Eine funktionierende Demokratie braucht keine Helden
Der Politikwissenschaftler Volker Mittendorf über Politische Systeme und die Bedeutung von Wahlen
Am 26. September finden die Bundestagswahlen in Deutschland statt. Tiefgreifende Veränderungen stehen bevor, denn die „reinen Volksparteien wird es in Zukunft nicht mehr geben“, sagt zumindest der Politikwissenschaftler Dr. Volker Mittendorf, der sich an der Bergischen Universität mit Politischen Systemen befasst. Wie sie entstanden und sich verändern, weiß der gebürtige Hesse sehr genau.
Der Begriff des Politischen Systems ist noch gar nicht so alt. Entstanden sei er ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Beobachtung heraus, dass es bestimmte Prozesse gebe, deren Anfangs- und Endzustände feststellbar seien. „Aber das, was dazwischen passiert, das kann man nicht so genau beobachten und für diesen Bereich dazwischen, hat sich der Begriff des Politischen Systems entwickelt.“ Man könne in diesem Zusammenhang nie von gut oder schlecht sprechen, denn es gehe immer darum, wer über gut und schlecht entscheide, daher sei es sinnvoller das Zusammenspiel von den unterschiedlichsten Elementen zu bewerten, die ein System funktionsfähig oder dysfunktional machten. „Und bei der Dysfunktionalität ist dann die Frage, ob sie durch interne Auf- oder Umbaumaßnahmen wieder zu stabilen Verhältnissen geführt hat oder ob sich diese Instabilität hochschaukelt und unter Umständen zu einem vollständigen Systemversagen führt.“ Der Begriff des Politischen Systems sei dabei nicht nur auf Nationalstaaten, sondern auch auf das weltpolitische System anwendbar. Vor diesem Hintergrund ließe sich gut beobachten, dass es sich in Deutschland seit 1949 als relativ schnell stabil und über die Zeit auch als umbaubar erwiesen habe. „Es hat immer wieder Herausforderungen gegeben, auf die das Politische System in diesem Sinne gut reagiert hat, anders als etwa die Weimarer Republik in den 30er Jahren“, erklärt er. Die Weimarer Verfassung sei zwar formal als Verfassung noch weiter in Kraft gewesen, aber dann in eine Diktatur umgebaut worden und das könne man empirisch messen.
Politische Systeme werden seit der Antike verglichen und klassifiziert
Die Herangehensweise, um Regierungs- und Staatsformen zu erklären ist dabei sehr unterschiedlich. Beginnend mit Aristoteles, der von einer logischen Herleitung der Begriffe ausging, verbinde man bis heute gute und schlechte Staatsformen mit der Frage nach den Entscheidern. Ist es einer, sind es wenige oder gar viele? „Das ist eine Regierungsformenlehre, die wir bis heute in der Politikwissenschaft vermitteln“, erklärt Mittendorf. „Dieser Grundgedanke, vor dem Hintergrund von solchen theoretischen Überlegungen, die Realität zu bewerten, ob eine Staatsform gut oder schlecht ist, ist immer wieder eine spannende Frage.“
Die Politikwissenschaft vermittele – vereinfacht gesprochen – drei wesentliche Denkschulen, die Prozesse miteinander vergleichen können. In der klassischen, normativ-ontologischen Denkschule gehe man davon aus, dass es ein objektiv Gutes oder Böses gibt. Und worin dies auch immer bestehe, sei es die Aufgabe des Wissenschaftlers, diese Norm herauszuarbeiten, festzulegen und dann zu beurteilen, ob ein Staat dieser guten oder schlechten Staatsformlehre entspreche. „Es gibt darüber hinaus mindestens zwei weitere Hauptdenkrichtungen, also erkenntnistheoretische Grundpositionen.“ Da wären Hegel und auch Marx zu nennen mit eher dynamisierenden Prozessen, denn „was gut und was schlecht ist, verändert sich gemäß dieser Auffassung mit der Zeit“, erklärt der Fachmann, „kann mal auf der einen, mal auf der anderen Seite sein. Diese Dialektik sorgt dafür, dass sich die Welt weiter voran entwickelt.“ Die dritte Haltung schließlich entspreche mehr dem modernen wissenschaftstheoretischen Denken und sei die Unterscheidung zwischen der subjektiven und empirisch wahrnehmbaren Wirklichkeit. Alle drei Perspektiven haben in der Lehre nach wie vor ihren Platz und bereichern die Politikwissenschaft.
