Erkenntnisse aus der Psychologie
Was tun mit extremen Einstellungen, Herr Winter?
Herr Winter, wann haben Sie das letzte Mal bewusst Ihre Meinung geändert?
Haha, die Frage finde ich gar nicht so leicht zu beantworten. Wir ändern im Alltag ja ständig unsere Meinung und sind vielen Einflussversuchen ausgesetzt. Das betrifft häufig Kleinigkeiten und läuft nicht unbedingt bewusst ab. Ein Beispiel für eine bewusste Einstellungsänderung, das ich nennen kann, liegt schon eine Weile zurück. Damals habe ich mit meiner Frau, die schon lange Vegetarierin war, häufig über das Thema Fleischkonsum diskutiert und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich keine guten Argumente dafür parat hatte, warum man Tiere essen sollte. So habe ich bewusst meine Einstellung zum Thema Fleischkonsum geändert – bis zur tatsächlichen Verhaltensänderung hat es dann noch eine Weile gedauert.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich ja vor allem mit extremen Einstellungen von Menschen im Kontext öffentlicher Debatten. Hitzig diskutierte Themen gibt es aktuell viele: Nachhaltigkeit und Klima, gendergerechte Sprache, Migration und Integration, Kriegsgeschehen. Ab wann gilt für Sie eine Meinung denn eigentlich als extrem?
In unserer Forschung erfassen wir Meinungen – wir sprechen eher von Einstellungen – auf einem Kontinuum. Das heißt, wir bitten unsere Studienteilnehmenden Aussagen zu den uns interessierenden Themen mit einem gewissen Grad an Zustimmung oder Ablehnung zu bewerten. Wenn Menschen eine Aussage sehr stark ablehnen oder ihr sehr stark zustimmen, würden wir von einer extremen Einstellung sprechen. Das an einem konkreten Wert festzumachen, ist allerdings schwierig. Solche extremen Einstellungen können ein Bestandteil von politischer oder gesellschaftlicher Polarisierung sein – also wenn wir beobachten, dass es Themen gibt, bei denen sehr viele Menschen entweder starke Ablehnung oder starke Zustimmung empfinden.
Gibt es für Sie denn so etwas wie eine aktuelle Diskussionskultur und wenn ja, nehmen Sie diese anders wahr als sagen wir vor fünf bis zehn Jahren?
Die psychologische Forschung beschäftigt sich schon seit langem mit dem Phänomen, dass Menschen Argumente ablehnen, die ihrer Meinung widersprechen, und sich gezielt Argumente aussuchen, die ihre eigene Meinung unterstützen. Diese Form von Bestätigung, wir sagen konfirmatorische Tendenzen, die – glaube ich – viele in aktuellen Diskussionen wahrnehmen, sind also nicht neu. Was sich natürlich verändert hat, ist die stärkere Verbreitung von sozialen Medien, über die Diskussionen öffentlich ausgetragen werden. Die Forschung zeigt, dass konfirmatorische Tendenzen in sozialen Medien beispielsweise maßgeblich zur Verbreitung von Falschinformationen beitragen. Ein weiterer Faktor sind Algorithmen, die dafür sorgen, dass uns häufiger Inhalte präsentiert werden, die unseren Präferenzen entsprechen. Das kann zu einer stärkeren Polarisierung von Einstellungen führen. Was die heutigen Debatten aber möglicherweise von früheren unterscheidet, ist, dass sie häufig sehr stark emotionalisiert sind. Themen wie Migration oder gendergerechte Sprache betreffen unsere persönlichen Werte, Klimawandel, Krieg und Pandemien stellen eine existenzielle Bedrohung dar. Unter solchen Bedingungen neigen Menschen eher dazu, ihre eigene Meinung verteidigen zu wollen und sind weniger offen für andere Sichtweisen.
Die Europawahl liegt gerade hinter uns, der vorangegangene Wahlkampf hat unter anderem mit der Gewaltattacke auf einen Kandidaten in Dresden gezeigt, wohin extreme Einstellungen bei bestimmten Themen führen können. Einige Themen und ihre Debatten haben Sie aus Forschungsgründen auf dem Radar: Ist es so, dass es öffentlich häufig nur noch um Schwarz oder Weiß geht und die Balance von unterschiedlichen Meinungen zu kurz kommt?
