Lernort Bahnhof?
Die Didaktiker Christine Dzubiel und Dr. Stefan Padberg finden interdisziplinär neue Lernorte für angehende Lehrpersonen
Geschichte und Geographie sind an der Bergischen Universität zwei Studienfächer, die sich geradezu anbieten, neue Lernorte für Studierende zu erschließen. Die Geschichtsdidaktikerin Christine Dzubiel und der Geographiedidaktiker Dr. Stefan Padberg bieten zusammen seit einigen Jahren Seminare an, die Lehramtsstudierenden didaktisch neue Möglichkeiten bieten, Unterricht modern und spannend zu gestalten.
Der Deutsche Bildungsrat führte 1974 den Begriff Lernort in den bildungspolitischen Sprachgebrauch und damit auch in die pädagogische Fachsprache ein. Er ist eine im Rahmen des öffentlichen Bildungswesens anerkannte Einrichtung, in der Lernangebote organisiert werden. „Es gibt praktisch keinen Lernort und keinen Lerngegenstand, wo sich die historische und geographische Perspektive nicht treffen“, sagt Dzubiel über ihre Zusammenarbeit und Padberg ergänzt: „Die Zusammenarbeit hat sich fachlich dadurch entwickelt, dass Geschichte und Geografie beide zu Wissenschaften gehören, die sich bei den Lehramtsausbildungen doppelt treffen, nämlich sowohl im Sachunterricht des Primarbereichs, als auch im Sekundarbereich, wo es dann speziell das Fach Gesellschaftslehre mit beiden Perspektiven gibt. Das ist für Studierende sehr bereichernd.“
Lernorte finden sich überall
Die überzeugten Didaktiker*innen stellen sich bei der Herangehensweise und Suche nach neuen Lernorten immer zunächst die Fragen ´Was ist gutes Lernen? ` und ´Was ist guter Unterricht? `. Padberg erklärt es so: „Wir wollen nicht nur im Seminar darüber reden, sondern es auch mit den Studierenden erleben. Unsere Kernidee dabei ist, wir wollen über das gemeinsam erfahrene Lernen Lernprozesse anregen und reflektieren.“
Im Laufe der Zeit sind bereits mehrere Seminare dazu entstanden. So haben die beiden Wissenschaftler*innen Lernorte mit den Inhalten´ Rhein`, ´Stadt Köln`, 'Wuppertal’ und ´Bahnhöfe` bearbeitet und bieten demnächst das Thema ´Wald` an. „Wir lassen dazu die Studierenden ganz frei assoziieren“, erzählt Dzubiel. Beim ´Rhein` fanden die Studierenden in Kleingruppen für sich selber heraus, was sie daran spannend fanden. So konnten sie sich das Thema als Wasserstraße, Naturraum, Wirtschaftsraum oder touristisches Erholungsgebiet erschließen mit oft ungeahnten Möglichkeiten. „Z. B. haben wir die einzige Berufsfachschule für Binnenschifffahrt in Duisburg besucht“, berichtet Dzubiel begeistert, „und das war sensationell. Man konnte da in einem nachgebauten Schiffssimulator Kapitän sein und von einem Nebenfluss in den Rhein lenken oder navigieren. Das war ziemlich schwierig und wir sind auch alle vor die Wand gefahren, weil man ja auch die Strömungsverhältnisse bedenken muss. Das war ein toller Lernort, den die Studierenden selber gefunden haben, weil sie auf dem Rhein immer diese Schiffe sahen und mehr darüber erfahren wollten.“ Um sich beim Lernort Köln von den klassischen Sehenswürdigkeiten abzugrenzen, bedienten sich die Macher einer originellen Idee. Dazu Padberg: „Köln ist ja eine katholische Stadt, und wir haben dann über den Stadtplan ein Kreuz gelegt und alle zwei Zentimeter eine Markierung angebracht. Die Aufgabe der Studierenden war es dann, diesen Ort für sich als Lernort zu entdecken und für die Gruppe vor Ort erfahrbar zu machen.“
Diese multiperspektivische Herangehensweise führte zu der Erkenntnis, dass man an jedem beliebigen Ort historische und geographische Bildung anleiten kann.
Bahnhöfe in NRW
Das Thema Bahnhöfe bot sich allein schon deshalb an, weil die Wuppertaler Hochschule eine Pendeluni ist. „Man kann den Zustand der Gesellschaft und ihrer Entwicklung an den Bahnhöfen ablesen“, erklärt Dzubiel, „und damit steckt Geschichte drin.“ Außerdem habe sie festgestellt, dass viele Studierende sich mittlerweile bewusst dazu entschlossen hätten, die Uni nur noch mit dem PKW anzufahren, weil sie als leidgeprüfte Pendler*innen viele negative Erfahrungen gemacht hätten und ergänzt: „Ich bin selber eine sehr lange Weile von Bonn nach Wuppertal gependelt und dabei in Bonn auf einer Baustelle eingestiegen und in Wuppertal wieder auf einer Baustelle ausgestiegen. Das macht ja auch etwas mit den Menschen auf dem Weg zur Uni.“
Voraussetzung für die Wahl der zu untersuchenden Bahnhöfe war die Erreichbarkeit während eines Exkursionstages. Daher schieden so interessante Bahnhöfe wie der in Lüttich (Belgien) oder Mailand (Italien) vor vornherein aus. „Neben Köln hatten wir noch Mönchengladbach, Düsseldorf, Hagen, Essen und natürlich Wuppertal mit Mirke und Steinbeck im Programm“, sagt die Historikerin.
Bahnhof Steinbeck
Bahnhöfe haben geschichtlich und auch geographisch Potential als Lernort zu fungieren. Allein in Wuppertal sind aktive Bahnhöfe wie Steinbeck oder der Hauptbahnhof als auch der mittlerweile stillgelegte Bahnhof Mirke von besonderer Bedeutung für die Stadt. „Ich glaube, die Studierenden haben sich für den Bahnhof Steinbeck entschieden, weil es der Bahnhof ist, der für pendelnde Studierende immer noch den S-Bahnanschluss mit dem schöneren Fußweg zur Uni hat und auch näher zum Feierviertel am Arrenberg liegt“, erzählt Dzubiel. Ferner sei der Hauptbahnhof mit seinen fünf Gleisen eng in den Felsen gebaut worden, während man am Bahnhof Steinbeck noch immer um die 20 Gleise entdecken könne. Bahnreisende erleben diese Situation jeden Tag, ohne jedoch näher darüber nachzudenken. Zur Bewusstmachung, einem ersten Lernprozess, trafen sich zu Beginn der Arbeit alle Beteiligten am Hauptbahnhof, um die kurze Strecke in Richtung Steinbeck zu fahren. „Und dann hat die Studierendengruppe, die die Exkursion geleitet hat, gesagt: ´Achtet jetzt einmal darauf, wenn wir die zwei Minuten zum Bahnhof Steinbeck fahren, was euch auffällt`“, sagt Padberg. „Und da stellten sie schon den engen, in die Weite gehenden Weg fest.“ Daraus ergaben sich dann neue Fragen, wie etwa jene, warum man die Enge der Weite später vorzog? Zudem sei Steinbeck einstmals noch viel größer gewesen, als es heute den Anschein habe, denn auch der große Parkplatz sowie das Einkaufszentrum gehörte früher zum Bahngelände. „Auch gibt es dort ein leerstehendes Kontrollhäuschen“ berichtet der Wissenschaftler, „und das sagt uns viel über die gesellschaftliche Realität. In anderen Städten wäre dieses Kontrollhäuschen vermutlich heute ein cooles Restaurant oder eine Bar. Hier wird es einfach nicht genutzt. Und diesen Blick für einen Raum, den man vermeintlich kennt, zu bekommen, sich zu befremden, Fragen zu stellen und dies zu erforschen, ist auf Exkursionen immer wieder spannend.“
Studierende bieten Studierenden Lernanreize
