Warum ein Meilenstein der Filmgeschichte eigentlich vernichtet werden sollte
Dr. Dominik Orth über die Berliner Uraufführung des Stummfilms Nosferatu - eine
Symphonie des Grauens von F.W. Murnau
Herr Orth, kann man den Film Nosferatu – eine Symphonie des Grauens, der am 04. März 1922 in Berlin uraufgeführt wurde, als den ersten deutschen Horrorfilm bezeichnen?
Orth: Das würde sicherlich etwas zu kurz greifen. Zum einen ist der Begriff „Horrorfilm“ einem historischen Wandel unterworfen – was früher als Horrorfilm galt, führt heute bei Genrefans vielleicht nur zu einem müden Lächeln. Zum anderen gab es auch vor „Nosferatu“ wichtige Filme, die als Horrorfilme gelten können. Insbesondere der expressionistische Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene aus dem Jahr 1920 ist hier zu nennen. Dennoch steht „Nosferatu“ sicherlich eine besondere Stellung in der Frühgeschichte des Horrorfilms zu. Es ist nun mal ein früher Meilenstein dieses Genres und nicht zuletzt ein ganz wichtiger Film für das Genre des Vampirfilms.
Worum handelt der Film?
Orth: Der Makler Hutter reist zum Grafen Orlok nach Transsylvanien, um mit ihm ein Geschäft abzuschließen. Der Gast merkt bald, dass Orlok ein Vampir ist. Dieser wiederum verliebt sich in Hutters Frau Ellen, nachdem er ein Foto von ihr gesehen hat. Auf der Reise des Vampirs zu Ellen pflastern Leichen seinen Weg, die Opfer erliegen der Pest. Schließlich wird Ellen von Orlok heimgesucht … Mehr soll hier nicht verraten werden, ich will ja nicht spoilern.
Haben sich die Produzenten am Stoff von Bram Stokers Dracula bedient?
Orth: Absolut, im Grunde genommen handelt es sich um die erste Verfilmung dieses Romans. Allerdings wollte die Produktionsfirma die Kosten für die Rechte sparen und deshalb wurden vom Drehbuchautor Henrik Galeen die Figuren umbenannt und der Titel geändert. Doch nicht nur das: Die Bezüge zwischen Stokers Roman und der Handlung des Films sind insgesamt eher lose, einige Figuren wurden gestrichen, nicht wenige Details der Handlung geändert. Aber das ist für eine Literaturverfilmung wiederum nicht verwunderlich, die Bezüge zwischen Vorlage und Adaption sind nicht immer eng. Interessanterweise verschweigt der Film den Bezug zum berühmten Vampirroman gar nicht. In einem Zwischentitel der Titelsequenz steht explizit: „Nach dem Roman „Dracula“ von Bram Stoker. Frei verfasst von Henrik Galeen.“
Wie wurde der Film bei Presse und Publikum angenommen?
Orth: Es gab zwar einige gute Kritiken, aber ein finanzieller Erfolg war der Film nicht. Die Produktionsfirma hatte so viel Geld in die Werbung investiert – die Kosten dafür waren höher als für die Produktion des Films –, dass sie bereits wenige Monate nach der Uraufführung Konkurs anmelden musste.
Der Film sollte 1925 vernichtet werden. Warum?
Orth: Das hängt unmittelbar mit den offensichtlichen Bezügen zu „Dracula“ zusammen. Bram Stokers Witwe verklagte die Produktionsfirma Prana, die Rechte nicht erworben zu haben. Im Urteil wurde das offensichtliche Plagiat hart bestraft: Der Film und sämtliche Kopien sollten vernichtet werden. Interessanterweise verzichtete die Klägerin auf eine Gewinnbeteiligung, denn der Film hatte ja keine Gewinne erzielt. Es ist ein Glück für die Filmgeschichte, dass einige Exportkopien der Vernichtung entgehen konnten.
Der Filmjournalist Lars Penning sagt, der amerikanische Horrorfilm der 30er Jahre sei ohne das fantastische deutsche Stummfilmkino nicht denkbar. Stimmt das?
Orth: Auf jeden Fall ist der Einfluss des Weimarer Kinos auf den internationalen Film nicht zu unterschätzen beziehungsweise kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sicherlich lässt sich daher auch von einer gewissen Vorreiterrolle für entsprechende Genrefilme sprechen. Aber auch unabhängig davon prägte gerade der expressionistische Film ganze Filmstile, wie etwa den sogenannten Film Noir. Nicht wenige Protagonisten des Weimarer Films machten dann ja auch in Hollywood Karriere oder versuchten es zumindest. Friedrich Wilhelm Murnau etwa, der Regisseur von „Nosferatu“, folgte bereits in den 20er Jahren dem Lockruf der amerikanischen Filmindustrie. Und mit Beginn der NS-Zeit flohen zahlreiche Filmschaffende nach Hollywood, um dort unter anderem das ästhetische Spiel mit Licht und Schatten, das sowohl für den expressionistischen Film als auch für den Film Noir kennzeichnend ist, fortzusetzen. Fritz Lang beispielsweise, neben Murnau einer der wichtigsten Regisseure des Weimarer Kinos und Regisseur von „Metropolis“, inszenierte zahlreiche Noir-Filme.
Nosferatu ist auch ein Beispiel für die akribische Restauration des Filmmaterials. Was passiert da?
Orth: Das ist ein technisch hochkomplexes Verfahren, das mit den heutigen Mitteln der Digitalisierung ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Wichtigste Grundlage ist natürlich das zugrundeliegende Material. Zahlreiche Filme aus dieser Zeit sind verschollen oder unvollständig überliefert, mitunter ist das in Archiven gefundene Material beschädigt. In der Regel werden für die Restaurierung von Stummfilmklassikern möglichst viele Verleihkopien, die meistens verstreut in diversen Archiven rund um den Globus liegen, zu Rate gezogen, im Idealfall ist ein Kameranegativ vorhanden. Je nach Zustand des Materials wird dieses zunächst physisch restauriert. Anschließend wird der Film gescannt und dann digital restauriert. Dabei wird versucht, möglichst nah an das Original heranzureichen. Das reicht bis zu Formen der Farbgebung. Zahlreiche Stummfilme waren ja nicht schwarz-weiß, sondern unterschiedlich eingefärbt. Dazu gab es verschiedene technische Verfahren und diverse Farbcodes. So konnten auch interessante Effekte erzielt werden: In „Nosferatu“ beispielsweise wechselt plötzlich innerhalb einer Szene die Farbe von Sepia auf grünlich-türkis und zwar in dem Moment, als durch den Wind die Flamme einer Kerze ausgeht. Durch die unterschiedliche Farbgebung des Filmbildes wird so deutlich, dass es dunkel geworden ist. Wenn Informationen über solche Einfärbungen vorliegen, so wird dies im Rahmen der Restaurierung berücksichtigt.
Neben dem Bildmaterial ist dann auch noch die Frage nach dem Ton, denn der Stummfilm war ja nicht wirklich stumm – es gab eben nur keine Tonspur. Dennoch wurde für zahlreiche Filme eine eigene Musik komponiert, die dann im Idealfall durch ein Orchester während der Filmvorführung gespielt wurde. In der DVD-Edition der Murnau-Stiftung etwa wurde die Originalmusik zu „Nosferatu“ rekonstruiert. Das ist unglaublich spannend, denn es finden sich faszinierende Bild-Ton-Entsprechungen, die man für den ‚Stummfilm‘ gar nicht erwarten würde. So wird beispielsweise das Krähen eines Hahnes instrumental imitiert.
Hat dieser Film heute noch ein Publikum?
Orth: Na hoffentlich! Aber im Ernst, der Film ist aktuell in einer sehr guten Edition als DVD oder Blu-ray verfügbar, was ja dafürspricht, dass es auch heute noch ein Publikum dafür gibt. Zudem wurde er 2003 als einer von 35 Filmen in den Filmkanon der Bundezentrale für politische Bildung aufgenommen.
Und sein Status als Klassiker nicht nur des Horror- und des Vampirfilms, sondern auch des expressionistischen Films und des Weimarer Kinos insgesamt ist ungebrochen. Dazu trägt sicherlich zusätzlich das Remake mit Klaus Kinski aus dem Jahr 1979 unter der Regie von Werner Herzog bei, auch wenn dieser Film ja ebenfalls schon einige Jahrzehnte alt ist. Aber Kinski ist ja immer einen Blick wert – und Murnau eben auch.
Und schließlich ist „Nosferatu“ ästhetisch äußerst reizvoll. Die Inszenierung von Licht und Schatten ist absolut sehenswert. Wenn der Schatten von Orloks Hand das Herz von Ellen umkrallt, dann bekomme ich immer wieder eine Gänsehaut.
Uwe Blass ( Gespräch vom 24.02.2022)
Dominik Orth absolvierte ein Magister-Studium mit den Fächern Kulturwissenschaft, Germanistik und Geschichte an den Universitäten Bonn und Bremen. Er promovierte 2012 an der Universität Bremen. Seit 2017 arbeitet er als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Neuere deutsche Literatur in der Fachgruppe Germanistik an der Bergischen Universität.