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Digitalisierung und künstliche Intelligenz

Den menschlichen Bedürfnissen gerecht werden

22.05.2024|11:09 Uhr

„Es ist wichtig, nicht nur technische Fähigkeiten zu fördern, sondern auch kritisches Denken und soziale Verantwortung einzubeziehen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Tobias Meisen über den Umgang mit künstlicher Intelligenz. Im Interview berichtet der Lehrstuhlinhaber außerdem, wie er und sein Team Unternehmen bei der digitalen Transformation begleiten, wie sie den Aufbau von KI-Kompetenzen disziplinübergreifend an der Bergischen Universität unterstützen und mit welchem berühmten (wenn auch fiktiven) Wissenschaftler er es in Sachen „Zukunftsmotto“ hält.

Wegweiser und Begleiter in der digitalen Transformation – als das verstehen sich Tobias Meisen und sein Team. // Foto Colourbox

Lieber Herr Meisen, wenn Gegenstände immer intelligenter werden, werden wir dann eigentlich immer dümmer?

Digitalisierung und künstliche Intelligenz haben enorme Potenziale für die Gesellschaft und das Individuum. Wenn Sie mich so fragen, möchte ich mit einer Gegenfrage antworten: „Besitzen wir als Gesellschaft die Kompetenz, diese Technologien sinnvoll und zielführend einzusetzen?“ Es gibt vielfältige positive und intelligente Wege, digitale Technologien und künstliche Intelligenz zu nutzen, gleichsam entstehen mehr und mehr Ansätze, wo dies nicht gegeben ist.

Zurück zu Ihrer Frage: Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft sinkt das Bildungsniveau in Deutschland seit 2013 kontinuierlich, und wenn wir der Studie Glauben schenken, werden wir im Querschnitt dümmer. Ich bezweifele jedoch sehr, dass dies an künstlicher Intelligenz liegt, geschweige denn an „intelligenteren“ Gegenständen. Denn diese sind doch immer noch sehr beschränkt. Der Optimist in mir glaubt daran, dass es uns als Gesellschaft gelingen wird, die anfangs genannten Potenziale klug zu heben und für eine Trendwende zu sorgen.

An der Bergischen Uni forschen Sie nicht nur zu Technologien und Management der digitalen Transformation, Sie sind auch nah dran an der Praxis. Was kommt Ihrer Meinung nach beim Thema digitale Transformation in Deutschland derzeit zu kurz: der technologische Fortschritt oder das Management?

Ihre Frage spiegelt sehr gut das Problem wider, vor dem wir stehen. Es ist nicht der technologische Fortschritt oder das Management, das zu kurz kommt, sondern beide zusammen, die ganzheitlich und in Harmonie miteinander agieren müssen. Das eine geht nicht ohne das andere. Häufig glauben wir, dass wir einfach durch die Einführung technologischer Neuerungen Vorteile erzielen können. Gleichzeitig sind wir der Überzeugung, dass Fortschritte erzielt werden können, wenn allein die Führungsmannschaft ausgetauscht wird. Die Erkenntnis, dass dies nicht funktioniert, ist nicht neu. Es ist jedoch erstaunlich, wie sehr sie durch den Hype um künstliche Intelligenz in Vergessenheit geraten ist.

Nehmen wir zum Beispiel ChatGPT und die dahinterstehenden Large Language Models (große Sprachmodelle, Anm. d. Red.). Die Nachrichten überschlagen sich mit Superlativen, täglich erscheinen neue Softwarelösungen für die unterschiedlichsten Branchen und preisen die Potenziale an. Überspitzt formuliert wird suggeriert, dass jedes Unternehmen in Deutschland so schnell wie möglich ChatGPT oder eines seiner Derivate einsetzen muss. Auch ein Chevrolet-Händler in Watsonville wollte den Hype mitmachen und musste feststellen, dass es nicht so einfach ist, wenn die KI anschließend Autos für einen Dollar verkauft. Die Erwartungshaltung ist hierbei oft völlig falsch. Es wird angenommen, die KI mache keine Fehler, sie denke logisch und wisse, dass ein Auto nie nur ein Dollar kostet.

Deshalb bringen wir in unseren Projekten verschiedene Disziplinen zusammen und versuchen so, unsere KI-Ansätze aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und robust und resilient zu gestalten. Wohlwissend, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben.

