Die Reparationszahlungen des Ersten Weltkrieges endeten 2010
Der Historiker Georg Eckert über die Verabschiedung des Dawes-Plans vor 100 Jahren
Um Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich wieder auf die Beine zu helfen, wurde am 16. August 1924 in London der sogenannte Dawes-Plan unterschrieben. Warum heißt der so, und was beinhaltete er?
Eckert: Der Dawes-Plan regelte die Reparationszahlungen nach dem Krisenjahr 1924 und legte die notorisch umstrittene Reparationshöhe fest. Sein Kern bestand in einer Anleihe, die Deutschland wieder kreditwürdig und dadurch auch wieder zahlungsfähig machte. Benannt ist er nach dem Amerikaner Charles Gates Dawes, der eine steile Karriere in Politik und Wirtschaft gemacht hatte – zuletzt als Direktor des mächtigen Bureau of the Budget. Nun entsandte man ihn als Sachverständigen in die Reparationskommission der Alliierten. Unter seiner Leitung entstand zunächst ein Gutachten, von Autoren, die beanspruchten, „als Geschäftsleute“ und eben nicht als Politiker an ihre Aufgabe herangegangen zu sein. Ein solches Mandat just für einen Finanzexperten ist aufschlussreich – und auch, dass Dawes den Friedensnobelpreis für das Jahr 1925 erhielt. Mit dem Dawes-Plan gelang es, Deutschland nach dem fatalen Krisenjahr 1923 wieder als einen leistungsfähigen Akteur in die internationale Finanzwirtschaft zu integrieren. So half er nicht allein Deutschland, das die zugleich neu festgelegten Reparationen nun zuverlässig zurückzahlen konnte, wieder auf die Beine.
Woher kamen die Kredite?
Eckert: Zweierlei Kreditarten sind hier zu erwähnen. Einmal sah der Dawes-Plan eine internationale Anleihe in Höhe von 900 Millionen Reichsmark vor, mit denen nach der fatalen Hyperinflation die Deckung der Reichsbank gestärkt werden sollte. Das schuf Vertrauen und ermöglichte andererseits erst andere, wesentlich größere Kreditflüsse. Vor allem amerikanische Banken und Firmen investierten nun in Deutschland. Davon profitierten die deutsche Wirtschaft, amerikanische Investoren und zugleich die alliierten Reparationsempfänger. Erträge aus Zöllen, Steuern und Schuldverschreibungen sicherten die Reparationszahlungen. Damit sie geleistet werden konnten, wurden – und das ist heute kaum mehr vorstellbar – Reichsbank und die damals hochprofitable Reichsbahn in Aktiengesellschaften umgeformt.
Der Plan sah vor, dass Deutschland im Jahr 1924 zunächst eine Milliarde Goldmark zurückzahlte. Bis 1928 sollte sich die Summe auf bis zu 2,5 Milliarden Goldmark steigern. Das Problem dabei: Im Dawes-Plan wurde kein Ende der Zahlungen festgesetzt. Bedeutete das nicht ständige Knechtschaft?
Eckert: Schon die Zeitgenossen übten Kritik gerade an dieser Unbestimmtheit, die man auch Flexibilität nennen könnte, weil die Zahlungen nun an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands orientiert waren. Ungleich schärfere Kritik sollte sich wenige Jahre später gegen den Young-Plan formieren (benannt nach einem weiteren Finanzexperten, dem General-Electric-Chef Owen D. Young, der bereits am Dawes-Plan mitgeschrieben hatte). Angesichts der existentiellen Nöte im Krisenjahr 1923 waren die Akteure auf allen Seiten jedoch vergleichsweise kompromissbereit. Im Reichstag gab es zwar vehemente Gegenstimmen, aber am Ende eben doch eine Zweidrittelmehrheit für den Dawes-Plan. Immerhin beinhaltete er auch das definitive Ende der Ruhrbesetzung im Jahre 1925. Vor allem half die Akzeptanz des Dawes-Planes, dass die Wirtschaft der Weimarer Republik nun plötzlich boomte. So ganz golden waren die Mittzwanziger zwar nicht, aber eben doch eine Phase der Erholung.
Die hohe Arbeitslosigkeit blieb trotz wirtschaftlichen Aufschwungs bestehen. Warum?
