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Das Makromolekül und seine weitreichenden Folgen

15.03.2022|08:01 Uhr

1922 führte der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Hermann Staudinger den Begriff „Makromolekül“ in die Wissenschaft ein. Heute gilt er als Pionier dieses Fachgebietes, das vor allem in der Kunststoffherstellung eine entscheidende Rolle spielt. Prof. Dr. Ullrich Scherf, geschäftsführender Direktor des „Institut für Polymertechnologie“ an der Bergischen Universität über die Einführung des Begriffs ‚Makromolekül‘, den rasanten Weg der Polymere von der Kunststoffentwicklung, den weiten Weg zurück in den geschlossenen Stoffkreislauf, bis hin zur hochleistungsfähigen Datenübermittlung.

Prof. Dr. Ullrich Scherf // Foto privat

Wer war Hermann Staudinger und was umschrieb er mit diesem Begriff?
Scherf:
Hermann Staudinger, das ist heute unumstritten, ist der Pionier des Fachgebietes der Makromolekularen Chemie. Der anfängliche Widerstand gegen seine Lehrmeinungen war vor 100 Jahren immens und sehr ausgeprägt. Das war aus der Logik der Wissenschaften damals sogar teilweise verständlich. Es war zwar schon lange bekannt, dass man für verschiedene Stoffe, die man auch teilweise aus Naturprodukten isoliert hat - etwa Naturkautschuk, dem gummiartigen Stoff aus dem Milchsaft (Latex) verschiedener Kautschukpflanzen - hohe Molekulargewichte messen konnte. Aber es gab zwei verschiedene Auffassungen: Auf der einen Seite standen die Verfechter der Aggregat- oder Kolloid-Hypothese, auf der anderen Seite stand die Vorstellung der Existenz von Makromolekülen (Polymeren). Staudinger vertrat die Auffassung, dass es lange Fadenmoleküle gibt, die aus periodischen Wiederholungseinheiten zusammengesetzt sind. Dazu muss man wissen, dass das mit dem Instrumentarium damals gar nicht so einfach zu beweisen war, denn das analytische Instrumentarium der Naturwissenschaften ist bei weitem nicht mit dem heutigen Stand der Technik vergleichbar. Daher war das damals schon so eine Mischung aus Indizien, die er anführte. Festzuhalten bleibt, dass Hermann Staudinger der Makromolekül-Hypothese nach einigen Jahren trotz prominentem Wiederstandes zum endgültigen Sieg verhalf, u.a. durch Messungen der Viskosität von Polymerlösungen, durch Abbauexperimente und durch sogenannte polymeranaloge Umsetzungen, das sind chemische Veränderungen an schon bestehenden Polymerketten. In den 40er und 50er Jahren sind dann die ersten Polymere so wie Nylon vollsynthetisch hergestellt worden und bestätigten auf ganzer Linie seine Hypothese.

Am Anfang wehrten sich viele wissenschaftliche Kollegen gegen diesen Begriff. Warum?
Scherf:
Vielleicht war die Streitkultur vor 100 Jahren noch ausgeprägter als heute. Die Existenz von chemischen Verbindungen, die z.B. aus langen Ketten tausender Kohlenstoffatome bestehen, die periodisch aus gleichen Einheiten aufgebaut sind, passte nicht ins naturwissenschaftliche Weltbild vieler Gegner der Makromolekül-Hypothese. Ein Argument dabei war: Viele Polymere sind kristallin oder genauer teilkristallin, und einige sogenannte Kristallographen hielten es für grundsätzlich unmöglich, dass ein Molekül größer ist als seine sogenannte Elementarzelle, der kleinsten Einheit eines Kristalls. Man kann sagen, dass der Widerstand nicht auf klaren Argumenten beruhte, aber wenn zu den Gegnern auch prominente Nobelpreisträger gehören, kann es schon mal schwierig werden.

Man teilt Makromolekulare Stoffe in natürliche, halbsynthetische und synthetische Stoffe ein. Können sie da mal ein paar Beispiele nennen?
Scherf: Das ist zunächst einmal die typische Einteilung für Makromolekulare Stoffe. Die Polymerwissenschaften sind sehr technologisch geprägt, es geht weniger um Strukturen und Mechanismen als mehr um technologische Aspekte.

