Gründungsheld oder Diktator –
Vor 100 Jahren starb Wladimir Iljitsch Lenin
Ein Interview mit dem Historiker Dr. Georg Eckert
Am 21. Januar 1924 starb Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin in Gorki bei Moskau mit 54 Jahren, nach einem durchaus bewegten Leben. Wie kam er zur Politik?
Eckert: Zu welthistorischer politischer Wirksamkeit gelangte Lenin in einem plombierten Zugwagen, der ihn im April 1917 von der Schweiz aus über Deutschland und Skandinavien nach Sankt Petersburg brachte: nach der Februarrevolution, mit der die Zarenherrschaft geendet hatte. Darauf hatten gerade jüngere Revolutionäre lange hingearbeitet, auch in der Familie Uljanow. Während Lenin im Jahre 1887 für sein glänzend bestandenes Schulabschlusszeugnis lernte, wurde sein älterer Bruder hingerichtet – aufgrund seiner Mitwirkung an Plänen, Zar Alexander III. zu ermorden. Beileibe nicht nur in Lenins Umgebung galt das Zarentum als eine Autokratie, die wenigstens reformiert, am besten aber beendet werden müsse, um endlich die Rückständigkeit Russlands zu überwinden. Politisiert wurde Lenin also bereits in seiner Jugend.
Schon mit 17 Jahren ging er in den Untergrund. Warum?
Eckert: Untergrund ist zunächst einmal ein großes Wort. Der Lenin, den wir kennen, ist vor allem ein Mythos – zielgerichtet erzählt auf die später erfolgreiche Revolution hin. So diskriminiert und verfolgt, wie ihn zumal die kommunistische Propaganda später zu Heroisierungszwecken darstellte, war der junge Lenin nicht. Gleichwohl hat die Hinrichtung seines Bruders, mit der die zaristische Justiz ein Exempel statuieren wollte, ihn keineswegs abgeschreckt; sie festigte eher seine Überzeugung, es handle sich um eine Despotie. Vielmehr radikalisierte sich Lenin mit Beginn seines rechtswissenschaftlichen Studiums in Kasan, angeregt durch radikale Gestalten und radikale Texte; namentlich diejenigen von Karl Marx und Friedrich Engels. Lenin eignete sie sich teils in der Adaption Georgi Plechanows an, der die russische Tradition der sozialrevolutionären Narodniki integrierte, teils sogar durch eigene Übersetzungen, wie sie auch sein hingerichteter Bruder erstellt hatte. Es waren Texte, die einen offenen Aufstand befürworteten, eben die glorifizierte „Diktatur des Proletariats“.
Er hielt sich oft im Exil in der Schweiz und auch in Deutschland auf. Was machte er dort?
Eckert: Immer wieder geriet Lenin in Konflikt mit der russischen Staatsmacht, auch wenn er selbst und die spätere kommunistische Propaganda erfolgreich vergessen gemacht haben, dass er bei allen Gegensätzen doch ein vorzügliches Universitätsexamen ablegen konnte. Seine Familie gehörte durchaus zu einer Elite des Zarenreiches, die allerdings eher auf Reformen hinarbeitete – anders Lenin, der nun eine Plattform für seine revolutionäre Agitation suchte und auch fand. Insbesondere in der Schweiz und in Deutschland hatten so manche russische Exilanten ihren Wirkungsort. Eine Bohème erfreute sich dort jeweils an radikalen Personen und Positionen, beispielsweise in Zürich, das zu einem Zentralort revolutionärer Agitatoren wurde, ebenso im Münchener Stadtteil Schwabing.
1902 veröffentlichte er in München die programmatische Schrift ´Was tun?` unter dem Decknamen ´N. Lenin`, die ihn in Revolutionärskreisen sehr bekannt machte. Was bezweckte er damit?
Eckert: Sicherlich ging es Lenin auch darum, so etwas wie die Meinungsführerschaft zu erringen und sich als besonders eifriger Revolutionär zu profilieren: Das signalisierte auch die Wahl seines Kampfnamens „Lenin“, den man so verstehen konnte, dass sein Träger „von der Lena“ stamme, also nach Sibirien verbannt worden war. Jedenfalls forderte er eine verschworene Avantgarde von Berufsrevolutionären, die sich im Geheimen zu einer schlagkräftigen Kaderpartei organisieren sollte, von bisherigen Bewegungen unterschieden durch strikte Disziplin und Tatkraft. Nicht nur theoretisch pflegte Lenin einen besonderen Rigorismus, sondern eben auch praktisch. Im Jahre 1903 betrieb er erfolgreich die Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands auf einem in London abgehaltenen Parteitag: als Vormann der radikalen „Bolschewiki“ („Mehrheitler“), die sich gegen die zögerlichen „Menschewiki“ („Minderheiten“) durchgesetzt hätten.
Bereits am 4. Juni 1917 verkündete Lenin im Rahmen des 1. Allrussischen Sowjetkongresses die Ambition der Bolschewiki, die Macht im Land zu übernehmen. Seine Forderungen nach einer Verteilung des Landes an die Bauern ohne Entschädigung und nach der Enteignung der reichsten Bevölkerungsschicht wurden rasch populär. Dabei hatte er sich mit den Problemen der Bauern immer nur theoretisch beschäftigt, oder?
Eckert: Lenin war einerseits ein „Theoretiker“, gleichermaßen in seinem Blick auf Probleme ländlicher wie städtischer Arbeiter. Nur wusste er eben um die Deutungsmacht seiner Theorien, die „Diktatur des Proletariats“ klang für viele verheißungsvoll. Andererseits war er ein „Praktiker“, der sehr genau überlegte, wie sich große Wirkungsmacht gewinnen lasse, und seine Lehren auch rasch anzupassen wusste – auf seine Initiative ging beispielsweise auch die Gründung der „Prawda“ („Wahrheit“) zurück, die bald zum Zentralorgan der KPdSU werden sollte. Mit radikalen Forderungen vor allem nach einer entschädigungslosen Enteignung von Vermögenden verlieh er seinen Ambitionen populären Nachdruck. Resonanz fanden Lenins Parolen erst recht, als nach der gescheiterten Kerenski-Offensive im Juli 1917 die Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg besiegelt war. Nun zerplatzten so manche Illusionen einer gemäßigten bürgerlichen Reformpolitik endgültig, Lenins Appelle wie schon die „April-Thesen“ griffen eine weitverbreitete Friedenssehnsucht auf und wirkten auf viele überaus attraktiv.
1917 kehrte er durch den Sturz des Zaren zurück ins Reich. Unter seiner Führung gelang den Bolschewiken in der Oktoberrevolution die Macht. Wie lief das damals ab?
Eckert: Schon mit der besagten Verkündung hatte Lenin demonstriert, dass er für Kompromisse nicht zu haben war: weder in Sach- noch in Machtfragen. Systematisch destabilisierte seine Partei im Laufe des Jahres 1917 die bürgerliche Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution die sogenannte „Doppelherrschaft“ ausgeübt hatte, gemeinsam mit dem Petrograder „Sowjet“, einer Vertretung von Arbeitern und Soldaten, deren Kriegsmüdigkeit die Bolschewiki für sich zu nutzen verstanden. Ihr Juliputsch scheiterte noch, Lenin wirkte im Untergrund nunmehr auf einen bewaffneten Aufstand hin. Im November 1917 fühlten seine Bolschewiki sich stark genug für eine gewaltsame Revolution: Dass sie „Oktoberrevolution“ heißt, liegt daran, dass in Russland bezeichnenderweise immer noch der julianische Kalender galt. Wo Lenins Truppen nicht in der Mehrheit waren, wussten sie sich eine solche auch gewaltsam zu sichern. Ihre Kompromisslosigkeit, ganz im Sinne der Kaderpartei, wie Lenin sie gefordert hatte, festigte sich im nun ausbrechenden Bürgerkrieg. Vor dem Einsatz brutaler Gewalt scheuten sie keineswegs zurück, mehr noch, sie definierten sich daraus. Lenins besondere Risikofreude war dabei ein ganz wesentlicher Erfolgsfaktor, Skrupel oder Zweifel hegte er nicht.
In den Folgejahren rief er zum „Roten Terror“ auf und erklärte, dass sich die Anwendung von Gewalt aus der Aufgabe ergebe, die Ausbeuter zu unterdrücken: also „Gutsbesitzer“ und „Kapitalisten“. Auf seinen Befehl hin geht auch die Exekution der Zarenfamilie vom 16. auf den 17. Juli 1918 zurück. Hatte er da bereits den Boden unter den Füßen verloren?
Eckert: Lenin setzte auf die radikale Eigendynamik einer revolutionären Bewegung, die ihre volle Wucht erst entfalten konnte, wenn sie dem alten System den Boden entzog. Die Ermordung der längst abgedankten Zarenfamilie sollte verhindern, dass ihre Mitglieder im bereits tobenden Bürgerkrieg zu verbindenden Lichtgestalten der „Weißen“ würden, die zeitweilig Erfolge gegen die eilig aufgestellte Rote Armee erzielten. Es sollte kein Zurück geben können, gerade die rücksichtlose Enteignungspolitik und der bald einsetzende „Rote Terror“ – noch im Dezember 1917 war die Tscheka als Geheimpolizei eingerichtet worden – im Bürgerkrieg spiegeln diesen Zusammenhang wider. Lenins Parteikader bildeten eine Gewaltgemeinschaft und unterhielten ein harsches Regime, an dessen Destabilisierung sie kein Interesse haben konnten. Daraus erklären sich zu einem gewissen Grad die unbestrittene Führungsposition, die Lenin jenseits aller internen Auseinandersetzungen genoss, und eine bisweilen geradezu euphorische Rücksichtlosigkeit. In diesem Geiste schlug man im Jahre 1921 den Kronstädter Matrosenaufstand nieder, der gegen den unbedingten Machtanspruch der Kommunistischen Partei aufbegehrt hatte. Letztere übte längst eine diktatorische Herrschaft aus.
1922 war Lenin bereits sehr krank, als die Bolschewiki die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gründeten. Daran war u.a. ein Attentatsversuch Schuld. Was war geschehen?
Eckert: Bei einem Attentat am 30. August 1918 hatten Lenin zwei Kugeln schwer verletzt. Als Täterin wurde Fanny Kaplan hingerichtet, allerdings ohne jegliches Verfahren. Dass man die Gelegenheit nicht für einen Schauprozess nutzte, mag dem Chaos des Bürgerkriegs geschuldet sein – oder auch einem nur geringen Interesse, die Hintergründe aufzudecken. Lenin hatte sich mit seinem offenkundig gesetzwidrigen und undemokratischen Vorgehen einige Feinde gemacht. Jedenfalls folgte auf das Attentat ein Dekret, das den „roten Massenterror“ ausrief. Er stabilisierte die prekäre Herrschaft der Kommunisten, die sich im erbittert geführten Bürgerkrieg mit Millionen von Todesopfern bald durchsetzten, ausländischen Interventionen zum Trotze.
Als er 1924 starb wurde seine Leiche einbalsamiert und ruht bis heute, für die Öffentlichkeit sichtbar, in einem Mausoleum. Warum war dieser Personenkult damals schon wichtig?
Eckert: Lenin hatte seit Mai 1922 mehrere Schlaganfälle erlitten, ein Jahr später konnte er bereits kaum mehr sprechen. Gleichwohl, vielleicht auch gerade deshalb, blieb der unberechenbare und mit dem Charisma des erfolgreichen Revolutionärs umgebene Lenin die große Integrationsfigur der KPdSU. Solange er lebte, wagten weder Stalin noch Trotzki einen offenen Machtkampf, der dann nach seinem Tod ausbrach. Beide aber bezogen sich ausdrücklich auf den „Leninismus“ als verbindliche Lehre der Partei und suchten sich als Lenins wirkliche Nachfolger zu stilisieren. Die Einbalsamierung Lenins, den man heute immer noch in seinem Mausoleum auf dem Roten Platz besichtigen kann, ist eine Facette eines Personenkults, der zur Machtsicherung dienen sollte. In diesem Zuge entstanden monumentale Denkmäler in großen Städten, aber auch auf dem Land. Statuen wurden gerade an Stauseen und Elektrizitätswerken errichtet, zunächst in der Sowjetunion, später auch im Ostblock.
Welche Bedeutung hat er heute in der Geschichtsschreibung?
Eckert: Nicht umsonst wurden nach dem Ende der Sowjetunion vielerorts genau diese Lenin-Statuen gestürzt, um dem Kommunismus das Fundament zu entziehen, auf dem er seine historische Bedeutung und Macht inszenierte. Der deutsche Erfolgsfilm über die Wende „Good Bye, Lenin!“ (2003) spielt genau mit diesem Motiv. Selbst in Russland hat Lenin heute nur noch wenige Fürsprecher, anders als Stalin, auf den sich etwa Wladimir Putin immer wieder bezieht. Lenin, den er sogar als Schöpfer der verhassten Ukraine benannt hat, gilt ihm als Verräter am Ideal einer russischen Großmacht. Also hat sich die Lenin-Rezeption stark verändert, nach einer langen Phase der Polarisierung. Die kommunistische Geschichtsschreibung betrachtete Lenin als Gründungshelden, andere ihn als einen brutalen Diktator, der eine totalitäre Herrschaft aufgebaut habe. Immer wieder ist dieser Antagonismus seither aufgeblitzt, denn Lenins Idee einer gut organisierten Kaderpartei fand in anderen revolutionären Bewegungen großen Widerhall, auch marxistische Historiker im Westen und nicht wenige „68er“ haben mit ihm sympathisiert. Zweierlei hat sich längst grundlegend geändert: Über Lenin wird derzeit vergleichsweise wenig geforscht, Stalins Herrschaft findet weitaus mehr Aufmerksamkeit (abgesehen davon, dass Archivforschungen in Russland seit dem Überfall auf die Ukraine ohnehin unmöglich sind), und wo über Lenin geforscht wird, geschieht das mittlerweile überwiegend in umsichtiger, kaum mehr ideologischer Weise.
Uwe Blass
Dr. Georg Eckert studierte Geschichte und Philosophie in Tübingen, wo er mit einer Studie über die Frühaufklärung um 1700 mit britischem Schwerpunkt promoviert wurde, und habilitierte sich in Wuppertal. 2009 begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Geschichte und lehrt heute als Privatdozent in der Neueren Geschichte.