Internationale Konferenz in Wuppertal
Allrounder mit Potenzial: Papier im Fokus der Wissenschaft
Wir alle nutzen es vielfach jeden Tag: Der Schuss Milch im Kaffee am Morgen aus der Packung, der Empfang eines lang erwarteten Pakets oder der Gang auf die Toilette – ohne Papier kommen wir dabei nicht aus. Das Material ist Werkstoff wie Alltagsgegenstand und bietet viel Raum für spannende Forschungsfragen.
„Paper Physics“-Community zu Gast in Wuppertal
In Kooperation mit der TU Darmstadt organisiert die Wuppertaler Forschungsgruppe Computational Applied Mechanics (weitere Infos folgen unten) die Konferenz IPPC2024, die International Paper Physics Conference. Dazu erwartet das Team rund 100 internationale Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Papiereigenschaften und Materialverhalten beschäftigen. Sie kommen von nah und fern aus der ganzen Welt: aus Österreich und Schweden ebenso wie aus Kanada, USA, China und Australien.
In über 70 Vorträgen tauschen sich die Teilnehmenden über die faszinierende Welt des Papiers aus: Das Konferenzprogramm beschäftigt sich mit Eigenschaften von Zellulosefasern ebenso wie mit der Frage, wie sich etwa Faltvorgänge auf beschichtetes Papier auswirken. Außerdem wird es um energieeffiziente Technologien für das Recycling sowie Nachhaltigkeitsansätze in der Papierproduktion gehen.
Anmeldungen zur Konferenz sind noch möglich. Veranstaltungssprache ist Englisch. Fragen beantwortet das Organisationsteam um Birte Boes per Mail an ippc2024[at]uni-wuppertal.de
Programm, Anmeldung und Wissenswertes: Alle Infos zur IPPC2024 gibt es auf der Konferenzwebseite.
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Allrounder mit großem Potenzial: Das macht die Papierforschung so zukunftsrelevant
Papier spielt in vielen Bereichen des täglichen Lebens eine zentrale Rolle. Allerdings: Seine Produktion gehört noch immer zu den energieintensivsten Industrien. Betrieben der Branche ist einerseits an Lösungen gelegen, die den Herstellungsprozess klimafreundlicher gestalten. Auf der anderen Seite ist Papier ein Naturprodukt, das recyclebar ist und beste Voraussetzungen für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft liefert. Je mehr Know-how über das Material als solches sowie die unterschiedlichen Techniken im Umgang damit existiert, desto größer sind die Chancen, das volle Potenzial von Papier auszuschöpfen, bis hin zur Entwicklung neuer nachhaltiger und biobasierter Werkstoffe.
Wuppertaler Expertise
An der Bergischen Universität Wuppertal untersucht das Team von Prof. Dr. Jaan-Willem Simon, der Lehrstuhl Computational Applied Mechanics, die Belastbarkeit von Papier für vielfältige Anwendungsfälle: In der Verpackungsindustrie beispielsweise in Kooperation mit SIG, einem weltweit führenden Hersteller von Getränke- und Nahrungsmittelverpackungen.
Computational Applied Mechanics: Was steckt dahinter?
„Grundsätzlich befasst sich unsere Forschung mit der Beschreibung des mechanischen Verhaltens von Materialien und Strukturen in verschiedenen Ingenieursanwendungen mithilfe numerischer Modelle“, berichtet Prof. Simon. Seit einiger Zeit liegt ein Fokus der Forschung auf Papier und Pappkarton. „Das Ziel“, ergänzt der Wissenschaftler, „ist stets, die Material- und Strukturzusammensetzungen so zu optimieren, dass Eigenschaften verbessert und Ressourcen geschont werden können.“
Im Fall von Papier, das aus Zellulosefasern besteht, untersuchen die Wuppertaler Forschenden deren komplexe Verbindung und ihr Verhalten unter verschiedenen Bedingungen. Sie fragen zum Beispiel, welche Belastungen dazu führen können, dass Papier reißt, oder was passiert, wenn es Feuchtigkeit und verschiedenen Temperaturen ausgesetzt ist (siehe „Woran die Gruppe konkret forscht“). Um diese Analyse so effizient wie möglich zu gestalten, simulieren sie die Vorgänge am Computer. Das spart zugleich eine Vielzahl an Experimenten mit echtem Papier ein.
Damit die Computersimulation läuft, braucht es das passende mathematische Werkzeug, in diesem Fall geeignete Simulationsmodelle, und Kenntnisse über die komplexe Mikrostruktur des Papiers. „Je nach Papierart und Gebrauch benötigen wir ein Modell, das genau die Eigenschaften abbildet, die das Papier auch in der praktischen Anwendung besitzt“, erklärt Simon. Schließlich gibt es rund 3.000 unterschiedliche Papiersorten – Verpackungspapiere, Grafische Papiere, Hygienepapiere, Papiere für technische und spezielle Anwendungen. „Nur mit dem richtigen Simulationsmodell gewährleisten wir, dass die Ergebnisse am Rechner auch verwertbar sind und als realistische Vorhersagen für die Praxis taugen“, so der Gruppenleiter.
Derartige Modelle entwickelt sein Team selbst und wendet sie schließlich auch in der Simulation an, um sowohl grundlegende, als auch angewandte Forschungsfragen zu beantworten.
Kein Papperlapapp: Woran die Gruppe konkret forscht
Aktuell forschen Prof. Simon und seine Kolleg*innen mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zum Beispiel an einer digitalen Plattform für das Design von nachhaltigen Leichtbau-Verbundmaterialien auf Basis von Holzfasern. Ziel ist es, das Leichtbaupotenzial von Papier und Pappkarton besser auszunutzen und dabei den Einfluss des nicht einfach vorherzusehenden Verhaltens der Fasernetzwerkstruktur zu berücksichtigen. Durch die Plattform sollen die Informationen öffentlich zugänglich sein.
Ein weiteres Projekt will im Sinne der Nachhaltigkeit dazu beitragen, die Verwendbarkeit von Papier auch für anspruchsvolle Verpackungslösungen zu steigern. Insbesondere stellt der schwer kontrollierbare Einfluss von Feuchte bei Transport- und Lagervorgängen ein erhebliches Problem für die Verarbeitungsprozesse des Papiers dar. „Fehlende Möglichkeiten, Umgebungsbedingungen in allen Produktions- und Lagerstätten zu kontrollieren und die Maschinen und Werkzeuge vor dem Umformprozess des Papiers zur Verpackung passend auszulegen, motivieren den Einsatz von Simulationen“, erklärt Mitarbeiter Nadir Kopic-Osmanovic. Ziel des Projekts, gefördert von der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen (AiF), ist die Entwicklung eines fähigen Simulationswerkzeugs, das im Stande ist, das Materialverhalten von Papier unter der Berücksichtigung von Feuchte und Temperatur zu erfassen.
Um Lebensdauer und die bislang aufgrund der komplexen Faserverbindungen weitgehend unverstandenen Schädigungsmechanismen von Kartonverpackungen besser vorhersagen zu können, braucht es detaillierte Modelle des Materials. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt hat Mitarbeiterin Birte Boes ein spezielles mathematisches Modell entwickelt, das mehr Licht ins Dunkel bringt und zum Verständnis bei Belastungen ganz unterschiedlicher Art beiträgt. Es ermöglicht nicht nur zuverlässige Erklärungen und Vorhersagen für Papier und Karton, sondern kann auch auf andere Materialien mit ähnlichen Eigenschaften übertragen werden.
Gewachsen: Gruppe erschließt weitere Anwendungsfelder
Seit dem Start der Forschungsgruppe zum Wintersemester 2022/23 hat sich einiges getan, das Team wächst. Neben dem Papier widmet es sich mittlerweile auch anderen Feldern, wie beispielsweise dem Straßenbau. Der hat damit zu kämpfen, dass mancherorts der Asphalt immer mehr bröckelt. Um die Mobilität zukünftig zu gewährleisten, ist es erstrebenswert die Nutzungsdauer von Straßen zu maximieren und Reparaturarbeiten, Verkehrseinschränkungen und Personalaufwand zu minimieren. „Die aktuellen Standardverfahren zur rechnerischen Auslegung von Straßenverkehrsflächen sind im Kern bereits etliche Jahrzehnte alt und ihr Umfang der Modellierung ist eingeschränkt“, erklärt Dr. Johannes Neumann, der die Forschungsgruppe gemeinsam mit Prof. Simon leitet. Es sei daher notwendig, numerische Simulationsmodelle zu entwickeln, die als Werkzeuge für die effiziente Entwicklung neuer Baustoffe, aber auch zur Weiterentwicklung bestehender Baustoffe eingesetzt werden können.
Überblick: Weitere Aufgabenstellungen der Forschungsprojekte sind auf der Webseite zusammengefasst.