Natürlich vorkommende Polymere sind solche, die aus Naturprodukten ohne chemische Veränderungen gewonnen, formgebend verarbeitet und verwendet werden, also Cellulose etwa aus Baumwolle oder Holz, Stärke oder Naturkautschuk. Halbsynthetische Polymere sind chemisch veränderte, abgewandelte Naturprodukte wie modifizierte Stärke der Lebensmittelindustrie, Methylzellulose als Tapetenkleister, oder vulkanisierter, d.h. mit Schwefel vernetzter Naturkautschuk als Elastomer, also elastisch verformbarer Kunststoff. Ganz nebenbei: Solche Elastomere, also Gummis, waren schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, kommerziell hergestellt und wurden z.B. als Bereifung von Fahrzeugen eingesetzt, natürlich ohne Kenntnis der makromolekularen Natur der Werkstoffe. Synthetische Polymere umfassen alle heute synthetisch hergestellten Polymere als Hauptbestanteil von Kunstoffen. Das basiert auf der Petrochemie, also auf Erdöl und Erdgas. Angefangen von Massenpolymeren wie Polyethylen und Polyvinylchlorid, kurz PVC, über höherwertige Polymere wie Polyethylenterephthalat -daraus sind unsere PET-Flaschen hergestellt- oder Polyurethane, Montageschäume im Bauwesen, bis zu Spezialpolymeren gibt es da ein großes Spektrum. Das ist eine richtige „Polymerpyramide“ mit sogenannten Massenpolymeren - Polyethylen, Polypropylen, Polystyrol, Polyvinylchlorid PVC - als Basis und höchstwertigen Spezialpolymeren als Spitze.

Einer der bekanntesten makromolekularen Stoffe ist der Kunststoff. Kann man heute rückblickend sagen, Staudinger hat mit seiner Forschung sozusagen die Grundlagen für die schnelle Entwicklung der chemischen Industrie geliefert?
Scherf: Kunststoffe, also Plastik, sind makromolekulare Stoffe, die mit sogenannten Additiven, Zusatzstoffen, versehen sind; sie dienen zur Stabilisierung, zur Weichmachung, zur Verbesserung ihrer Eigenschaften, zum Anfärben etc.. Das können bis 40 Prozent Additive sein. Man muss sich vorstellen, das große Teile der chemischen Produktion heutzutage im Bereich Kunststoffe angesiedelt sind. Diese machen heute einen Riesenanteil der chemischen Produktion aus. Die Weltproduktion von Kunstoffen 2020 belief sich auf 367 Millionen Tonnen, davon allein in Europa 55 Millionen Tonnen. Natürlich sind Kunststoffe wegen ihrer attraktiven Eigenschaften  - etwa geringes Gewicht verbunden mit hoher Festigkeit, großer Elastizität und sehr guter Formbarkeit - eine markante technologische Errungenschaft der letzten 100 Jahre. Sie waren auch ein Treiber für die Entwicklung der chemischen Industrie und das geht zurück auf Staudinger, weil sein Konzept in den 40er Jahren voll bestätigt wurde.

Kunststoff als makromolekularer synthetischer Stoff könnte in einem Kreislaufverfahren verwertet werden. Das geschieht aber nicht. Warum treten wir beim Thema Umweltschutz in Sachen Kunststoff auf der Stelle?
Scherf:
Damit sind wir bei den aktuellen Problemen der Kunststoffnutzung. Die Stoffkreisläufe sind heute größtenteils noch offen, und es werden jährlich Hunderte Millionen Tonnen an Kunstoffen in die Kreisläufe eingespeist. Im schlechtesten Fall landen die Kunststoffe unkontrolliert in der Umwelt. Prominentes Beispiel sind die Plastik-verschmutzten Weltmeere. Im zweitschlechtesten Fall werden die Kunststoffe deponiert, verbunden mit dem Risiko, das meist niedermolekulare Additive und sogenannte Restmonomere ausgewaschen und in die Umwelt freigesetzt werden. Diese Additive sind oft nicht ungefährlich, wie etwa die aktuelle Diskussion um Weichmacher im PVC beweist. Teilweise ist die EU inzwischen regulatorisch aktiv geworden, auch nachdem eine breitere Öffentlichkeit sensibilisiert wurde. In Brüssel geschah und geschieht das immer im Wechselspiel und Ringen der Lobbygruppen um Einfluss, und die Lobby der Kunststoff-Hersteller und Kunststoff-Verarbeiter ist in Europa traditionell stark vertreten. In Deutschland werden viele Kunststoffe aus dem Müll derzeit energetisch verwertet, d.h. in Müllverbrennungsanlagen verbrannt. Dabei entstehen aber auch Feinstäube und Aschen, die fachgerecht und aufwändig als Sondermüll entsorgt werden müssen. Das Schließen der Stoffkreisläufe durch eine stoffliche Verwertung von Kunststoffabfällen, z.B. durch Pyrolyseverfahren, ist generell möglich, die wissenschaftlichen Grundlagen sind etabliert. Jedoch sind riesige Investitionen und wohl auch regulatorische Eingriffe notwendig, um das Umsteuern zu initiieren und zu verwirklichen.