Mehrere Demokratisierungswellen bis zu den 90ern
Ob ein Staat nun als Staat funktioniere und damit als Politisches System weiter existiere, könne man über sogenannte Staatsstabilitätsindizes wie etwa dem „Fragile States Index“ beobachten. Dabei stelle man auch erstaunlicherweise fest, dass sowohl Autokratien als auch Demokratien in ihrer Funktion meist in einem eher stabilen Zustand seien. „Der Übergang von einer Demokratie zur Diktatur ist relativ leicht herzustellen. In der anderen Richtung ist es oftmals schwieriger und ist nicht selten von Instabilität begleitet. Und wenn wir diese verschiedenen Indizes miteinander vergleichen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass es mehrere Wellen von Demokratisierung, in den 90er Jahren war es die dritte Welle, gegeben hat,“ aber „momentan sieht es ein bisschen wieder so aus, als befände sich die Stabilisierung der weltweiten Demokratien wieder auf dem Rückweg. Das gilt auch für einige Staaten in Europa, wo es erste Anzeichen gibt, dass die vormals stabile Demokratie brüchiger wird.“
Verfassungsanspruch – Verfassungswirklichkeit - Verfassungsverwirklichung
Entscheidend für die Einordnung eines politischen Systems ist nie die festgeschriebene Verfassung allein, sondern vor allem die sogenannte Verfassungswirklichkeit. Dieser Begriff sei in Deutschland letzten Endes kein politikwissenschaftlicher, sondern ein staatsrechtlicher Begriff und komme aus der rechtsphilosophischen Lehre. „Es gibt immer den Verfassungsanspruch, dem die Verfassungswirklichkeit gegenüber steht und dann als drittes in die Verfassungsverwirklichung übergeht.“ Der Staatsrechtler und auch der Politikwissenschaftler, der sich damit auseinandersetzt, solle immer auf den Verfassungstext schauen, aber die Wirklichkeit im Auge behalten, denn auch Gerichtsurteile seien veränderbar. Somit sei der Dreierschritt ständig im Fluss, denn wenn sich Verfassungen änderten, entstehe auch wieder ein neuer Verfassungsanspruch. Aktuelle Beispiele der jüngsten Zeit seien die Themen Kinderrechte und Klimaschutz. „Das sind Verfassungsansprüche, die dann in der Rechtssprechungspraxis ggfls. eine Tendenz bewirken“, sagt Mittendorf. Das Verfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutz kann da als bahnbrechende Entscheidung angesehen werden. Es besagt, dass nicht nur die künftige Generation allein mit den Kosten belastet werden dürfe. Dieser Anspruch sei quasi in die bestehende Verfassung hineininterpretiert worden. Um das Klimaziel tatsächlich erreichen zu können, entstehe nun eine heftige Debatte, die man mit den Begriffen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsverwirklichung gut beschreiben könne.
