschaftlerin, „wir sehen nicht die historische Person, sondern wir sehen, wie sie von ihrer Umwelt wahrgenommen wurde.“ Emmerick sei ein Phänomen ihrer Zeit und durch ihre Wunden ein Objekt der zeitgenössischen Diskussion.

Zeitgenössischen Diskussion um die Deutung der Stigmata

Astrid Albert hat über die ehemalige Nonne ein Buch geschrieben, in dem sie der damaligen Auseinandersetzung um die Deutung der Stigmata nachgeht. Der Fall Emmerick hatte für großen Wirbel in der Gesellschaft gesorgt. „Der Fall war überall“, stellt die Forscherin unmissverständlich klar und erklärt, „da waren zum einen die vielen Menschen, die nach Dülmen reisten, um Anna Katharina Emmerick mit eigenen Augen zu sehen. Viele erzählten danach in Briefen ihren Bekannten von dem, was sie in Dülmen gesehen hatten, und auch die Mundpropaganda, die natürlich nur indirekte Spuren in den Quellen hinterlassen hat, war massiv: Menschen redeten über den Fall von der Dorfkneipe bis hin zu katholisch- romantischen Zirkeln, wie dem Kreis von Münster um die Fürstin Amalie von Gallitzin.“ Auf der anderen Seite habe es eine breite publizistische Auseinandersetzung um die Wunden in der Presselandschaft bis hin zu medizinischen Fachkreisen und Fachzeitschriften, mit unterschiedlichen Lesarten und Erklärungen, gegeben. „Da waren zum einen diejenigen, die davon ausgingen, dass die Wunden tatsächlich Stigmata seien, und dass sich Gott hier im Leben einer sehr gläubigen Frau manifestiere. Dem gegenüber standen diejenigen, die von einem natürlichen Ursprung ausgingen: Entweder sei die Frau eine Betrügerin, die aus den selbsthergestellten Wunden profitieren wollte, oder die Frau sei eine Kranke, deren hysterische Imagination sich in den Körper einpräge.“

Der preußische Staat greift ein

„Diese Diskussionen um den Ursprung der Wunden wurden schließlich von Amsterdam bis nach Leipzig geführt, und wir können in den Quellen nachverfolgen, dass es insbesondere diese überregionale publizistische Auseinandersetzung war, die dazu führte, dass schließlich der preußische Staat aktiv wurde.“ Als der Fall auf der Leipziger Buchmesse 1817 diskutiert wurde, nahm die Berliner Regierung dies zum Anlass, die westfälische Provinzialverwaltung unter Oberpräsident Ludwig von Vincke zu Handlungen aufzufordern. Das bedeutete, er sollte einen möglichen Betrug offiziell ermitteln lassen, weil man die öffentliche Ordnung bedroht sah. Das wiederum nahm die Presse freudig zum Anlass, weiter über den Fall zu berichten.

Kirche oder Staat – wer war zuständig?

„Der Fall um die Wunden fiel in eine Zeit der Unsicherheit und des Übergangs in Westfalen“, erklärt Albert. „Als Emmerick 1774 geboren wurde, lag Dülmen noch im katholischen Konfessionsstaat des Fürstbischofs von Münster. Der wiederum stammte meist aus dem europäischen Hochadel und war nicht nur geistliches Oberhaupt über sein Bistum, sondern auch weltlicher Herr über seine Untertanen. Alle Belange des Lebens, ob nun Taufe oder Schulbesuch der Kinder, die zu zahlenden Steuern, der Rechtsstreit mit dem Nachbarn, der Militärdienst der Männer oder die Bestattung der Toten, wurde in Münster durch das Bistum geregelt und verwaltet. Weltliche und geistliche Herrschaft lagen in einer Hand.“ Doch als die ehemalige Nonne 1824 starb, hatte sich die Lage geändert. „Durch die napoleonischen Kriege angestoßen, wurde das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1806 aufgelöst. Damit gab es nicht nur das Reich nicht mehr, sondern auch die Reichskirche, die sogenannte Germania Sacra, hörte auf zu existieren.“ Dülmen und die Untertanen des katholischen Fürstbischofs von Münster wurden zu Untertanen des preußischen Königs. Zwar blieb die Zuständigkeit des Bistums als geistliche Institution für das katholische Leben in Münster bestehen, doch die Grenzen zwischen einem geistlichen und einem staatlich/weltlichen Leben waren nicht geklärt.
„In diese massive Umbruchsphase fielen nun die Wunden Anna Katharina Emmericks. Und auch bei den Wunden war nicht klar, wer die Zuständigkeit über den Fall haben sollte“, schildert Albert weiter. Es ging also konkret darum, wer das Recht habe, eine Frau, die zusätzlich noch eine ehemalige Nonne war, zu untersuchen. Sowohl das Bistum als auch der preußische Staat beanspruchten die Deutungshoheit über den Fall für sich. „Dabei verhandelten sie allerdings nicht nur die jeweilige Deutungshoheit über die Frau und ihre Wunden, sondern stritten auch darum, wo die neu zu ziehenden Grenzen zwischen Staat und Kirche verlaufen sollten. Damit fielen die Diskussionen um die Wunden nicht nur in eine Zeit des Umbruchs, sie waren wiederum selbst Ausdruck eben jenes Wandels.“