Was können wir tun?
Scherf:
Bei unseren heutigen Problemen zur Kunststoffnutzung fällt mir ein Zitat von Albert Einstein ein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Allein die Modifizierung und Optimierung etablierter Prozesse der Polymerherstellung wird die benötigte Trendwende nicht hervorrufen können. Die ´reinen` Herstellungsprozesse sind heute oft schon so weit optimiert, dass sie sehr energieeffizient und ressourcenschonend sind. Bei der Polyethylenproduktion, zum Beispiel, werden, auf der einen Seite, in kontinuierlich arbeitende Gasphasenreaktoren Ethylengas und sehr geringe Mengen an hocheffizienten Katalysatoren eingespeist und auf der anderen Seite fertiges Polyethylen-Granulat entnommen, ohne die Verwendung von Lösungsmitteln oder anderen Hilfsstoffen. Bei der Produktion fallen so kaum Abfälle an. Derzeit behindert der sehr geringe Herstellungs- und Verkaufspreis von Massenpolymeren wie Polyethylen oder Polypropylen, als Hauptbestandteil vieler heute verwendeter Kunststoffe, essenzielle Anstrengungen, beim Schließen der Stoffkreisläufe weiter zu kommen. Ein wichtiger und wohl notwendiger Schritt dazu wäre, die Polymer- und Kunststoffproduzenten auch zur Haftung für eine generell zu erfolgende, stoffliche Wiederverwertung der Kunststoffabfälle anzuhalten, ggf. auch zu zwingen. Dabei scheint es mir notwendig, die Kunststoffproduktion auf das ökologisch vertretbare Maß zu reduzieren und besonders die Neuproduktion von Kunststoffen drastisch zu reduzieren. Gleichzeitig müssen sich in der Zukunft alle in den Markt eingespeisten Kunststoffprodukte streng am Maßstab der Möglichkeit und Machbarkeit ihrer stofflichen Wiederverwertung orientieren und ausrichten. Die Herstellungsprozesse für makromolekulare Stoffe genügen, wie gesagt, heute schon zu einem erheblichen Teil den hohen Standards für nachhaltige Prozesse. Das Problem ist, die Stoffkreisläufe nach dem Ende der Nutzungsperiode der Kunststoffprodukte wieder zu schließen.

Herr Scherf, Sie leiten den Arbeitskreis Makromolekulare Chemie an der Bergischen Universität und arbeiten mit Kooperationspartnern an einem ultraschnellen optischen Schalter. Welche Aufgabe hat die makromolekulare Chemie bei diesem Projekt?
Scherf: Heute muss Wissenschaft interdisziplinär zusammenarbeiten, das ist ganz klar. Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit Spezialpolymeren mit ganz speziellen elektronischen und optischen Eigenschaften, weit weg vom eben skizzierten Kunststoffproblem, ganz oben an der Spitze der „Polymerpyramide“. Eine der Entwicklungslinien dabei sind optische Bauelemente, die auf dem Prinzip der starken Licht-Materie-Kopplung basieren. Man versucht mit solchen optischen Bauelementen sehr hohe Datenübertragungsraten zu generieren, Datenübertragungsraten, die noch weit über den heute Gebräuchlichen liegen. Das Forschungsgebiet nennt sich Quantenoptik. Hier geht es um die Höchstgeschwindigkeitsübertragung von Daten. Eine Anwendungsvision dazu wäre die effiziente Vernetzung von Quantencomputern. Im Jahr 2019 konnte in einer Kooperation zwischen IBM Research Zürich und der University of Southhampton der erste ultraschnelle optische Transistor präsentiert werden, welcher bei Raumtemperatur betrieben wird. Die Arbeitsgruppe Scherf an der Bergischen Universität lieferte dafür die benötigten, aktiven Polymermaterialien. Bei diesen optischen Bauelementen fließt kein Strom mehr, sondern das neue Medium der Datenübertragung ist nunmehr Licht.

Uwe Blass

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Prof. Dr. Ullrich Scherf leitet das Lehrgebiet Makromolekulare Chemie in der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften an der Bergischen Universität. 2010 wurde er dort geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums „Institut für Polymertechnologie“.

 

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