Sie arbeiten in vielen verschiedenen Projekten mit unterschiedlichen Branchen und Partnern zusammen – mit dem Handwerk ebenso wie mit der produzierenden Industrie und Umweltverbänden, um nur Beispiele zu nennen. Was eint all diese Projekte?

Wir begreifen uns als Wegweiser und Begleiter der digitalen Transformation. Wir wollen gemeinsam mit unseren Partnern Innovation und Wandel vorantreiben und die zuvor genannten Potenziale heben und darstellen. Unsere Projekte eint dieser Gedanke: Den Weg zu intelligenten, autonomen technischen Agenten, die einen konkreten Mehrwert in der Nutzung liefern, zu gestalten und gemeinsam zu beschreiten. Das machen wir sowohl in der Grundlagenforschung, in der wir die methodische Entwicklung vorantreiben, wie auch in der angewandten Forschung, in der wir eben diese Methoden für die Anwendung nutzbar machen und gemeinsam die „letzte Meile“ überbrücken.

Lassen Sie uns inhaltlich etwas genauer drauf schauen: Wie sieht so eine Kooperation – beispielsweise mit einem Industrieunternehmen – aus, wie gehen Sie vor?

In über neunzig Prozent der Fälle kommt das Industrieunternehmen mit einem konkreten Anliegen auf uns zu. Meistens sind die Fragestellungen so, dass die Dienstleister des Unternehmens keine Lösung anbieten können und es Forschungsbedarf gibt, um zu zeigen, dass es überhaupt einen Lösungsansatz gibt.

In unserem Fall spielen natürlich intelligente, autonome technische Systeme oder die organisatorische, strategische Entwicklung ihres Einsatzes bei diesen Fragestellungen eine zentrale Rolle. Die Palette ist hier sehr vielfältig, von der intelligenten visuellen Qualitätsinspektion über die sensorische Erkennung von Anomalien bis hin zur Vorhersage des Verhaltens der Kundschaft. Ebenso geht es häufig um die Fragestellungen, wie ich mich als Unternehmen im Kontext der digitalen Transformation ausrichten, meine Mitarbeiter*innen entwickeln und meine Organisationsstruktur anpassen muss.

In einem Projekt ging es beispielsweise um die automatisierte Qualitätsbewertung von Windschutzscheiben auf Basis von Prozess- und Sensordaten. Hier haben wir gemeinsam mit dem Unternehmen ein KI-basiertes Verfahren entwickelt, die IT-Abteilung geschult und schließlich das System mit ausgerollt. Heute ist das System in mehreren Werken im Einsatz und wird von der Unternehmens-IT weiterentwickelt und betreut.

Mit Ihrem 40-köpfigen Team wirken Sie wie gerade schon kurz erwähnt in ganz unterschiedliche Anwendungsfelder hinein. Kommen wir zum Stichwort Bildung: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen? Wie halten wir als Menschen Schritt mit dem Entwicklungsfortschritt künstlicher Intelligenz?

KI ist nicht mehr nur ein Thema der Informatik. Die vielfältigen Anwendungsfelder erfordern oft eine Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz, die über die reine Anwendung hinausgeht. Es ist wichtig, nicht nur technische Fähigkeiten zu fördern, sondern auch kritisches Denken und soziale Verantwortung einzubeziehen.

Eine digitale Literalität, die künstliche Intelligenz einschließt, wird immer wichtiger. Dies muss bereits in der Schule beginnen und an der Universität fortgesetzt werden. An der Bergischen Universität fördern wir den Aufbau von KI-Kompetenzen disziplinübergreifend durch unser KI4BUW-Vorhaben. Wir bieten hier Unterstützung für das gemeinsame Lehren, Forschen und Anwenden von KI-Technologien. Unsere Ziele sind der Aufbau einer hochschulweiten Infrastruktur für die Nutzung und Weiterentwicklung aktueller KI-Algorithmen, ein interdisziplinärer, horizontaler Wissenstransfer über die Anwendung von KI-Algorithmen sowie die Förderung des Einsatzes von KI in der Lehre.