„In allen Seminaren haben Studierende grundsätzlich immer die Aufgabe, ihren Kommiliton*innen anhand eines Ortes eine Lernerfahrung zu bieten“, erklärt Dzubiel, und das könne man nicht an der Universität machen. Die Gestaltung obliege dabei den Studierenden selber, die immer wieder großartige Ideen einbrächten. „Manche machen ganz große exkursionsdidaktische Angebote, indem sie eine Schnitzeljagd veranstalten, oder die App Biparcours" nutzen. Oder sie organisieren Passantenbefragungen und besuchen eine Bahnhofsmission. Das ist alles frei gewählt und kann auch nur an diesen Orten Lernerfahrungen bringen.“
So machen sich die Studierenden den Ort, den sie sich ausgesucht haben, zu eigen, mehr noch, bestätigt Padberg, „sie werden zu Expert*innen und wissen um die gesellschaftliche, historische und geographische Entwicklung dieses Ortes, den sie auch in größere Begriffe einbinden“, denn man müsse natürlich z. B. bei der Geschichte von Bahnhöfen auch die Industrialisierung mitdenken. Ziel sei es immer, dass die mit dem Ort betrauten Studierenden eine Art Wissensvorsprung vor den anderen Studierenden hätten. Damit könnten sie Methoden anbieten, durch die sich die anderen den Inhalt erschließen. Sie agieren als Lehrpersonen, die sich im Seminar ihren gleichaltrigen Kommilitonen präsentieren. „Diese Lernarrangements, die zu ihren Altersgenossen passen, sind für Studierende eine große Herausforderung“, sagt Dzubiel. Hinzu komme, ergänzt Padberg, dass sie dazu natürlich auch ein Feedback auf Augenhöhe erhielten, welches eine Rückmeldung über die Qualität des Lernprozesses sei, den sie selber angeleitet hätten. Dies diene der individuellen Entwicklung zur Lehrperson, ganz nach dem, was wir über die Bedeutung der Person der Lehrerin / des Lehrers wissen: "Mein wichtigstes Handwerkszeug beim Unterrichten bin ich selber!"
Vorzüge und Nachteile von untersuchten Bahnhöfen
Zu einer der abschließenden Reflexionsarbeiten, die die beiden Wissenschaftler *innen stellten, gehörte u.a. die Frage: Von welchem Bahnhof würden sie gerne ein Jahr lang Bahnhofsmanager*in werden? „Da ist der Hauptbahnhof in Essen ganz weit vorne gewesen, weil unsere Studierenden es als ideal empfanden, dass er ganz eng an die U-Bahn, die Straßenbahn und auch an die Autobahn, deren Anschluss direkt hinter dem Bahnhof liegt, angebunden ist“, sagt Dzubiel. Außerdem sei es ein innenstadtnaher Einkaufsbahnhof, auf dem, wenn man ihn betrete, alles auf einmal erleben könne. Nicht so begeistert waren die Studierenden vom Hauptbahnhof Düsseldorf, der in Bezug auf Barrierefreiheit eine wahre Katastrophe sei. Menschen mit Kinderwagen oder gar Rollstuhl hätten keinerlei Möglichkeiten die Gleise oder die U-Bahn zu erreichen und das, obwohl der Bahnhof erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts umgebaut wurde. In Wuppertal sehe es mit Blick auf die Barrierefreiheit keinesfalls besser aus. Aber auch das könne man nur an einem Lernort vor Ort erfahren, sagt Padberg zum Schluss, „das fällt einem beim Gespräch über den Bahnhof nicht unbedingt auf.“
Uwe Blass
Christine Dzubiel ist Akademische Rätin für Geschichte und ihre Didaktik in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften.
Dr. Stefan Padberg ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe Didaktik des Sachunterrichts in der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften.