Wenn die Pracht des Zeremoniells in die entfesselte Grausamkeit führt
Der Romanist Matei Chihaia über Entstehung und Hintergründe des Dramas „Bluthochzeit“ von Federico Gracía Lorca, die Premiere im Theater am Engelsgarten und was die Fantasyserie „Game of Thrones“ damit zu tun hat
Am kommenden Samstag hat Federico García Lorcas Drama „Bluthochzeit“ im Theater am Engelsgarten Premiere. Worum geht es in diesem Stück?
Chihaia: Auf dem Land, in Andalusien, wird eine Hochzeit vorbereitet. Der Bräutigam hat sich in drei Jahren mühsamer Arbeit einen Weinberg errungen und kann dank dieser Mitgift die junge Frau heiraten, die er liebt. Aber ein Schatten liegt auf ihrer Verlobung: Die Frau war früher mit einem anderen liiert. Und dieser, Leonardo, gehörte ausgerechnet zu der Familie der Félix, die den Vater und Bruder des Bräutigams ermordet haben. Der ehemalige Geliebte hat geheiratet und ist sogar Vater, die Mörder sind gerichtet und sitzen im Zuchthaus ihre Strafe ab. Nun die Frage, die typisch für die Tragödie ist: Genügen diese Institutionen, also die Ehe und das Strafrecht, um die vergiftete Situation zu reinigen? Im zweiten Akt kompliziert sich die Handlung noch etwas. Denn die ehemaligen Geliebten haben noch Gefühle füreinander. Wie blass das klingt, wenn ich es so sage: „haben Gefühle füreinander“… Lorcas Sprache hingegen ist so unglaublich reich in der Darstellung der Liebe und des Hasses, und das nicht nur bei den Hauptfiguren. Eine der Gestalten dieses Dramas, die ich am liebsten mag, ist die Frau von Leonardo, die ihrem Neugeborenen ein langes Wiegenlied singt und in dessen Verse alle Ahnungen und Sorgen legt, die ihre Seele bewegen. An diesen Stellen ist das Stück reines Musiktheater, inspiriert von Lorcas Begeisterung für den Flamenco und die andalusische Folklore. Im dritten Akt fließt Blut. Mehr verrate ich nicht.
Das Drama gehört neben den Werken Yerma und Bernarda-Albas-Haus zur sogenannten Bauerntrilogie und hat einen realen Hintergrund, der den Autor inspirierte. Was war geschehen?
Chihaia: Ja, es hat wohl eine ähnlich tragisch ausgehende Entführung der Braut gegeben, die den Autor auf das Thema gebracht hat. Aber er vermeidet in dem Stück die Bezüge zur Aktualität und zum Genre der Pressenachricht: die Figuren haben keine Namen, nur so allgemeine Bezeichnungen wie „Bräutigam“, „Braut“, „Mutter“ usw., als wäre jede Position nur einmal besetzt. Die Holzfäller, von denen es zwei gibt, werden durchnummeriert. Nur Leonardo, der Entführer, erhält einen Vor- und einen Familiennamen. Weshalb das so ist? Ich habe eine Vermutung: dieser arme Mann, der wider jede Vernunft begehrt und begehrt wird, ist der eigentliche Held dieser Geschichte. Nur mit einem Namen kann er ein solcher Mythos werden wie Don Quijote, Don Juan oder Hamlet… Es ist übrigens aufregend, wie viel die abstrakte Namengebung über diese Welt verrät: Die Familienclans passen ineinander wie Puzzlestücke, weil sie durch Blutfehden und Elend zu Fragmenten reduziert sind – in der einen fehlt der Vater, in der anderen die Mutter, in der dritten die Bedienstete usw. Diese Fragmente könnten alle zusammen ein harmonisches Ganzes bilden, eine „Mosaikfamilie“, wie man heute sagt, aber nein: stattdessen reiben sie sich an ihren scharfen Kanten auf.
Sie haben einen Beitrag zum Programm der Wuppertaler Inszenierung verfasst. Wie kamen Sie dazu und was war Ihnen dabei wichtig?
Chihaia: Wir arbeiten schon seit langem mit der Dramaturgie und Theaterpädagogik der Wuppertaler Bühnen zusammen, das ist eine große Bereicherung für die Literaturwissenschaft. Ich habe das in der Corona-Zeit wirklich vermisst, in der alles auf einmal so körperlos wurde: Texte, digital gelesen, für Menschen, die nur von der Brust aufwärts existieren... mein Ideal ist das nicht. Der Regisseur Peter Wallgram hatte mir schon früher von seiner Begeisterung für Lorca erzählt, und als er berichtete, dass er das Stück jetzt inszeniert hat, habe ich der Dramaturgin Barbara Noth vorgeschlagen, einen kurzen Text fürs Programmheft zu schreiben.
García Lorcas Drama war in Spanien während der Franco-Diktatur verboten. Warum?
Chihaia: Ja, das sind so die Absurditäten der Zensur unter Franco. Man stellt sich vor, dass vor allem politische Werke verboten waren, aber die Adleraugen der Zensoren waren vor allem auf moralisch Anstößiges gerichtet, und insbesondere auf den Ehebruch. Das ging so weit, dass in manchen ausländischen Filmen bei der Synchronisierung außereheliche Beziehungen in der spanischen Version einfach „weggeschrieben“ wurden. Die Figuren erzählten dann etwas ganz Anderes. Unter diesen Bedingungen kam es nicht in Frage, die Stücke von Lorca aufzuführen. Na ja, Bodas de sangre ist nicht gerade eine Lobeshymne auf das Sakrament der Ehe; eher das Gegenteil.
Mich interessiert der Literaturbegriff, auf dem diese Art von Zensur ruht: Die Vorstellung, dass die Menschen die Handlungen, die sie auf der Bühne sehen, selbst vollziehen wollen. Dass sie die Figuren eines Stücks zum Vorbild nehmen, und dass diese Figuren bestimmte Rollenmodelle vermitteln… Sie sehen, dass hier ein Spektrum von Positionen liegt, das von den Kirchenvätern über die Zensur in Franco-Spanien bis zu heutigen kritischen Diskursen führt. Leonardo, der Held des Stücks, ist eine Darstellung toxischer Männlichkeit, ein mittelloser Don Juan. Kann man also sagen, dass das Stück den Brautraub normalisiert? Nein, genau genommen wird mehr problematisiert als normalisiert, insbesondere durch die Repliken der Braut selbst, die im Mittelpunkt der tragischen Explosion steht und diese bewusst und bis zum Ende durchsteht. Es prallen zwei Kraftfelder zusammen, denen der Dichter ihre volle Ladung gegeben hat: auf der einen Seite das Dorf, die Ehe, die Religion – auf der anderen Seite die Naturgewalten, die Leidenschaften, die Zweifel…
García Lorca arbeitet mit Symbolen: Blut, Hochzeit, das Messer, das Pferd und der Mond sind einige davon. Können Symbole Verbote umgehen, wenn Worte nicht erlaubt sind?
Chihaia: Die Stimme des Bluts ist ein ganz klassisches Tragödienthema, wobei damit traditionell die Vorstellung einer natürlichen Identität verbunden ist, die durch alle gesellschaftlichen Rollen hindurch die wahre Persönlichkeit eines Menschen erkennbar macht. Bei Lorca spannt sich ein dramatischer Spannungsbogen aus der Symbolwelt in die soziale Realität. So ist das Blut ein tragisches Omen im Dialog der beiden Holzfäller und der Bettlerin… und natürlich auch die Substanz der Blutfehde. Das Pferd steht im Mittelpunkt des Wiegenlieds, aber es ist auch das Mittel, mit dem Leonardo sich an die Braut annähern kann, die vier Stunden vom Dorf entfernt wohnt. Und das Bild der beiden, die fest umschlungen auf dem Pferd davonreiten, prägt sich dauerhaft ein. Das Messer dient nicht nur dazu, um Trauben zum Frühstück abzuschneiden, sondern auch, um andere Männer zu erstechen. Die Mutter klagt es als Symbol der toxischen Männlichkeit an, von der schon die Rede war. Am meisten wird in diesem Stück der Mond kommentiert. Der Mond ist eine der Figuren, nimmt die Gestalt eines jungen Holzfällers an, und spricht einige der schönsten Verse. Wir wissen durch die Bettlerin, Verkörperung des tragischen Schicksals wie die Hexen von Macbeth, dass sein Licht für den schlimmen Ausgang verantwortlich ist. Dieser junge Mann, „la luna“, weil der Mond im Spanischen weiblich ist, steht so offensichtlich zwischen den Geschlechtern, zwischen der Sphäre der Menschen und der Naturmächte, dass er vielleicht die größte Provokation des Stücks bildet.