Eckert: Es kommt sehr auf die Zeitpunkte an, zu denen man die Arbeitslosenraten vergleicht; auf dem damaligen Arbeitsmarkt gab es zum Beispiel erheblich stärkere jahreszeitbedingte Schwankungen als heute – vor allem Landwirtschaft und Baugewerbe waren wesentlich bedeutsamer. Zunächst einmal sank die Arbeitslosigkeit im Reich rapide, stieg dann allerdings ab 1927 wieder massiv an. Das lag aber keineswegs am Dawes-Plan. Er wirkte vielmehr als Konjunkturverstärker, denn er brachte amerikanisches Kapital nach Deutschland und setzte vor allem ein Signal der Zuversicht. Nun schien ein neues Zeitalter internationaler Kooperation eingeleitet, aus dem Optimismus und Investitionsbereitschaft erwuchsen.
Eigentlich stand doch von Anfang an fest, dass die Summe von 2,5 Milliarden Mark gar nicht aufzubringen war, oder? Und wie hängt die Bankenkrise ab 1929 damit zusammen?
Eckert: Auch diese Kritik führten bereits Zeitgenossen an – wobei gerade manche deutsche „Erfüllungspolitiker“ darauf spekulierten, die Alliierten würden auf unleistbare Forderungen eher früher als später verzichten. Tatsächlich bedeutete der Dawes-Plan mit Blick auf die Reparationszahlungen für Deutschland eine Verbesserung. Der Streit, ob die Raten realistisch angesetzt waren, zieht sich gleichwohl bis in die jüngere Forschung. Er hat wichtige Perspektiven eröffnet, doch er ist insofern müßig, als man die Ratenhöhe unmöglich von anderen Faktoren isolieren kann. Die ebenfalls nicht auf eine Ursache zu reduzierende Bankenkrise, die bald nach dem Schwarzen Donnerstag aus den Vereinigten Staaten nach Europa schwappte, ging jedenfalls mitnichten von Deutschland aus. Man könnte sagen, sie erfasste Deutschland und traf es so hart, gerade weil der Dawes-Plan so erfolgreich war: Nicht die Reparationszahlungen wurden nun zum gewaltigen Risiko, sondern die zahlreichen amerikanischen Kredite. Investoren aus den Vereinigten Staaten zogen ihr Kapital plötzlich kurzfristig aus Deutschland ab – das hier aber vielfach mittelfristig gebunden war. Es fehlte nun schlichtweg an Devisen und überhaupt an Geld. Deutschland erlebte nach der Hyperinflationskrise des Jahres 1923 in der Weltwirtschaftskrise eine fast ebenso fatale Deflation.
Man mag es kaum glauben, aber die letzten Zahlungen leistete das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen erst im Oktober 2010. Welche Gründe gab es dafür?
Eckert: Das Gros der Reparationszahlungen wurde infolge der Weltwirtschaftskrise erlassen, vor allem auf Druck amerikanischer und britischer Investoren. Sie bewirkten einen Schuldenschnitt mit dem Argument, dass die Aufrechterhaltung immenser Reparationsforderungen selbst den Empfängerstaaten wirtschaftlich mehr schaden als nutzen würde. In diesen Schuldenerlass nicht eingeschlossen waren die Anleihen aus dem Dawes-Plan und dem Young-Plan sowie auch die Kreuger-Anleihe: Das waren ja im eigentlichen Sinne keine Reparationszahlungen, sondern Investments. Gleichwohl oder gerade deshalb bediente die NS-Regierung sie nicht mehr. Erst die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat tilgte diese Schulden bis zum Jahre 1983, rund 1,5 Mrd. DM. So hatte es das Londoner Schuldenabkommen aus dem Jahre 1953 verfügt. Der Westen hatte aus der Debatte um leistbare Reparationszahlungen gelernt. Sie wurden nun nämlich so niedrig festgelegt, dass der bundesdeutsche Haushalt davon keinesfalls überfordert werden konnte. Zugleich stundete man die zwischen 1945 und 1952 aufgelaufenen Zinsrückstände, rund 239 Mio. DM, bis zu dem Moment, in dem Deutschland wiedervereinigt würde. Folglich wurden die Zahlungen im Jahre 1990 sogleich wieder aufgenommen, die letzte Rate wurde deshalb just am Tag vor der 20. Wiederkehr der Deutschen Einheit beglichen.
An wen gingen denn eigentlich die Gelder?