Generell würde ich davor warnen, das Ausmaß an Polarisierung in unserer Gesellschaft zu überschätzen. Aktuelle Studien zeigen, dass Deutschland diesbezüglich im Vergleich zu anderen Ländern – zum Beispiel den USA – recht gut dasteht. Häufig sind es aber tatsächlich die extremen Meinungen, die sowohl in der Medienberichterstattung als auch in öffentlichen Diskursen – zum Beispiel über soziale Medien – sehr laut und sichtbar sind. Es gibt bei vielen der genannten Themen jedoch auch einen großen Teil der Bevölkerung, der sich irgendwo zwischen den Extremen verortet. Diese – oft größere – Gruppe sollten wir nicht aus dem Blick verlieren. Das heißt nicht, dass wir die Gefahr, die von extremen Einstellungen ausgeht, herunterspielen sollten. Im Gegenteil: Aus dem von Ihnen genannten Beispiel wird klar, dass extreme Einstellungen unter Umständen auch zu extremem und teils gewalttätigem Verhalten führen können. Daher interessieren wir uns in unserer Forschung dafür, wie extreme Einstellungen abgeschwächt werden können, um solchen Entwicklungen entgegenzutreten.
Lassen Sie uns da etwas genauer einsteigen. Warum ist es so wichtig, dem aktiv entgegenzuwirken?
Wie bereits dargestellt, können extreme Einstellungen zu extremen Verhaltensweisen führen. Aber selbst, wenn es nicht so weit kommt, können extreme Einstellungen einen konstruktiven Diskurs und somit auch das erfolgreiche Meistern gesellschaftlicher Herausforderungen behindern. Natürlich gehören Meinungsunterschiede zu unserer Demokratie und es ist gut, dass diese in unserer Gesellschaft frei geäußert werden dürfen. Problematisch wird es eben, wenn andere Meinungen aus Prinzip abgelehnt und diskreditiert werden. Denn das schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. An der Stelle ist es aber wichtig, zwischen Meinungen und Fakten zu unterscheiden. Ob wir Fleischkonsum für moralisch richtig oder falsch halten oder ob wir gendergerechte Sprache für sinnvoll erachten oder nicht, darüber kann es prinzipiell unterschiedliche Ansichten geben, die es zu respektieren gilt. Darüber, dass der Klimawandel menschengemacht ist oder dass COVID-19 eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung ist, herrscht wissenschaftliche Einigkeit. In der Tendenz, wissenschaftliche Fakten als nur eine weitere Meinung zu betrachten, sehe ich eine große Gefahr. Denn dann wird es schwierig, überhaupt einen gemeinsamen Nenner zu finden, auf dessen Basis man diskutieren kann.
Erst vor kurzem haben Sie einen neuen Artikel veröffentlicht, in dem Sie beleuchten, wie man extreme Einstellungen entschärfen kann. Was genau haben Sie herausgefunden und wie kann uns das im Alltag helfen?
In unserer Forschung haben wir Bedingungen untersucht, unter denen Menschen von extremen Meinungen abrücken und einen moderateren Standpunkt einnehmen. Wir konnten zeigen, dass es hilfreich sein kann, sich widersprechende Gedanken auszulösen – wir sprechen hier von intraindividuellen Konflikten. Solche gedanklichen Konflikte treten beispielsweise auf, wenn wir an schwer vereinbare persönliche Ziele denken. Wenn wir zum Beispiel überlegen, mit welchem Verkehrsmittel wir in den Urlaub fahren, kann unser Ziel, die Umwelt zu schützen, mit dem Ziel in Konflikt stehen, möglichst schnell an unserem Reiseziel anzukommen. Solche Gedanken treten im Alltag relativ häufig auf natürliche Weise auf. Wir haben uns aber vor allem dafür interessiert, was passiert, wenn solche Gedanken gezielt ausgelöst werden, zum Beispiel durch die Verwendung bestimmter rhetorischer Mittel. Ein Mittel, das in unseren Studien zu moderateren Einstellungen führte, waren rhetorische Fragen, die dazu anregen, einen von der Realität abweichenden Verlauf von Ereignissen durchzuspielen – „Was wäre gewesen, wenn…“.
Andere Forschende konnten zeigen, dass sogenannte paradoxe Leifragen, welche im Kern der Meinung des Gegenübers entsprechen, diese aber ins Extreme übersteigern, ebenfalls zu einer Abkehr von extremen Einstellungen führen kann. So führten Fragen wie „Warum glauben Sie, dass in Deutschland bald kein Weihnachten mehr gefeiert wird wegen der großen Anzahl muslimischer Geflüchteter?“ zu einer Verringerung fremdenfeindlicher Einstellungen. Solche rhetorischen Mittel lassen sich gezielt in politischer Kommunikation, aber auch in alltäglichen Gesprächen einsetzen. Diese rhetorischen Mittel sind auch deshalb vielversprechend, weil sie relativ subtil sind und es sich nicht um einen direkten Beeinflussungsversuch handelt.
Apropos Handlungsmöglichkeiten: In einer aktuellen Veranstaltungsreihe von Germanwatch in Kooperation mit dem Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit der Bergischen Uni (siehe Infobox) gehen Sie mit Kolleg*innen der Frage nach, wie uns als Gesellschaft die Nachhaltigkeitswende gelingen kann. Die These: Technisch ist vieles möglich, bei der Umsetzung dieser Ansätze stoßen viele jedoch auf Hindernisse sozialer und psychologischer Art. Welche, durch Ihre Forschung belegten, Hindernisse sehen Sie und welche Möglichkeiten der Überwindung kennen wir bereits?
In unserer eigenen Forschung haben wir bisher hauptsächlich untersucht, inwiefern der Glaube an Verschwörungstheorien ein Hindernis für die Nachhaltigkeitstransformation darstellt – konkret im Kontext des Ausbaus der Windenergie. Dabei wird in der psychologischen Forschung in der Regel zwischen dem Glauben an eine spezifische Verschwörungstheorie – zum Beispiel über die scheinbaren Motive hinter dem Ausbau der Windenergie – und einer Verschwörungsmentalität unterschieden. Letzteres bezeichnet die generelle Neigung, Verschwörungen mächtiger Personen als Erklärung hinter gesellschaftlichen Ereignissen zu vermuten.
Unsere Studien zeigen, dass beides – sowohl der Glaube an eine spezifische Verschwörungstheorie über Windräder als auch die generelle Verschwörungsmentalität – mit einer Ablehnung von Windrädern in der eigenen Nachbarschaft zusammenhängt. Vor allem Letzteres ist bemerkenswert, da die Fragen mit der wir die generelle Verschwörungsmentalität erfassen, keinerlei Bezug zu Windrädern oder Klimawandel aufweisen. Das heißt also, dass die generelle Neigung einer Person, an Verschwörungstheorien zu glauben, vorhersagt, ob diese Person den Bau einer Windkraftanlage eher ablehnen würde. Wir haben zudem untersucht, ob das Bereitstellen von Argumenten, die für den Bau der Windräder sprechen, diese Ablehnung verringern kann. Und tatsächlich zeigen unsere Ergebnisse, dass das Bereitstellen von Informationen einen positiven Effekt hat und zwar auch bei Menschen mit einer ausgeprägten Verschwörungsmentalität. Solche Argumente waren allerdings weniger wirksam bei Menschen, die bereits an eine spezifische Verschwörungstheorie im Kontext der Windräder glaubten. Außerdem zeigte sich, dass der Einfluss von Pro-Windkraft-Argumenten deutlich geringer ausfiel, wenn gleichzeitig eine Gegenmeinung präsentiert wurde.
Unsere Ergebnisse zeigen also auf der einen Seite, dass Argumente im Kontext der Nachhaltigkeitstransformation wirken können – und zwar auch bei Menschen, die zum Verschwörungsglauben neigen. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass dies in öffentlichen Debatten, in denen ja in der Regel sowohl Pro- als auch Contra-Argumente genannt werden, deutlich schwieriger ausfallen kann. In unseren aktuellen Studien schauen wir uns daher an, welche Rolle die Verbreitung von Falschinformationen, die sich gegen den Ausbau der Windenergie richten, in diesem Kontext spielen.
Wie steht es im Kontext von Verschwörungstheorien und -mentalität um die Kraft und Wirkung wissenschaftlicher Fakten?