Das Thema Bluthochzeit begegnet uns historisch bereits in verschiedenen Varianten wesentlich früher. 1572 z.B. fand die Pariser Bluthochzeit statt, besser bekannt als die Bartholomäusnacht der Hugenottenkriege, die auch Alexandre Dumas in seinem Roman „La Reine Margot“ 1845 beschreibt. Dieser konfessionelle Kampf endete blutig durch die Macht des Stärkeren. Ist das ein nie endendes Menschheitsthema?
Chihaia: Ja, es gibt in der antiken Mythologie auch ähnliche Stoffe, und natürlich ist auch der Brautraub ein kulturelles Phänomen, das dem Stück eine gewisse Zeitlosigkeit verleiht. Im Programmheft spreche ich von der Verknüpfung bestimmter Themen mit literarischen Gattungen: Der Titel „Bluthochzeit“ bringt zwei Elemente zusammen, die in der klassischen Tradition des Theaters streng voneinander getrennt sind. Die Hochzeit ist der Ausgang jeder Komödie, wie etwa Le nozze di Figaro. Am Ende müssen alle unter die Haube kommen. Das Blut hingegen charakterisiert die Tragödie. Am Ende wird gestorben. Der Titel von Lorca bringt also auf eine kurze Formel zusammen, was die Erwartung des konservativen Publikums durchbricht: dass eine Handlung, die auf eine Ehe zustrebt, mit dem Tod endet. Es ist die Struktur der Tragikomödie, die in Spanien noch vertrauter ist als in Frankreich oder Deutschland. El burlador de Sevilla, die komisch-tragische Geschichte Don Juans, ist eines der Vorbilder von Lorca: dort gibt es zum einen die Hochzeit auf dem Lande, und zum anderen eine makabre Hochzeitseinladung, die den Helden geradewegs in die Hölle führt.
Fantasy-Fans lieben die Serie „Game of Thrones“, und auch hier kommt es in zwei Folgen der dritten Staffel zur sogenannten Roten Hochzeit. Dieses Fantasymassaker ist keineswegs ein Hirngespinst eifriger Drehbuchautoren. Das reale Ereignis ist allerdings unter dem Titel „Schwarzes Dinner“ in der schottischen Geschichte bekannt. Sowohl in den historischen Ereignissen, als auch in den fiktiven Schilderungen geht es immer um rigide Traditionen, Ungerechtigkeiten, Macht und Selbstjustiz. Ist das der Stoff, aus dem Erfolgsgeschichten entstehen?
Chihaia: Ja, der Titel der Episode, „Die rote Hochzeit“, ist eine ganz ähnliche Kurzformel für die Tragikomödie wie Bluthochzeit. Also der Erfolg dieser Art von Stoff hat nicht die gleichen Gründe wie der von Tragödien und Komödien: Verrat ist eine schlechte Grundlage für literarische Empathie, weil wir weder zu den Bösen halten wollen, noch das blinde Vertrauen der Verratenen akzeptieren können. Dafür genießen wir zunächst die Pracht des Zeremoniells, und dann die entfesselte Grausamkeit, und natürlich auch den Abgrund, der zwischen Ordnung und Zerstörung liegt. Game of Thrones wendet den gleichen Trick noch mindestens ein weiteres Mal an, nämlich als Loras und Cersei in der Großen Septe gerichtet werden sollen…
García Lorcas „Bluthochzeit“ hat immer neue Generationen von Regisseuren und Regisseurinnen herausgefordert. Warum ist das so?
Chihaia: Es ist eines der großen Stücke des Welttheaters, hat eine spannende Handlung und eine unglaublich schöne Sprache, und es behandelt ganz zeitlose Themen wie Liebe und Ehe auf eine ganz originelle Art und Weise. Im Sommersemester veranstaltet eine Gastdozentin, Frau Dr. Luquin Calvo, übrigens eine Kino-Reihe zu Filmemacherinnen aus Spanien – im Rahmen des spanischen Medienzentrums unserer Universitätsbibliothek –, und in diesem Rahmen zeigen wir auch Die Braut (2015) von Paula Ortiz, ein Hochzeitsdrama frei nach Lorca. Zunächst freue ich mich aber auf die Premiere des Stücks im Theater am Engelsgarten!
Bluthochzeit von Federico García Lorca: Premiere am 21.01.23 um 19:30 Uhr im Theater am Engelsgarten. Regie: Peter Wallgram
Uwe Blass
Prof. Dr. Matei Chihaia studierte Komparatistik, Romanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der University of Oxford. Seit 2010 lehrt er Französische und Spanische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität.