Wie sicher sind unsere Renten?
Der Familienökonom Prof. Dr. Christian Bredemeier über Trends und Tatsachen zum Rentensystem
„Die Rente ist sicher“, sagte Norbert Blüm, ehemaliger Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, erstmals während des Wahlkampfes 1986. Dieser Satz hat sich im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung bis heute erhalten, er führte zu einer ersten Rentenreform, da man damals bereits die Diskrepanz zwischen der gestiegenen Lebenserwartung und einer geringeren Geburtenrate erkannte. Heute, mehr als 35 Jahre danach, melden sich Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker immer wieder zu Wort, die die Renten in naher und ferner Zukunft nicht mehr als sicher ansehen. An der Bergischen Universität beschäftigt sich der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Christian Bredemeier in Zusammenhang mit dem Thema Familienökonomie zwangsläufig auch mit der Rentenentwicklung.
Rente mit 70, oder…?
Die Menschen werden immer älter, Renten müssen daher länger gezahlt werden. Gesamtmetallchef Stefan Wolf forderte vor einiger Zeit, das Rentenalter schrittweise auf 70 Jahre zu erhöhen. „Die Demographie stellt uns vor Herausforderungen“, sagt Bredemeier, „denn jetzt gehen die geburtenstarken Jahrgänge der späten 50er Jahre so nach und nach in Rente. Und das ist eine sehr gesunde Generation, die sehr fit ist, im Vergleich zur Generation unserer Großeltern. Es steht zu erwarten, dass vielen Menschen dieser Generation ein langes Leben vergönnt ist. Und deshalb müssen Anpassungen bei der Rente gemacht werden.“ Klar sei, dass sich zwei Dinge die Waage halten müssten, erklärt der Wissenschaftler. „Es muss immer die aktuell werktätige Bevölkerung für die im Rentenalter lebende Bevölkerung aufkommen. Anders geht es nicht! Insofern haben wir nur zwei Stellschrauben; nämlich das Verhältnis von Arbeitenden zu Rentenbeziehern und das Verhältnis von Beiträgen zu Renten.“
Eine Option sei sicher die Möglichkeit an dem Verhältnis von Beitragsleistenden und Beziehern Verschiebungen vorzunehmen, und das gehe kurzfristig nur über eine Anhebung der Altersrenteneintrittsgrenze. Bredemeier erklärt es so: „Selbst, wenn wir jetzt massiv die Geburtenquote erhöhen könnten, dann hätte das frühestens in 20 Jahren einen Effekt, also mit einer Generation Verzögerung. Das führe dann auch dazu, dass man bis dahin die Rentner*innen an möglichen Produktivitätssteigerungen nicht mehr so partizipieren lassen könnte, wie man das bisher konnte. Daher ist vielleicht das Anheben der Renteneintrittsgrenze das geringere Übel.“ Einschränkend macht er gleichzeitig klar, dass dieses Prinzip nicht für alle Berufsgruppen praktikabel sei und eine Umsetzung weiterer Expertisen und Anpassungen bedürfe.
Anhebung der Wochenstunden von 40 auf 42?
Neben der Anhebung der Altersgrenze für Ruhestandsbezüge ist auch eine Diskussion über eine längere Wochenarbeitszeit der Beschäftigten entbrannt. Dies laufe jedoch konträr zu einem Trend, der sich seit ein paar Jahren mehr und mehr durchsetze. „Wir leben alle 2023 in einer Zeit, wo wir davon sprechen, weniger zu arbeiten. Das haben wir auch in Coronazeiten deutlich bemerkt,“ sagt Bredemeier. Daher müsse man sich eher fragen, wie viel Relevanz ein Normarbeitsvertrag in Zukunft noch haben werde, denn mehr und mehr beobachte man, dass in individuellen Vereinbarungen flexiblere Wochenarbeitszeiten verabredet würden. „In der Rentenformel spielt das dann auch eine Rolle, denn, wenn ich lediglich 75% arbeite, verdiene ich natürlich auch nur dementsprechend.“ Da es bei allen Rentenansprüchen immer auf das erwirtschaftete Einkommen und nicht auf die geleistete Stundenzahl ankomme, seien die Auswirkungen der reduzierten Stundenarbeit vor allem später für Geringverdiener spürbar.
Entlastung durch Mehrarbeit, Minijobs, Zuwanderer und ausländische Fachkräfte?
Was kann man also tun, um das Rentensystem zu entlasten? Welche Anreize bewegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Mehrarbeit? Die Teilzeitquote ist bei Eltern, die ihre Kinder gerne selber erziehen wollen, nach wie vor hoch. Kann eine verbesserte Betreuungssituation der Kinder Anreize für Mehrarbeit bieten? „Betreuungsplätze sind ein sehr wichtiger Faktor für Arbeitsentscheidungen für Eltern, statistisch in erster Linie für Mütter“, weiß Bredemeier. Jedoch hätten sich viele, die sich für den Lebensentwurf Familie entschieden hätten, auch gezielt auf Teilzeitarbeit gesetzt.
Minijobs seien aus dem Wunsch entstanden, Geringverdiener nicht noch zusätzlich mit Sozialbeiträgen zu belasten. „So wollte man Arbeitsplätze schaffen, indem man kleine Arbeitsverhältnisse ermöglicht. Das, was der Arbeitgeber zahlt, kommt direkt beim Arbeitnehmer an. Das war eine bewusste politische Entscheidung.“ Dass sich nach ein paar Jahren zeigte, dass diese Minijobs oft von Menschen ausgeführt werden, die in Haushalten leben, wo jemand ganz gut verdient, sei die andere Seite der Medaille.
Im Bereich Einwanderung ist es ebenfalls komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint. Sicher sei die Geburtenrate bei eingewanderten Familien höher, erklärt Bredemeier, aber nach einer Generation verhielten sie sich ähnlich wie die bereits länger im Land lebenden Menschen, weil sie sich an die Bedingungen angepasst hätten.
Ein weiteres Problem der deutschen Wirtschaft ist der Fachkräftemangel, den man mit Mitarbeiter*innen aus dem Ausland abfedern wollte. Dabei sind die bürokratischen Hürden jedoch hoch, im Ausland erworbene Qualifikationen werden hier oft nicht anerkannt. „Auch da werden wir vieles neu denken müssen“, sagt Bredemeier, „denn, wenn tatsächlich Bürokratie der Hemmschuh ist, weil etwa Formulare zu kompliziert und umfangreich sind und Verfahren zu lange dauern, kommen oft Ergebnisse heraus, die niemand gewollt hat.“ Selbstverständlich gebe es Berufsabschlüsse, die zweifelsfrei nachgewiesen werden müssten. Allein im Gesundheitsbereich möchte jeder Patient von kompetenten Menschen behandelt werden. Aber es gebe auch Bereiche, wo formale Nachweise nicht so wichtig seien. „Es gibt Fachbetriebe, die nach einer Probezeit erkennen können, ob die arbeitende Person für diesen Job qualifiziert ist und kann, was gefordert wird.“
Pflichtversicherung für alle?
Eine weitere Idee, um das Rentensystem zu stabilisieren, ist z.B. die Möglichkeit, Beamte oder auch Selbständige pflichtzuversichern. „Das ist ein Punkt, über den ich schon oft gesprochen habe, und ich wundere mich, warum dieser Punkt nicht stärker in der politischen Diskussion verankert ist“, fragt sich Bredemeier. „Anders als bei der Gesundheitsversicherung ist das umverteilende Element in der Rentenversicherung relativ gering. Im Wesentlichen ist es so aufgebaut, dass es eine Versicherung ist gegen das Risiko, lange zu leben. Man stelle sich vor, man werde älter, als die meisten anderen Menschen seiner Generation und man würde nur von seinen Ersparnissen leben. Wenn die dann aufgebraucht wären, hätte man ein Problem. Und gegen dieses Risiko ist eigentlich unsere Rentenversicherung konzipiert, so dass man sich dieses Risiko teilt mit Menschen, die ähnliche Einkommen hatten während ihrer Arbeit.“ Will man durch die Hinzunahme neuer, gutverdienender Gruppen die gesetzlichen Renten stabilisieren, müsste auch mehr Umverteilung ins System, damit von den hohen Beiträgen dieser Gruppen nicht nur deren Renten finanziert würden.
Doch die Überführung in eine gesetzliche Rentenversicherung ist auch mit hohen Hürden verbunden, denn die Ansprüche von Beamten sind durch das Grundgesetz geschützt. Außerdem würden die Personalkosten für Angestellte bei Wiederbesetzung einer Beamtenstelle durch Renten-, Kranken-, Pflege-, und Arbeitslosenversicherung zunächst steigen. D.h. ein Beamter im aktiven Dienst ist für die Dienstherren immer noch kostengünstiger.
Mit 30-Stunden-Woche zur Rente?
Viele junge Arbeitnehmer*innen wollen gar nicht mehr Fulltime arbeiten und sind mit einer 30-Stunden-Woche zufrieden. Betriebe stellen sich auch da mit neuen Arbeitsmodellen auf die Mitarbeiter*innen um. Aber ist diese Entwicklung für das Rentensystem überhaupt tragbar? Dazu Bredemeier: „Zwei Gedanken dazu: Wenn das Modell 40/20, also Papa arbeitet 40 Stunden, Mama arbeitet 20 Stunden sich wandeln sollte in 30/30, dann wird ja nicht weniger gearbeitet. Zudem kommt es auf die Einkommen und nicht die Stunden an. Wir sind erstmalig im Berufsleben meiner Generation in einer Phase, wo der Arbeitsmarkt ein Arbeitnehmermarkt ist. Man muss schauen, wie viele Menschen in der Lage sind, den Wunsch nach weniger Arbeit durchzusetzen, und auf wieviel Gehalt sie dafür werden verzichten müssen. Das wird auf jeden Fall spannend.“
Rentensysteme in Europa sind schwer zu vergleichen
In Deutschland werden ca. zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes in das Rentensystem gesteckt. Österreich hingegen liegt bei 14 Prozent. Da stellt sich die Frage, warum der deutsche Staat nicht mehr Mittel da hineinpackt. Da seien die Länder nur schwer zu vergleichen, gibt Bredemeier zu bedenken. „Je weiter man in den Süden Europas kommt, desto mehr findet man die Tradition, dass das Sozialsystem insgesamt, also die Summe staatlicher Leistungen in Bereichen wie Gesundheit, Rente, Arbeitslosengeld, stärker über die Rentenversicherung läuft. Da gibt es auch andere Familienmodelle, zum Beispiel mehr Dreigenerationenhaushalte. Da kommt dann oft die staatliche Leistung bei der ältesten Generation an. Insofern ist es sehr schwer, gerade diese Statistiken zu vergleichen, da die Sozialsysteme sehr verschieden sind.“
Erhöhung der Rentenbeiträge 2025?
2025 soll über eine Erhöhung des Beitragssatzes von jetzt 18,6% auf 25% diskutiert werden. Das bedeutet weniger Nettoeinnahmen für Beschäftigte „Erst einmal bedeutet es, weniger Netto vom Brutto“, sagt der Fachmann, „alles hängt da von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Im Moment sieht es so aus, als ob Löhne und Gehälter sich vielleicht gut entwickeln,“ während es bei der Preisentwicklung nicht so gut aussieht. „Bei Stagnation wird es schwierig den Beitragssatz zu erhöhen, denn wer will schon auf 6,5% seines Bruttogehaltes verzichten? Hilfreich wäre Wirtschaftswachstum, das sich auch in den Gehältern spiegelt.“
Rentenarmut oder bewusste Vorsorge?
Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind insgesamt 22,4 Prozent der Deutschen über 80 Jahren von Einkommensarmut betroffen. In der Gesamtbevölkerung liegt die Quote bei 14,8 Prozent. Sorgen müsse man sich machen, bestätigt Bredemeier, wenn diese Quote weiter steige. „Wenn wir das Rentenalter, die Beiträge oder den Steuerzuschuss nicht erhöhen, dann wird es in der nächsten Generation die Aufgabe des Staates sein, dies abzufedern. Dann muss man über Auffangmechanismen wie z.B. eine Mindestrente und die Grundsicherung im Alter reden.“ Zwar gebe es Möglichkeiten für Arbeitnehmer*innen, der drohenden Rentenarmut entgegenzuwirken -die Riesterrente sei da ein Beispiel für staatlich unterstützte eigenverantwortliche Sparmaßnahmen-, jedoch sei der größte Risikofaktor nach wie vor ein zu geringes Einkommen während der Erwerbstätigkeit. Berufstätige sollten, wenn möglich, Rücklagen bilden, aber: „Bei Rücklagen sollte man immer aufpassen, weil es auch Finanzprodukte gibt, die viel versprechen, aber nicht zur eigenen Lebenssituation passen.“ Wohneigentum könne auch im Alter die Kosten senken, erfordere aber zu Beginn hohe Investitionen und bringt auch einige Risiken mit sich.
„Wir leben in Lebenszyklen und die Lebensentwürfe sind oft unterschiedlich“, sagt Bredemeier abschließend. „Die meisten Menschen gehen zwischen 30 und 40 erst einmal richtig in die Schulden -Familiengründung, Eigentum, größeres Auto- und man will ja auch den Auszubildenden oder Studierenden, die sowieso nicht viel haben, nicht sagen, jetzt spart erst einmal. Das sind Ratschläge, die am Leben vorbeigehen. Man muss sich aber klarmachen, dass eine Phase im späteren Leben kommt, in der unsere Ausgaben höher sind als unsere Einnahmen. Und diese Lücke muss man schließen. Dabei ist auch die Gesellschaft gefordert.
Uwe Blass
Prof. Dr. Christian Bredemeier leitet seit 2019 den Lehrstuhl für Applied Economics an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal, der Schumpeter School of Business and Economics.