100. Todestag von Walther Rathenau
Apl. Prof. Dr. Ewald Grothe / Geschichte
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„Der Feind steht rechts!“

Jahr100Wissen-Interview mit dem Historiker apl. Prof. Dr. Ewald Grothe zum 100. Todestag von Walther Rathenau

Der deutsche Industrielle, Schriftsteller und liberale Politiker Walther Rathenau wurde am 24. Juni 1922 in Berlin ermordet. Wer war dieser Mann?

Grothe: Er war ein ganz faszinierender Mann, nicht umsonst gibt es Darstellungen, die sagen, er bildet sozusagen ein Portrait der ganzen Epoche ab, also der Epoche des Wilhelminismus und auch der beginnenden Weimarer Republik, in der es ganz viele politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umbrüche gab. Die größte Zeitenwende war natürlich der Erste Weltkrieg. Rathenau war ein Intellektueller, ein Weltbürger, er war Jude und er vereinte verschiedene Tätigkeiten miteinander, die ungewöhnlich sind. Er vereinte in sich den Unternehmer, Politiker und Schriftsteller, drei Tätigkeiten, die er auch parallel ausübte, wobei schon eine Tätigkeit für ein ganzes Leben ausreichen würde.

„Von vornherein will ich bekennen, dass ich Jude bin.“ Mit diesem Satz beginnt Rathenau seinen Artikel mit dem Titel „Höre Israel“ 1897 in der Zeitschrift „Die Zukunft“. Was bezweckte er damit?

Grothe: Es war eine Stellungnahme in der von Maximilian Harden herausgegebenen Zeitschrift „Die Zukunft“, die sich deutlich absetzte von der Schrift Theodor Herzls „Der Judenstaat“. Herzl hatte in seiner Studie einen eigenen Staat für die Juden gefordert und auf den haben sich später auch die Juden bei der Staatsgründung in Israel bezogen. Rathenau –- selbst Jude - trat darin für die Assimilation der Juden ein, also eine möglichst starke Integration der Juden in die deutsche Nation. Es wurde im 19. Jahrhundert ganz viel darüber diskutiert, wie sich nun das Judentum zur deutschen Nation verhält. Die in Deutschland lebenden Juden fühlten sich als Deutsche, aber sie hatten verminderte Rechte, und das wurde innerhalb und außerhalb des deutschen Judentums diskutiert. Ist eine Emanzipation, ist eine Assimilation oder ist eine Akkulturation sinnvoll? Die Frage war, wie weit würde sich das deutsche Judentum integrieren, und Rathenau befürwortete die Assimilation.

Rathenau war stark an der deutschen Rüstungsproduktion im Ersten Weltkrieg beteiligt und bis zu seinem Ausscheiden aus dem Kriegsministerium 1915 auch in die Kriegsplanungen der Reichsregierung eingebunden. Er forderte auf einer Konferenz im preußischen Kriegsministerium am 16. November 1916 aufgrund kriegsbedingten Arbeitskräftemangels die Deportation belgischer Zivilisten zur Zwangsarbeit. Das war wirtschaftlich wie politisch eine extreme Haltung, oder?

Grothe: Das war eine extreme Haltung, ganz sicher. Die erklärt sich aus Rathenaus genereller Tätigkeit während des Krieges. Er war zunächst bei Kriegsbeginn skeptisch. Es gab ja auch Kriegsgegner, nicht alle waren 1914 kriegsbegeistert. Aber Rathenau sah sich in der Verantwortung und ging auch in die Verantwortung. Er leitete 1914/15 die Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, hatte auch die Hoffnung auf eine Berufung zum Staatssekretär im Reichsschatzamt, was sich aber leider nicht realisierte. Durch diese Verantwortung wandelte er seine Haltung von einem Kriegsgegner zu einem Befürworter, wobei es ihm vor allem darum ging, dass Deutschland, wenn es sich jetzt nun mal im Krieg befand, den Krieg natürlich erfolgreich beenden musste. Alles andere wäre aus seiner Sicht wirtschaftlich und politisch mit all seinen sozialen Folgen eine Katastrophe gewesen, d.h. er organisierte die Rüstungsfabrikation der AEG, das war ja sein Unternehmen, in dem er tätig war und war bereit, sehr viel an Ideen zu investieren, wie nun Deutschland den Krieg gewinnen könne. Da kam diese Haltung her, die Frage also, wie man solche notwendigen Arbeiten erfolgreich unter staatlicher Leitung in Zusammenarbeit mit Privatunternehmen durchführen könne. Und dann ging er soweit zu sagen, da es belgische Zivilisten gäbe, die zur Verfügung stünden, dann müssten die eben Zwangsarbeit leisten, um Deutschland kriegstüchtig zu machen. Eine ähnliche Forderung hat er auch an anderer Stelle erhoben: Er wollte London mit dem Zeppelin bombardieren, auch das ist eine kuriose und auch brutale Idee, aber es ging ihm darum, dass Deutschland den Krieg siegreich für sich entscheiden sollte. Rathenau hat solche offensiven Forderungen konzeptionell unterstützt, war aber weder konkret beteiligt noch hat er dies aktiv in die Wege geleitet. Natürlich wusste er, dass dies gegen die Haager Konvention (1907) verstieß. Gleichwohl führte dies dazu, dass er nach dem Krieg mit einem Kriegsgerichtsverfahren bedroht wurde, das dann aber nicht zustande kam.

Rathenau vertrat eine harte Haltung zum Krieg und plädierte gar für dessen Fortführung. Warum?

Grothe: Er befürchtete, dass die Kriegsfolgen bei einer Niederlage ganz erheblich sein würden. Generell hielt er den Krieg schon für ein Verhängnis, aber in der Situation des Krieges selber war er bereit, jeden Weg zu gehen. Selbst kurz vor Kriegsende plädierte er sogar noch für eine Generalmobilmachung. Sein Aufruf im Oktober 1918 zielte aber nicht auf den Sieg, sondern auf die Positionsverbesserung für die von ihm zur gleichen Zeit befürworteten Waffenstillstandsverhandlungen. Rathenau plädierte bereits sehr früh für Friedensverhandlungen und trat gegen Maximalforderungen für einen Friedensvertrag ein.

1918 wirkt er an der Bildung der "Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer" mit, die das Stinnes-Legien-Abkommen schließt. In diesem handeln Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifrechtliche Vereinbarungen aus. Im Jahr darauf veröffentlicht er mehrere programmatische Schriften zum Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Modell der zentral gelenkten Planwirtschaft übernahmen sowohl Lenin und Hitlers Rüstungsminister Albert Speer sowie später auch bspw. Ludwig Erhard. Kann man sagen, sein heller Geist war seiner Zeit voraus?

Grothe: Jein, man muss dazu sagen, dass in dieser Zeit ganz viele Pläne überlegt wurden, wie man Arbeit organisiert, wie man letztendlich die Industrialisierung organisiert. Man suchte nach einer Balance zwischen der Privatwirtschaft und der staatlich gelenkten Wirtschaft. In der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existierten viele dieser Pläne, so dass man nicht unbedingt sagen kann, er war seiner Zeit voraus. Er war sicher einer von vielen politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen, die solche Pläne erwogen. Dass eine Planwirtschaft für Diktaturen besser passt, siehe die Beispiele Lenin oder Speer, das ist natürlich völlig klar, denn die Planwirtschaft ist ja die Wirtschaftsform in einer Diktatur, sei es rechts oder links. Dass es bei Rathenau zu solchen Plänen kommt, hat auch mit der Kriegssituation zu tun, in der man die Wirtschaft nicht völlig frei als Marktwirtschaft organisieren kann, sondern sie staatlich für bestimmte Zwecke des Staates lenkt. Bei Rathenau steckt aber auch eine andere Haltung dahinter. Es ist seine Einstellung gegen überzogene Profite, gegen soziale Schieflagen, so dass auch da eine Kombination von staatlicher Planung und Marktwirtschaft ins Spiel kommt. Das Stichwort bei ihm ist das Wort ´Gemeinwirtschaft`. Verflechtung von Wirtschaftsformen privater, genossenschaftlicher und gewerkschaftlicher Art unter staatlicher Leitung, das war das, was ihm vorschwebte.

Am 31. Januar 1922 wurde Rathenau Reichsaußenminister, wegen seiner widerspruchsvollen politischen Haltung von Anfang an aber auch von vielen Seiten angefeindet. Man warf ihm immer wieder vor, sich an der „Erfüllungspolitik“ beteiligt zu haben. Was war damit gemeint?

Grothe: Unter dem Stichwort „Erfüllungspolitik“ wurden die Politiker vor allem von der rechten politischen Seite kritisiert, die sehr weit darin gingen, die Forderungen aus dem Versailler Vertrag (1919) zu erfüllen. Die Strategie dieser Politiker war allerdings, durch die „Erfüllungspolitik“ den Alliierten zu zeigen, dass vieles gar nicht erfüllbar war. Die Reparationen beispielsweise waren nicht erfüllbar. Und deswegen müsse da eine Reform her, und darüber wurde in vielen Konferenzen und Abkommen im Laufe der Weimarer Republik immer wieder verhandelt. Zu den sogenannten Erfüllungspolitikern wurde Rathenau, später auch Gustav Stresemann gezählt, die von rechts außen als solche kritisiert wurden. Es war zu einem polemischen Schlagwort gegen diese Art der Außenpolitik geworden. Positiv gewendet, handelte es sich um eine Verständigungspolitik, die auf einen Ausgleich zwischen den Alliierten und dem Deutschen Reich abzielte.

Wer war für seine Ermordung verantwortlich?

Grothe: Die Gegner standen vor allem auf der rechten politischen Seite. In diesem Falle war es die Marinebrigade Ehrhardt bzw. eine Verschwörung, die sich auch Organisation Consul nannte. Die Brigade Erhardt war von dem Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt 1919 gegründet worden. Das waren Freikorps von Marinesoldaten, die sich zusammentaten und, nationalistisch, antisemitisch motiviert, bereit waren, politische Morde auszuführen. So auch bereits 1921 an dem Zentrumspolitiker und Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, der im Schwarzwald erschossen wurde. Die Organisation Consul war z.B. auch am Mordversuch im Juni 1922 an Philipp Scheidemann beteiligt, dem SPD-Politiker, der die Ausrufung der Republik 1918 vollzogen hatte. Schließlich waren es drei Mitglieder der Organisation Consul, die Rathenau erschossen, als er in Berlin mit dem Auto unterwegs war. Er verstarb noch vor Ort. Es handelte sich bei dem Mord nicht nur um ein politisches Attentat auf seine Person, sondern letztlich symbolisch und tatsächlich um einen Anschlag auf die Republik.
Heute, einhundert Jahre später, sehen wir, dass politische Morde aus rechten oder linken Gruppierungen keineswegs der Vergangenheit angehören. Wir alle erinnern uns noch lebhaft an die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Rechtsextremisten im Jahre 2019. Auch dass Rathenau als Jude zum Opfer von Antisemiten wurde, ist kein Zufall. Die bestürzende Aktualität von Rechtsextremismus und Antisemitismus hundert Jahre nach der Ermordung von Rathenau muss uns zu denken geben.

Nach seinem Tod wurde von der Regierung ein Gesetz zum Schutz der Republik auf den Weg gebracht. Was beinhaltete dieses Gesetz?

Grothe: Das Republikschutzgesetz ist sehr umstritten. Es gab zwei solcher Gesetze, eines von 1922 bis 1929 und dann noch ein zweites von 1930 bis 1932. Das erste Gesetz wurde nach dem Mord an Rathenau von SPD, DDP und USPD verabschiedet. Es verbot Veranstaltungen und Publikationen von Organisationen, die gegen die Verfassung verstießen, es verschärfte die Strafen gegen politische Morde, es richtete einen Staatsgerichtshof ein, der politische Straftaten aburteilen sollte. Es gab eine entschiedene Gegnerschaft, auch deshalb, weil es auch Gruppen im Reichstag gab, die durchaus Sympathien mit antirepublikanischen Organisationen hegten. Und es war auch schwierig, dieses Gesetz mit der Verfassung in Einklang zu bringen, denn der Staatsgerichtshof stand dann im Ruf, ein Sondergericht zu sein. Es waren so eine Art Notstandsgesetze, weil man die Gefahr für die Republik erkannte. Reichskanzler Joseph Wirth formulierte dann im Reichstag: „Der Feind steht rechts!“ Damit hatte er zweifelsohne recht.

Ein englischer Historiker nannte Rathenau den "Schutzheiligen" der deutschen Demokratie. Lag er damit richtig?

Grothe: Für Rathenau gibt es ganz viele ähnlicher Bezeichnungen. Diese Formulierung des Schutzheiligen stammt von dem britischen Historiker Patrick Graham Williamson aus dem Jahr 1975. Rathenau ist jemand, der für die Weimarer Republik eintrat und von daher eine Symbolfigur, so würde ich es eher nennen, der die liberale Demokratie, die Republik verteidigte. Es gab verschiedene solcher Symbolfiguren, zu denen ich auch Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Hugo Preuß und Moritz Julius Bonn zählen würde. Es kommen mehrere Politiker für eine solche Bezeichnung in Frage, die ganz wesentlich an der Gründung der Republik, einer Verabschiedung einer demokratischen Verfassung, der Installierung der Republik und damit der Demokratie beteiligt waren.

Rathenaus über 70.000 seitiger Dokumentennachlass wurde von den Sowjets 1945 beschlagnahmt und lagert noch heute in Moskau. Ist unter den aktuellen politischen Bedingungen eine wissenschaftliche Arbeit dort jetzt überhaupt möglich?

Grothe: Nein, unter den aktuellen Bedingungen ist das überhaupt undenkbar. Die Dokumente sind sowieso erst relativ spät zur Verfügung gestellt worden. Es gab auch eine Zeit, in der man nicht wusste, wo die Dokumente überhaupt lagerten. Der Umfang des Nachlasses ist sehr groß, über 900 Akten. Ich habe mir das Findbuch in deutscher Übersetzung einmal online angesehen. Man erkennt schnell, wie wertvoll dieser Nachlass ist. Er besteht aus Korrespondenz, ganz vielen Artikeln, zum Teil noch unveröffentlicht, Reden, Tagebüchern und auch Fotos sind enthalten. Also eine Rathenau-Biographie, von denen es erstaunlicherweise viele gibt, kann man mit wissenschaftlichem Anspruch ohne die Nutzung dieses Nachlasses gar nicht schreiben. Aber derzeit ist so etwas auch gar nicht möglich. Es ist ohnehin ein Problem, dass es Bestände aus deutschen Archiven und Bibliotheken gibt, die bis heute nicht zurückgeführt wurden. Rathenaus Nachlass wurde 1945 beschlagnahmt und dann nach Moskau transportiert. Die Verhandlungen über die Rückführung dieser Archivalien sind leider bisher nicht erfolgreich gewesen. Solange die Unterlagen wenigstens zugänglich sind, ist uns Wissenschaftlern schon sehr geholfen. Ganz misslich wird es dann, wenn jetzt, in Kriegszeiten, die russischen Archive gar nicht zugänglich sind. Das ist eine wirkliche Behinderung für die historische Forschung.

Uwe Blass

Apl. Prof. Dr. Ewald Grothe studierte Geschichtswissenschaften, öffentliches Recht und Rechtsgeschichte in Marburg. Er habilitierte sich 2003 in Wuppertal und lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität. Seit 2009 ist er außerplanmäßiger Professor.

 

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