Sechs Stimmen entscheiden die erste weibliche Professur in Deutschland
Prof`in Dr. Claudia Bohrmann-Linde über die Düngemittelforscherin Margarete von Wrangell
Als erste ordentliche Professorin Deutschlands überhaupt gilt die Düngeforscherin Margarete von Wrangell. Wer war diese Frau?
Bohrmann-Linde: Margarete von Wrangell stammte aus einer Adelsfamilie, war also in wohlsituierten Verhältnissen groß geworden, entsprechend auch gewöhnt, mit Personal umzugehen. Trotz dieser Privilegien hatte sie einen entscheidenden Nachteil in ihrer Zeit; und zwar ihr Geschlecht. Als Kind schon sehr wissbegierig, schlug sie eine für diesen Stand klassische Frauenlaufbahn ein. Sie war auf einer Mädchenschule, schloss ein Lehrerinnendiplom ab, fand dann aber in der weiteren Tätigkeit als Privatlehrerin keine Erfüllung. Sie bezeichnete diese Zeit als ´düster` und ´nicht lebenslohnend`. Ein Wendepunkt in ihrem Leben wurde dann ein vorgetäuschter Sanatoriumsaufenthalt in Greifswald. Dort nahm sie an einem Ferienkurs am Botanischen Institut an der Universität Greifswald teil. Das war ein Moment, wo sie ihre Leidenschaft für die Botanik und die Naturwissenschaften fand. An diesem Punkt wusste sie, wo ihre weitere Lebensreise hingehen würde.
1894 legte sie das Lehrerinnenexamen ab und unterrichtete an einer Mädchenschule. Erst 1903 entschied sie sich mit 27 Jahren zu einem Chemiestudium, was die Verwandtschaft als „verrückt“ bezeichnete. Warum wagte sie diesen Schritt?
Bohrmann-Linde: Das war genau dieses Erlebnis. Sie hat zuerst den Weg eingeschlagen, den man von Frauen in dieser Gesellschaft erwartete: eine frauentypische Bildung erlangen und standesgemäß heiraten. Mit 26 Jahren hatte sie diesen besagten „Sanatoriumsaufenthalt“, ein Jahr später begann sie ihr Studium. Das war alles jenseits dessen, was man von einer Frau in dieser Position erwartete und entsprechend „verrückt“. Für von Wrangell war es dann aber ein logischer Schritt. Doch es ergab sich ein Problem dabei, denn für die in Moskau und in der Gegend des heutigen Tallin aufgewachsene adelige Frau war ein Studium dort unmöglich. Sie nahm dann 1903 das Studium der Botanik und Chemie in Tübingen auf, der ältesten Universität Deutschlands. Diese Kombination war der Grundstein ihres späteren Wirkens. Von Wrangell war sehr erfolgreich und promovierte auch sehr bald.
Von Wrangell promovierte 1909 mit „summa cum laude“, arbeitete unbezahlt und wandte sich der Radiochemie zu. Wie kam es dazu?
Bohrmann-Linde: Zu diesen unbezahlten Arbeiten kann man auch in der heutigen Zeit Parallelen finden. Heute haben wir zwar in den Qualifizierungsphasen bezahltes Arbeiten, aber in der Regel nur auf Zeitverträgen. Man könnte die Zeit nach 1909 auch mit einer post-Doc-Zeit vergleichen, wenn man eine Analogie zu heute sehen möchte. Von Wrangell hatte sich in London bei William Ramsay wissenschaftlich betätigt, war danach auch kurz in Straßburg und hatte dann bei Marie Curie in Paris für sich ein neues Forschungsthema erschlossen. Marie Curie, übrigens die erste Professorin an der Sorbonne, war eine führende Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der radioaktiven Substanzen. Sie hat ihre Erkenntnisse auch für praktische Anwendungen genutzt. Es gab z.B. sogenannte Röntgenwagen, mit denen sie im Weltkrieg in die Nähe der Front gezogen war, um Untersuchungen machen zu können. Das war also ein modernes und angewandtes Thema, dem sich von Wrangell widmete, zudem durch Nobelpreisträger wie Ramsay und Curie auch prominent besetzt.