Eckert: Es sind unterschiedliche Zahlungsströme, die einander teils überkreuzten – genau darin bestand die Logik des Dawes-Plans. Die eigentlichen Reparationszahlungen waren an die einstigen Kriegsgegner zu leisten, aber der Kern des Dawes-Plans und der weiteren Arrangements bestand in drei Anleihen: der Dawes-Anleihe, der Young-Anleihe und der Kreuger-Anleihe. Mit Ivar Kreuger investierte ein schwedischer Tycoon, der im Gegenzug das Zündwarenmonopol bekam. Bis 1983 durften in Deutschland nur „Schwedenhölzer“ verkauft werden. Darin zeigt sich das Prinzip, das der Dawes-Plan sich zu eigen gemacht hatte, besonders deutlich. Die Reparationen waren nur ein Aspekt des Deals, letztlich wurden Schulden zwischen Staaten hier zu transnationalen Investitions-Geschäften erweitert.
Weiß man eigentlich, wieviel im Laufe der Jahre überhaupt gezahlt wurde?
Eckert: Einerseits lassen sich die Summen gut nachvollziehen, andererseits bestanden die Reparationen gemäß dem Versailler Vertrag nicht nur aus Devisenzahlungen, sondern teilweise auch aus Sachleistungen. Da wird die Berechnung komplizierter. Es dürfte sich um etwa 25 Milliarden Reichsmark handeln, also nur ein Bruchteil der Summe von 132 Milliarden Goldmark, die im Jahre 1921 festgelegt worden war. Natürlich ist das ein gewaltiger absoluter Betrag, aber wenn man sich darauf zu sehr fokussiert, gerät etwas anderes aus dem Blickfeld: Die Reparationszahlungen zirkulierten ebenso wie die Dawes-Anleihe etc. in globalen Finanzströmen. Der entscheidende Akteur – und auch der große Gewinner – waren jedenfalls die Vereinigten Staaten von Amerika. Amerikanische Investoren gaben die Kredite, die ihrerseits die deutsche Wirtschaft so leistungsfähig machten, dass Deutschland die ihm auferlegten Reparationen an die Alliierten in Europa zahlen konnten, die damit wiederum zu einem erheblichen Teil die enormen Schulden beglichen, die sie im Ersten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten aufgenommen hatten.
Der Dawes-Plan ist auch heute bei Historikern umstritten. Manche sagen, dass die Reparationen eher politisch als ökonomisch zur Instabilität der ersten deutschen Demokratie beigetragen hätten. Wie sehen Sie das?
Eckert: Zweifellos blieben die Reparationsforderungen eine enorme Bürde für Deutschland; der Dawes-Plan verminderte sie zwar und machte die Erfüllung besser planbar. Letztlich aber sorgte er für einen weiteren Devisen-Abfluss, oder anders gesagt, für eine enorme Auslandsverschuldung, die am Ende die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland verschlimmerte. Ohne diese fatale ökonomische Depression hätten die Stimmen derjenigen, die nun politische Kampagnen gegen die Reparationen führten, wohl weitaus weniger Nachhall gefunden. Zunächst nämlich stabilisierte der Dawes-Plan die Wirtschaft, in Deutschland wie international; er bedeutete einen Politikwechsel bei den einstigen Alliierten, wie ihn etwa der britische Ökonom John Maynard Keynes schon lange gefordert hatte. Der Dawes-Plan stärkte das Vertrauen in Wirtschaft wie in Politik, er schuf Verlässlichkeit, für Staaten wie für private Investoren, und aus ihm erwuchsen neue Verflechtungen zwischen den einstigen Kriegsgegnern. Kooperation war in diesem Rahmen erfolgversprechender als Konflikt. Folgerichtig wurden die immensen finanziellen Forderungen an die Weimarer Republik im Laufe der Weltwirtschaftskrise de facto aufgehoben. Doch das verfing nicht. Gerade die Regierung Hitler verwies unablässig darauf, wie sehr Deutschland diskriminiert worden sei, während ab dem Beginn der 1930er Jahre schon längst keine Zahlungen mehr geleistet wurden. Mit dem Verweis auf die Reparationen ließen sich Ressentiments schüren, und manche davon dürften sich bei der Ausplünderung besetzter Länder im Zweiten Weltkrieg geltend gemacht haben.
Uwe Blass
Dr. Georg Eckert studierte Geschichte und Philosophie in Tübingen, wo er mit einer Studie über die Frühaufklärung um 1700 mit britischem Schwerpunkt promoviert wurde, und habilitierte sich in Wuppertal. 2009 begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Geschichte und lehrt heute als Privatdozent in der Neueren Geschichte.