Clemens Brentano, gemalt von Emilie Linder (1837)
Foto: gemeinfrei

Clemens Brentano und die Visionen der Anna Katharina Emmerick

Der Schriftsteller Clemens Brentano hörte 1818 von den Wunden der Dülmenerin. „Zu jener Zeit befand sich der junge Romantiker selbst in einer Sinnkrise und suchte neue Stoffe, neue Inhalte, die er literarisch verarbeiten konnte“, sagt Albert. „Da boten sich diese Wunden in ihrer Ambiguität an, um Fragen der Zeit, wie die Fragen nach dem Wesen der Welt, des Menschen und auch Gott, zu verarbeiten. Brentano suchte dabei nach einer vermeintlich guten alten Zeit, in der ein Katholizismus und eine patriarchische Gesellschaft noch das Leben der Menschen bestimmten.“ In Dülmen fand er in dem Fall Emmerick für sich eine neue sinnstiftende Aufgabe und saß fortan sechs Jahre an ihrem Krankenbett, um ihre Visionen aufzuschreiben. Dies tat er allerdings nicht als reiner Protokollant. Dazu Albert: „Aus Brentanos Sicht boten die Aussagen und das Leben der Anna Katharina Emmerick lediglich den Steinbruch, denn die Aufgabe des Dichters sah er darin, das Geoffenbarte erst aus dem Rohmaterial der Visionen zu extrahieren und zu formen.“ In seinem Selbstverständnis habe sich der Autor nicht nur als autorisierter Sekretär der Visionen gesehen, sondern vielmehr als Übersetzer der göttlichen Botschaft und zog weitere literarische, biblische und christlich-ikonographische Quellen hinzu, um ein neues Ganzes zu schaffen. „Brentano wollte ein siebenbändiges Weltepos erschaffen, wobei drei Bände dem Leben und Sterben Jesu gewidmet werden sollten und vier dem Leben Anna Katharina Emmericks. An diesem Epos saß Brentano dann von 1824 bis zu seinem Tod 1842.“  Zu seinen Lebzeiten erschien dann lediglich der erste Band, weitere Bände wurden posthum von anderen Autoren fertiggestellt. Brentanos Schriften geben dem heutigen Leser zwar einen Eindruck in das katholisch-romantische, das gesellschaftliche und politische Programm jener Zeit, als Quelle über die historische Person Anna Katharina Emmerick taugten sie allerdings nicht, da sie die tatsächlichen Aussagen verfremden.

Eine gesichtswahrende Lösung, die nicht umgesetzt wurde

Preußische Kommissare untersuchten Emmerick drei Wochen lang und waren sich abschließend einig, dass es sich bei ihr um Betrug handele. „So schrieben sie in ihrem Abschlussbericht, dass sie genügend Indizien für einen Betrug gefunden hätten Die Frau esse wieder feste Nahrung, die Wunden seien nun verheilt und auch von Visionen habe die Kommission nichts feststellen können“, bestätigt Albert, allerdings blieb die Kommission einen Beweis schuldig und der schwarze Peter ging an das Berliner Innenministerium zurück, welches entscheiden sollte, wie mit der Frau zu verfahren sei. „Der westfälische Oberpräsident Ludwig von Vincke schlug deshalb eine Lösung vor, durch die alle beteiligten Parteien ihr Gesicht wahren konnten. Er riet dem Innenministerium dazu, Emmerick als Kranke in die Obhut der Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria in Münster zu geben. Mit diesem Schachzug wäre sie der Öffentlichkeit entzogen, die öffentliche Ordnung, die die Berliner Regierung durch die Ereignisse bedroht sah, wiederhergestellt, und die fraglichen Wunden zugleich als medizinisches Problem behandelt worden. Gegen dieses Arrangement hätten wohl weder sein kirchlicher Antagonist Clemens August Droste zu Vischering, der Stifter des Ordens war, noch Anna Katharina Emmerick ernsthaft Einwände erheben können. Aber die Berliner Regierung blieb tatenlos.“ Die staatliche Untersuchung schloss ohne ein greifbares Resultat.

Anna Katharina Emmerick auf dem Krankenbett, Zeichnung von Clemens Brentano (vor 1824)
Foto: CC BY-SA 4.0

Säkularisierungsbestrebungen der Medizin

Im 19. und 20. Jahrhundert tauchen hundertfach Berichte von Menschen auf, die ständig oder zeitweise die Wundmale Christi an ihrem Körper tragen; an Händen, Füßen, Brust und Kopf. Oft sind es junge Frauen wie Anna Katharina Emmerick, die bayerische Seherin Therese Neumann von Konnersreuth (1898-1962) oder die französische Mystikerin Marthe Robin (1902-1981). Über ihre Stigmata gerieten auch die Ärzte zu unterschiedlichen Einschätzungen, was den Sachverhalt nicht einfacher machte. „Das 19. Jahrhundert ist eine Zeit, in der wir vermehrt das Phänomen der auffälligen Religiosität beobachten können“, erklärt die Wissenschaftlerin, „Zum einen fanden die Phänomene auf der Bühne einer publizistischen Öffentlichkeit statt, das heißt, die Fälle erregten große Aufmerksamkeit, zum anderen können wir hier auch Professionalisierungsbestrebungen einer wissenschaftlichen Disziplin beobachten, denn Mediziner nutzten solche Fälle von auffälliger Religiosität, um die Handlungsspielräume von Theologie und Medizin zu diskutieren und solche Fälle als eindeutig pathologisch zu markieren, um so die Deutungshoheit über solche Phänomene für die Medizin zu sichern.“ Damit sollten auch die traditionellen Entscheidungsträger in solchen Fällen, nämlich Kirchenmänner, ausgeschlossen werden. Es standen nun konkurrierende Deutungsangebote zur Verfügung. Dazu Albert: „Zum Beispiel wurden somatische Erklärungen wie eine vikariierende Menstruation, in der der Monatsfluss eben an Händen und Füßen seinen Ausgang finde, herangezogen, aber auch psychosomatische wie eine Hysterie, eine übermäßige Identifikation mit Christus, oder eine übermäßige Imagination, die zu den Wunden führe. All diesen Erklärungen gemein ist, dass sie eine göttliche Intervention ausschließen und die Phänomene auf ihre Materialität hin untersuchen und damit säkularisieren.“ All diese Säkularisierungsbestrebungen der Mediziner lieferten jedoch keine medizinische Evidenz für ihre Wundursachentheorien, so dass solche Wunden auch weiterhin als Stigmata bezeichnet werden und auch weiterhin von Klerikern untersucht und verhandelt werden können.

Emmerick-Gemälde von Gabriel von Max
Foto: gemeinfrei


Seligsprechung 2004

2004 wurde Anna Katharina Emmerick von der Katholischen Kirche seliggesprochen. In der Begründung distanzierte sich die Katholische Kirche aber ausdrücklich von den Schriften Brentanos. „Tatsächlich ist der erste Seligsprechungsprozess zu Beginn des 20. Jahrhunderts eben wegen dieser Brentano-Schriften gescheitert, denn in einem Kanonisationsprozess gilt es zu klären, ob die Person als heilig gelten kann, also unter anderem, ob ihre Aussagen der katholischen Orthodoxie entsprechen und ob sie ein heiligenmäßiges Leben geführt hat. Dahingehend prüfte man auch die Aussagen Anna Katharina Emmericks, wofür die Emmerick-Schriften Brentanos dabei die wichtigste Quelle darstellten. Diese entsprachen dabei mitnichten der katholischen Orthodoxie und manche Aussagen widersprachen der offiziellen Lehre der katholischen Kirche. Deshalb musste der Beatifikationsprozess zunächst ruhen – denn man hatte kaum andere Quellen über Anna Katharina Emmerick zur Verfügung.“ Die Ritenkongregation ließ die Brentano-Schriften auf ihre Urheberschaft hin analysieren und kam zu dem Schluss, dass die Schriften keine authentischen Emmerick-Schriften seien, in denen die ehemalige Nonne zu Wort komme. Sie seien eine literarische Verarbeitung eines mitunter auch politischen Programms des romantischen Dichters, der sich damit auch selbst ein Denkmal setzten wolle. Damit wurden Brentanos Schriften, in denen sein wichtigstes Anliegen es war, Anna Katharina Emmerick als Mystikerin und Heilige bekannt zu machen, zum größten Hemmschuh. „Der Augustiner Winfried Hümpfner sammelte daraufhin so viele Quellen wie möglich aus dem Umfeld Anna Katharina Emmericks und edierte sie für die Heiligsprechung. Nachdem nun genügend Quellen gesammelt worden waren, konnte Anna Katharina Emmerick seliggesprochen werden.“ Für eine weitere Heiligsprechung fehlt augenblicklich noch ein weiteres Wunder.

Von Dülmen nach Hollywood

Die Faszination am Leben und den Visionen dieser Frau haben sogar zu einem Hollywood-Film geführt. „2004 kam der Film die Passion Christi ins Kino. Dabei nutzte der Produzent und Regisseur Mel Gibson das Bittere Leiden, also das einzige fertiggestellte Emmerick-Werk Brentanos als Grundlage, um die Geschichte für die große Leinwand zu produzieren. Gibson nutzte darüber hinaus Malereien von Caravaggio und eine italienische Matthäus-Evangelium-Verfilmung von Pasolini von 1964, um der Schrift Brentanos eine bekannte, traditionelle Bildsprache beizustellen, die half, das literarische Werk auf die große Leinwand zu übersetzen.“ Im Unterschied zu Brentanos Schiften werden allerdings im Film Gewaltdarstellungen gezeigt, die es so im Buch nicht gebe. „Hier werden Schmerzen in einen Schuld-Sühne-Kontext eingebettet. Die individuelle Marter wird als Sühne für eine davor entstandene Schuld gewertet, die durch das Leiden abgegolten wird. Der Körper ist ein Ort der Metamorphose, an dem Sünde durch körperliches Leiden in Sühne verwandelt wird.  Damit wird der Sündenfall der Menschen gesühnt, Satisfaktion für die Sünden der Menschen geschaffen und die Bedeutung Christi für die Menschheit hervorgehoben. Dies nutzt der Film als Basis, um es dann mit den expliziten Folterszenen in Szene zu setzen.“ Der Film habe ein sehr gespaltenes Echo hervorgerufen und folge damit einer Tradition, wenn es um die Emmerick-Schriften Brentanos bzw. die ursprünglichen Wunden Anna Katharina Emmericks gehe.

Eine Provokation für die moderne Gesellschaft

An ihrem 250. Geburtstag, am 9. September 2024 sagte Bischof Felix Genn auf einem Gottesdienst in Coesfeld über Emmerick, sie sei „eine Provokation für die moderne Gesellschaft“. Hier spiele der Bischof auf eine postulierte Dichotomie (Zweispaltung) zwischen Glauben und Modernität an, sagt Albert. „Wer modern ist, kann zum Beispiel nicht an Wunder glauben. Glaube gilt als unmodern, denn Glaube widerspreche den modernen Grundsätzen von Rationalität, Fortschritt und Vernunft, und diese scheint Anna Katharina Emmerick auf den ersten Blick zu unterwandern.“ Der Fall wirft die Frage danach auf, was als modern, rational und vernünftig gelten könne und sei damit kein Rückzugsgefecht einer konservativen Kirche und ihrer Logiken, sondern der Kampf einer Vorhut für die weiteren Diskussionen um Vernunft, Rationalität, Glaube und Katholizismus sowie dem Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert. „In Dülmen traten neue Männer, neue Experten und neue Katholiken auf, die den Fall nutzten, um die eigene Position zu stärken und Argumente, Strategien und Mittel in neuen Öffentlichkeiten zu erproben.“ Das sei letztlich auch das Spannende, das Aktuelle und das Bleibende an dem Fall in Dülmen, erklärt Albert abschließend. Er sei hochgradig uneindeutig, er bleibe ungelöst, und damit bleibe es auch jedem und jeder einzelnen anheimgestellt, eine eigene Antwort auf die Gretchenfrage zu finden, die der Fall aufwerfe. „Der Fall Anna Katharina Emmerick ist Ausdruck und Faktor von Modernisierungsprozessen in Staat und Kirche gleichermaßen. Der Wunderglaube ist nicht irrationaler als der Glaube an die medizinische Evidenz. Sie schließen sich aber gegenseitig aus.“

Buchtipp: Astrid Albert: Wem gehören diese Wunden, Die Deutung Anna Katharina Emmericks im Spannungsfeld von Bistumsleitung, preußischer Provinzialregierung, Medizin und Romantik (1813-1852), Aschendorf-Verlag 2022

Uwe Blass

Dr. Astrid Albert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Sie studierte Geschichte und Anglistik/Amerikanistik an der Bergischen Universität Wuppertal und der University of Stirling (Schottland).