Sie wurde 1912 Leiterin der Versuchsstation des estnischen Landwirtschaftlichen Vereins, wo sie sich vornehmlich mit Phosphor beschäftigte. Warum gerade dieses chemische Element?
Bohrmann-Linde: Phosphor ist neben Stickstoff eines der wichtigsten Elemente, die wir für Düngemittel brauchen. Zunächst wollte von Wrangell gar nicht weg aus Paris, aber weil Marie Curie gesundheitlich sehr angeschlagen war, suchte sie nach neuen Möglichkeiten und es ergab sich ein, wie sie es nannte ´Dienst in der Heimat`, denn als Heimat erachtete sie noch immer die Gegend um Reval, also das heutige Tallin in Estland. Sie war dann in Reval als Leiterin zu einer Versuchsstation gebeten worden. 1912 war Verschiedenes klar: die Welt musste ernährt werden, die Bevölkerung wuchs stetig, es gab ständig Hunger und – und das ist ja auch heute aktueller denn je- man musste autark sein. Die größten Vorkommen an anorganisch gebundenem Phosphor, also Phosphate, gibt es heute übrigens in Afrika, China und den USA. Die Frage war: wie kommt man an Phosphor, den es dann für Pflanzen verfügbar zu machen galt? Von Wrangell forschte über Mineraldünger, der sich aus Phosphorsäure, Kalium und Stickstoff zusammensetzt und fand eine Methode, mit der die im Boden vorkommende Phosphorsäure aktiviert werden konnte.
Nach der Oktoberrevolution geriet sie in Haft, wurde von deutschen Truppen befreit und konnte ihre Experimente an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim fortsetzen. Von Wrangells Versuche waren nach dem verlustreichen Krieg von besonderer Bedeutung für die chemische Großindustrie. Warum?
Bohrmann-Linde: Kurz noch einmal zur Inhaftierung. Margarete von Wrangell hatte sich damals verweigert. Man muss sich das einmal vorstellen. Es kommen bolschewikische Truppen, wollen von Wrangells Institut unter ihre Leitung bringen und die übrigens deutschnational denkende Baltin zwingen, eine Unterschrift unter ein Dokument zu setzen. Sie hat sich dem vehement widersetzt und dazu bedarf es wirklich wahrer Größe, die sicherlich auch in ihrem Charakter begründet war. Sie wusste, dass sie dann arbeitslos sein würde und ins Gefängnis musste, und auch das hat sie in Kauf genommen. Was ihr damals und auch später half, waren Fürsprecher. In Deutschland, in Hohenheim gab es einen Direktor Hermann Warmbold, den sie schon aus Reval kannte. Der holte die dann arbeitslose Wissenschaftlerin zu sich ans Institut. Heute wie damals waren solche Netzwerke sehr wichtig. Damals lag Deutschland am Boden, es gab hohe Reparationszahlungen zu leisten, vieles musste wieder aufgebaut und die Bevölkerung ernährt werden. Da war die Düngemittelindustrie von großer Bedeutung.
1920 habilitierte die Agrochemikerin über „Die Gesetzmäßigkeiten der Phosphorsäureernährung von Pflanzen“ in Hohenheim und bekam eine Stelle am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie. Doch die Professorenschaft wehrte sich gegen die „Ausländerin“. Aus welchem Grund?
Bohrmann-Linde: Das sagt schon der Name Professorenschaft, welche eben nur aus Männern bestand Es war höchst ungewöhnlich, dass überhaupt Frauen eine leitende Position in Instituten innehatten ganz zu schweigen eine Professur. Das gab es bis dahin noch nicht. Ob es jetzt Wahrung des eigenen Besitzstandes war, oder Angst vor Machtverlust oder negativen Auswirkungen auf die wissenschaftliche Community, ob es das Vorurteil war, dass Frauen schlicht nicht in der Lage seien, ein solches Institut zu leiten, weiß man nicht. Man kann davon ausgehen, dass das Argument der ´Ausländerin` nur vorgeschoben war.