Manipulationsanfälligkeit Politischer Systeme
Fragt man nach der Manipulationsanfälligkeit Politischer Systeme, hat man schnell Namen wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan im Kopf, die scheinbar Verfassungsänderungen problemlos umsetzen, um auf Lebenszeit im Amt zu bleiben. „Sie sind vor allem gut darin, die Verfassung oder den Verfassungsanspruch umzuschreiben“, erklärt Mittendorf. Das habe aber weniger mit Manipulation, sondern vielmehr mit Macht zu tun. Macht sei überall in der Gesellschaft vorhanden. Sobald jemand dem Willen eines anderen entspreche, sei bereits Macht ausgeübt worden. In einer Drohung stecke beispielsweise Macht. „Sobald Machtressourcen in der Gewaltenteilung nicht mehr gleichmäßig verteilt sind, verändern sich Politische Systeme. Wenn es den Unterstützern dieser Machtmenschen gelingt, die Folgebereitschaft in der Bevölkerung zu mobilisieren, dann gelingt es ihnen auch, die Macht zu monopolisieren und die Gewaltenteilung auszuhebeln. Das sehen wir bei Putin, Erdogan, der trotz ökonomischer Prozesse, die seine Macht schwinden ließen, es verstanden hat, mit der Umdefinition seines Präsidentenamtes nach dem Putsch, seine Person zu stärken. Und teilweise haben wir Ähnliches auch bei Trump erlebt.“
Helden braucht es nur dort, wo Politik mit Angst funktioniert
„In einem liberalen Rechtsstaat mit einer sehr gut ausgebauten Demokratie, ist die Angst vor der Regierung nicht die wesentliche Triebkraft“ sagt der Wissenschaftler. Es gebe zwei wesentliche Quellen, durch die man ein Politisches System unterstützen könne. Das sei einmal die Angst vor negativer Sanktion, wenn ich etwas mache, und das andere sei die Unterstützung, weil ich es für richtig halte. „Eine funktionierende Demokratie braucht keine Angst“, sagt Mittendorf bestimmt, „und eine gute Demokratie braucht auch keine Helden.“ Helden brauche es nur dort, wo Politik mit Angst funktioniere. „Erdogan hat offensichtlich nur die Hälfte der Bevölkerung auf seiner Seite, bei den anderen dominiert die Angst. Ähnlich ist es auch bei Putin, wo es nicht von ungefähr kommt, dass Alexei Nawalny, als der Anschlag auf ihn verübt wurde, mit einem Gift getötet werden sollte, was nur dem Militär Russlands zur Verfügung steht. Das ist eine Geschichte, die bei jedem Nachahmer Angst erzeugt.“
Volkssouveränität vor Herrschaftssystem
Vor kurzem wurde Präsident Assad nach offiziellen Angaben mit unglaublichen 95,1 Prozent in seinem Präsidentenamt bestätigt, obwohl er seit 2011 den Bürgerkrieg nicht beenden kann oder will. Da stellt sich die Frage, wozu Wahlen überhaupt durchgeführt werden. Dazu Mittendorf: „Seit die Volkssouveränität den Glauben an göttlich legitimierte Herrschaftssysteme abgelöst hat, seitdem ist der Wahlakt ein ganz wesentliches Element, um die Legitimität für Herrschaft aufrecht zu erhalten. Weder Putin, Erdogan noch Assad können darauf verzichten, dass es eine Fiktion dieser empirischen Zustimmung durch die Bevölkerung gibt.“ In Syrien müsse man eher fragen, wer die 4,9% der mutigen Menschen seien, die nicht für Assad gestimmt hätten, denn auch eine Wahlverweigerung sei schon oppositionell zu deuten und wer gar auf ein Wahlgeheimnis poche, sei bereits verdächtig. Der Wahlakt an sich müsse immer so gestaltet sein, dass er und das Zustandekommen des Ergebnisses transparent seien, also von jedermann überprüfbar als allgemein, frei, gleich, direkt und geheim gesehen werde und unter der Voraussetzung guter Information stattfinden könne. Nicht ohne Grund kontrollierten diese Regime die Berichterstattung der Medien und manipulierten die Justiz. „Und solche Prozesse finden wir auch in Europa“, leitet Mittendorf über, „Polen, Ungarn, z.T. vielleicht auch Österreich. Wem es gelingt, den Wahlakt so zu manipulieren, dass die Leute zustimmen, obwohl es nicht ihre reflektierte Meinung ist, der kann sich auch an der Macht halten. Es gibt eben keine Gesellschaft mehr, die sich auf einen göttlichen Ursprung beruft.“