Der KI-Makerspace, als Teil von KI4BUW, ist ein innovatives Konzept zur systematischen Förderung der KI-Kompetenz von sowohl erfahrenen als auch fachfremden Studierenden und Lehrenden. Mit Hilfe von KI-Spezialist*innen und technischen Ressourcen bieten wir sowohl die Weiterbildung als auch die Projektbegleitung an, gleichzeitig schaffen wir Freiraum zur Entwicklung eigener Ideen. So ermöglichen wir eine direkte und effektive Einbindung von KI-Methoden in die Lehre und fördern die individuelle Entwicklung.

Welcher, nennen wir es Fähigkeit, die künstlicher Intelligenz in der aktuellen öffentlichen Debatte zugeschrieben wird, würden Sie aus Expertensicht absolut zustimmen und wobei wünschen Sie sich eine bessere Einordung?

In der öffentlichen Debatte wird oft behauptet, dass künstliche Intelligenz in der Lage ist, autonom Entscheidungen zu treffen. Ein bekanntes Beispiel ist das autonome Fahren. Auch im Gesundheitswesen und der Verwaltung wird zunehmend behauptet, dass KI komplexe Entscheidungen ohne menschliche Intervention treffen kann. Allerdings wäre es wünschenswert, diese Fähigkeit genauer einzuordnen. In der Regel findet wirkliche Autonomie in diesen Systemen nicht statt oder sie ist stark eingeschränkt.

Es wäre wünschenswert, dass die öffentliche Debatte differenzierter geführt und mehr Verständnis für die gegenwärtigen Fähigkeiten und Grenzen von KI-Systemen vermittelt wird. Heute haben wir es mit einer „schwachen KI“ zu tun, die auf spezifische Aufgaben beschränkt ist, und keiner „starken KI“, die menschenähnliche kognitive Fähigkeiten aufweist. Es ist zentral, die Debatte über ethische und gesellschaftliche Implikationen zu führen und zu berücksichtigen.

KI ist ein zentraler Treiber der digitalen Transformation und betrifft und verändert unser gesellschaftliches Miteinander nachhaltig in allen Bereichen – hier stimme ich vollkommen zu. Worüber wir aber diskutieren müssen, ist, wie und wann diese Transformation sich vollständig entfaltet.

Wenn man sich schon so lange wie Sie und, plakativ gesagt, täglich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt – überrascht einen dann eigentlich noch irgendwas?

Das rasante Tempo, in dem Fortschritte in den letzten Jahren erzielt werden, überrascht täglich. Es ist unglaublich, welche Ressourcen in die Entwicklung moderner künstlicher Intelligenzen investiert werden – leider anteilig gesehen viel zu wenig in Deutschland. Auch wenn die nächsten Stufen generativer Systeme absehbar sind, so ist es doch immer wieder erstaunlich, wenn sie das Licht der Welt erblicken.

Auch AlphaGo und ChatGPT waren Meilensteine, die so nicht vorhersehbar waren. Ich erinnere mich an eine Wette mit einem Mitarbeiter bezüglich einer KI, die das Spiel Starcraft auf menschlichem Niveau spielt. Leider habe ich die Wette, zumindest teilweise, um drei Jahre verloren, als AlphaStar schon im Januar 2019 von DeepMind veröffentlicht wurde. 

„Zukunft ist jetzt“ – würden Sie die Aussage unterschreiben?

Ich halte es in diesem Zusammenhang eher mit Dr. Emmett Brown aus „Zurück in die Zukunft“: „Your future is whatever you make it, so make it a good one“.

Was die technologischen Entwicklungen betrifft, so ist vieles, was wir in der Vergangenheit für Zukunftsmusik gehalten haben, heute Realität. Technologische Innovationen in den Bereichen Digitalisierung und künstliche Intelligenz haben unseren Alltag bereits stark beeinflusst – denken Sie nur an Streaming, E-Commerce und Social Media. Gleichzeitig gibt es in vielen Bereichen noch Herausforderungen und ungelöste Fragen, denn schafft nicht jede neue Lösung hundert neue Möglichkeiten? Die Art und Weise, wie wir mit den heutigen Herausforderungen umgehen, wird die Zukunft entscheidend prägen.

Damit schließe ich an meine Gedanken vom Anfang an: Die heutigen Möglichkeiten zu erkennen und aktiv an der Gestaltung einer Zukunft zu arbeiten, die den menschlichen Bedürfnissen gerecht wird und gleichzeitig nachhaltig und ethisch vertretbar ist, sollte unser Antrieb für die künstliche Intelligenz der Zukunft sein.

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