Aus Angst, ein Vorzeigeinstitut zu verlieren, wird sie zur ersten ordentlichen Professorin berufen. Wie kam es dazu?
Bohrmann-Linde: Hier kommt ein weiterer wichtiger Förderer von Wrangell ins Spiel, Fritz Haber, ebenfalls Nobelpreisträger, mit dem sie am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie gearbeitet hatte. Er unterstützte sie. Haber selber wurde für seine Forschungen zur Ammoniaksynthese stark vom deutschen Staat protegiert. Er setzte sich gegen die Unstimmigkeiten in der Professorenschaft in Hohenheim ein. Die Besetzung der Professur von Wrangell, das war dann zielführend, wurde direkt mit ihrem Namen verknüpft. Dank einer Inititative der damaligen Düngemittelindustrie und des Reichsernährungsministers konnten die Gelder für den Ausbau des Pflanzenernährungsinstituts freigemacht werden. Gelder sollten nur fließen, wenn von Wrangell die Professur bekommen würde. Das Abstimmungsverfahren in Hohenheim war trotzdem denkbar knapp. Fünf Enthaltungen und sechs Ja-Stimmen. Das Hohenheimer Konvent stimmte dann zähneknirschend entsprechend der Besetzung der Personalie von Wrangell zu.
Als sie 1932 mit 55 Jahren starb, hatte sie das Institut zum internationalen Forschungszentrum für Pflanzenernährung ausgebaut. Auf einem Gedenkstein auf dem Gelände des Hohenheimer Instituts steht ihr wissenschaftlicher Leitspruch: „Ich lebte mit den Pflanzen. Ich legte das Ohr an den Boden und es schien mir, als seien die Pflanzen froh, etwas über die Geheimnisse des Wachstums erzählen zu können.“ Welche Bedeutung hat sie für die Wissenschaft?
Bohrmann-Linde: Ihre Arbeiten waren damals wegweisend. Es gab ein Düngesystem, dass interessanterweise nicht nur nach ihr benannt wurde, sondern auch nach einem Kollegen. Aereboe-Wrangell-System, genau in der Reihenfolge. Es wird berichtet, dass im Institut selber Veranstaltungen gehalten wurden, bei denen zuerst ihr Kollege Aereboe vorgetrug und dann kam, wie über Wrangell selbst berichtet wird, sie „mit ihren Pflanzentöpfen“ und wurde immer als die Nummer zwei angeführt. Die Forschung, die dort betrieben wurde, war und ist höchst relevant. Dünger, ob flüssig oder fest, wird heute gezielt und möglichst ressourcenschonend in verschiedenen Verfahren eingesetzt. Hinter der Düngemittelforschung steht auch heute ein großer und bedeutender Bereich der chemischen Industrie. Wenn wir aber eine Verbindung zur Person von Wrangell suchen, taucht sie eigentlich nicht auf. Es ist verrückt. Wenn man so klassische Begriffe wie Dünger oder Phosphate googelt, findet man den Namen von Wrangell nicht in Bezug auf diese Themen. Wenn man ihren Namen googelt, dann landet man häufig in Baden-Württemberg, weil da die Universität Hohenheim angesiedelt ist und hier über Landesarchive usw. ihrer Persönlichkeit schon eine Bedeutung zuerkannt ist. Aber es ist sehr lokal und der fachwissenschaftlichen Bedeutung nicht angemessen. Es gibt zwar ein Habilitationsprogramm für Frauen, wo ein Wrangell-Stipendium beantragt werden kann, ansonsten ist ihr Name sehr begrenzt verbreitet bzw. trauriger Weise fast nicht existent.
Uwe Blass
Prof`in Dr. Claudia Bohrmann-Linde leitet die Arbeitsgruppe Didaktik der Chemie in der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften an der Bergischen Universität.