Deutschlands Machtverhältnisse nach der Bundestagswahl
Am 26. September sind Bundestagswahlen. Die Ära Merkel ist zu Ende, bei den Grünen steht die erste Frau in den Startlöchern, die Sozialdemokraten rutschen weiter ab, die Rechten haben bereits in Sachsen ein zweistelliges Wahlergebnis erzielt. Der Soziologe Max Weber sagte 1919: „Politik ist das Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung…“. Wie werden sich die Machtverhältnisse in Deutschland im Herbst verschieben? „Generell sieht man, dass sich die gesamten Kräfteverhältnisse von den klassischen Volksparteien weg entwickeln. Das ist der ganz große Trend, der schwer zu leugnen ist“, erklärt Mittendorf. Das habe bei der SPD schon vor über 30 Jahren begonnen, als mit den Grünen eine zweite linke Partei, die quasi eine Gegenposition verfolgte, entstand und dann nach der Wende die spätere Linke dazukam. Damit gab es zwei weitere Positionen, durch die die Volkspartei ihre alte Bindungskraft verlor. „Es ging nicht mehr nur um rechts und links, sondern da kam die Ökologie und die Friedensbewegung bei den Grünen dazu und auch die Verteilungsproblematik nach der Wende bei der Linken hat sich als Nachhaltig erwiesen.“ Mit der AfD, die zunächst erst einmal dezidiert eine andere europapolitische Perspektive vertreten habe und die europäische Integration als problematisch dahingehend gesehen hat, dass dadurch, die durch sie vertretene bestimmte Gruppe nicht mehr genug Unterstützung erfahren habe, sei auch der Volksparteiencharakter der CDU problematisch geworden. „Die reinen Volksparteien wird es in Zukunft in dieser Form nicht mehr geben. Die Machtverteilung wird sich sehr stark mit den Veränderungen in den Kommunikationsprozessen, also mit den sozialen Netzwerken und den Sozialen Medien auseinandersetzen müssen und dabei transparenter werden.“ Schwierig könne es jedoch dann werden, wenn sich der Trend hin zur Personalisierung einzelner Politiker*innen verstärke. „Eine Demokratie ohne Helden funktioniert dann am besten, wenn jeder seine Sachansprüche umsetzen kann und die Sachfragen und Sachdebatten im Zentrum stehen.“ Dem gegenüber stehen jedoch die Debatten in den sozialen Netzwerken über Follower bestimmter Leute. „Follower kann man auch als eine spezifische Unterform von Macht betrachten. Wer besonders viele Leute hinter sich scharen kann, dem wird ein Charisma zugesprochen und dem werden auch eher Sachen geglaubt, die man heute gerne als Fake News bezeichnen würde“, sagt der Forscher. An dieser Stelle könnten Bürgerbeteiligungsprozesse, deren zentrale Forschung an der Bergischen Universität stattfindet, den Sachaspekt wieder vor den Personenaspekt stellen, denn, sagt Mittendorf, „davon müssen wir wegkommen und die langfristigen Probleme, die wir ja haben, angehen. Wir haben mit der Globalisierung, der zunehmenden Ungleichverteilung weltweit, dem menschengemachten Klimawandel und dem Artensterben riesengroße Probleme. Diese langfristigen Aufgaben und die damit verbundene internationale langfristige Sicherheitsarchitektur müssen im Fokus bleiben und dafür müssen auch transnationale Prozesse entwickelt werden.“
Die Wahl wird neue Allianzen nötig machen, den klassischen, in einem Arbeiterhaushalt sozialisierten Wähler gibt es heute ebenso wenig, wie den katholischen CDU-nahen Stimmbürger. Eine Rückkehr zu den dringlichen Sachfragen jedenfalls würde unserer Demokratie guttun.
Uwe Blass (Gespräch vom 14.06.2021)
Dr. Volker Mittendorf ist Akademischer Rat an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). Er ist stellvertretender Leiter des Instituts für Demokratie und Partizipationsforschung (IDPF) an der BUW. Seine Forschungsfelder umfassen das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, Lokale Politikforschung, Partizipation, Effekte direktdemokratischer Verfahren und Argumentationsmuster in der Wahlkampfkommunikation.