Generell zeigt die psychologische Forschung, dass wissenschaftliche Fakten – gerade über den Klimawandel – häufig abgelehnt werden, weil sie der eigenen Weltanschauung widersprechen oder weil man nicht mit den daraus abgeleiteten Maßnahmen einverstanden ist. Wie bereits erwähnt finden wir aber in unseren eigenen Studien durchaus eine Offenheit für rationale Argumente, selbst bei Menschen mit einer generellen Neigung zum Verschwörungsglauben. Das widerspricht also in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung und zeigt, dass es wichtig ist, auch diese Menschen nicht auszuschließen, sondern in den gesellschaftlichen Diskurs einzubeziehen. Problematisch wird es aber, wenn Menschen an spezifische Verschwörungstheorien oder Falschinformationen über Windräder glauben. Die Frage, die sich also stellt, ist, wie verhindert werden kann, dass Menschen solchen Informationen Glauben schenken.
Was muss Wissensvermittlung heute und zukünftig dementsprechend leisten, um für mündige Teilhabe an sozialen, gesellschaftlichen und politischen Prozessen und Entscheidungen sorgen zu können?
Eine Bildung, die rein auf die Vermittlung von Faktenwissen setzt, ist den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen. Es sollte vielmehr darin investiert werden, Menschen beizubringen, wie sie die Glaubwürdigkeit von Quellen adäquat einschätzen können. Dazu gibt es einige spannende bildungswissenschaftliche Ansätze. Ein Ansatz, der vor allem in der Forschung zu Falschinformationen als vielversprechend angesehen wird, ist das sogenannte „Prebunking“. Hierbei macht man Menschen auf mögliche Falschinformationen aufmerksam und sensibilisiert sie für den Umgang mit diesen, indem man sie beispielsweise die Techniken erlernen lässt, die zur Verbreitung von Falschinformationen eingesetzt werden.
„Zukunft ist jetzt“ – stimmen Sie der Aussage zu? Welche Gedanken haben Sie im Kontext Ihrer Forschung dazu?
Ich denke, es ist immer wichtig, zu bedenken, welche Auswirkungen unser heutiges Handeln auf zukünftige Entwicklungen haben kann. Wenn wir jetzt nicht die Weichen für eine nachhaltige Transformation unserer Gesellschaft stellen, dann werden wir nicht in der Lage sein, Bedrohungen wie dem menschengemachten Klimawandel zu begegnen. Dasselbe gilt für demokratiefeindliche Entwicklungen, denen wir uns entschieden und frühzeitig entgegenstellen sollten.
Zur Person
Dr. Kevin Winter studierte und promovierte im Fach Psychologie an der Universität Tübingen. Während seiner Promotion verbrachte er zwei Monate als Gastwissenschaftler an der Universität Groningen (Niederlande). Als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitete er von 2016 bis 2023 am Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen, bevor er im Juli 2023 an die Universität Hohenheim ins Fachgebiet Nachhaltiges Handeln und Wirtschaften wechselte. Im Sommersemester 2024 vertritt Winter die Professur für Arbeits- und Umweltpsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal.
In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Möglichkeiten, polarisierte und extreme Einstellungen im Kontext öffentlicher Debatten (beispielsweise zu Themen wie Migration oder Nachhaltigkeit) zu reduzieren. Außerdem befasst er sich mit den negativen Auswirkungen von Verschwörungsglaube und Möglichkeiten, diesen entgegenzuwirken.
Veranstaltungshinweis
Wie denken Menschen über Herausforderungen im Kontext von Klima- und Umweltschutz nach, welche Lösungsstrategien haben oder verweigern sie? Diesen und ähnlichen Fragen geht die Austauschreihe „Psychologie & Transformation“ nach. Veranstaltet wird sie von der Nichtregierungsorganisation Germanwatch und dem an der Bergischen Universität angesiedelten Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit, transzent.
Die Reihe umfasst drei Fachtagungen mit jeweils einem Schwerpunktthema. Am Dienstag, 18. Juni, steht an der Bergischen Universität Wuppertal die zweite Veranstaltung an. Sie rückt das Thema „Kognition“ in den Fokus. Ziel ist es, zu verstehen, wie wir psychologische und soziale Hindernisse auf dem Weg hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft überwinden können und dieses Wissen mit denjenigen teilen, die in der Praxis am Gelingen der Nachhaltigkeitswende arbeiten. Dr. Kevin Winter stellt in diesem Rahmen Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung zum Thema Einstellungsänderung vor.
Auf einen Blick: Mehr erfahren über die Austauschreihe „Psychologie & Transformation“ (Pressemeldung vom 3. Juni 2024)