Die ewige Wiederkehr des Gleichen?
Prof. Dr. Andreas Meier über den vor 100 Jahren entstandenen Roman „Siddartha“ von Hermann Hesse
1922 erschien Hermann Hesses Roman „Siddartha“. Worum geht es in diesem Buch?
Meier: „Siddartha“ ist ein Roman, in dem der Weg eines Jungen aus gebildeten indischen Verhältnissen zur Zeit Buddhas zu sich selbst beschrieben wird. Er durchläuft viele Lebensstationen unterschiedlichster Art, er lebt sehr üppig, er durchlebt aber auch Askesephasen. Am Ende findet er seine Erfüllung darin, als Fährmann an einem Fluss zu wohnen und die vorbeiziehenden Menschen vom einen zum anderen Ufer überzusetzen.
Aus welchem Grund hat Hermann Hesse dieses Buch überhaupt geschrieben?
Meier: Man kann bei literarischen Werken immer schlecht sagen, warum ausgerechnet dieser Stoff gerade in dieser bestimmten Zeit behandelt wird. Bei Hesse steht „Siddartha“ jedoch im Kontext mehrerer Romane, des „Steppenwolfs“ und „Narziss und Goldmund“. Das sind alles Bücher, in dem der schwierige Weg des Individuums zu sich selbst beschrieben wird und damit zugleich die Forderung an das Individuum, sich in Distanz zur Welt zu setzen. Diese Forderung an das Individuum, Welt und Selbstwerdung zu vereinen, ist ein Thema, das in vielen Romanen Hesses auf unterschiedliche Arten und Weisen anklingt. Hesse hatte, wie man weiß, über seine Mutter, Marie Gundert, Beziehungen zur indischen Mission. Sie wurde als Tochter des bedeutenden Sanskritforschers Hermann Gundert in Indien geboren und verbrachte später auch einige Jahre dort. Hesse selbst hatte 1911 auf einer Reise nach Indonesien Sri Lanka kennengelernt, war mit indischer Philosophie und indischer Kultur gut vertraut. In „Siddartha“ schöpft er aus diesem Wissensfundus, wodurch der Roman auch Züge eines historischen Romans aus der Zeit Buddhas bekommt.
Die dem Weltlichen ergebenen Menschen nennt der Romanheld Kindermenschen. Was meint er damit?
Meier: Kindermenschen sind die Menschen, die, noch nicht erwachsen geworden, auf dem Weg zu sich selbst sind oder in einer Phase steckenblieben, in der ihnen, wie man modern formulieren könnte, kritische Selbstreflexivität nicht möglich ist. Diese aber ist die Voraussetzung, an einem gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, in kulturelle Kontexte einzutreten, aber gleichwohl individuell leben zu können. Die Kindermenschen sind mit der Oberfläche zufrieden, ihnen reicht es, wenn sie über materielle Schätze verfügen, wenn sie ein erotisch ausschweifendes Leben führen, gut essen und trinken können. Der Gefahr, Kindermensch‘ zu bleiben, sind sicherlich auch heute sehr viele Menschen ausgesetzt.
„Siddartha“ ist ein Entwicklungsroman, im Aufbau ähnlich wie „Der Steppenwolf“ oder „Das Glasperlenspiel“. Woran erkennt man das?
Meier: Einerseits scheint dies im Falle „Siddarthas“ relativ einfach nachvollziehbar zu sein, da der Roman die Lebensstationen seines Helden auf Suche nach seinem Selbst umfasst. Siddharta verlässt sein Vaterhaus, ist dann einige Jahre mit seinem Gefolgsmann Govinda Teil einer sehr asketischen Sekte, den Samanas, wird zum Anhänger Gotamas, der später Buddha heißen wird, den er aber ebenfalls verlässt, um bei den ‚Kindermenschen‘ in einer großen Stadt einige Jahre in Saus und Braus zu leben. Aber auch hier vermögen ihn weder das üppige Leben als Kaufmann noch seine Geliebte Kamala dauerhaft zu binden. Am Ufer eines Flusses, den er schon einmal überquerte, kommt ihm schließlich die Erkenntnis, tiefer als zuvor ins Samsara, den ewigen Kreislauf von Leben und Tod verstrickt und weiter als zuvor vom Nirwana, der Erlösung hieraus, entfernt zu sein. Hier vermittelt ihm der erleuchtete Fährmann Vasudeva schließlich das durch den Fluss symbolisierte Prinzip des Lebens, das dialektische Verhältnis von permanentem Wandel des prinzipiell Gleichen. Andererseits aber vermag er zwar als Vasudevas Nachfolger diese Lehre seinem Freund Govinda zu vermitteln, scheitert aber daran, wie zuvor sein Vater an ihm selbst, seinem eigenen Sohn zu dieser Erkenntnis zu verhelfen. Zur persönlichen Entwicklung tritt also hier das Prinzip der sich wiederholenden Lebensfolgen.
Auf diese von Siddahrta durchlaufenen Lebensphasen ließe sich durchaus das im späteren Roman „Glasperlenspiel“ gedruckte, berühmte Gedicht „Stufen“ anwenden, in dem es u.a. heißt: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Ähnliches erlebt auch „Siddartha“, für den die neuen Lebensabschnitte jeweils mit großer Faszination verbunden sind, die aber nur solange wirkt, bis wiederum „des Lebens Ruf ertönt“, wie es im Gedicht heißt.
Hesse nutzt in „Siddartha“ sehr poetisches Vokabular. Kennzeichnet das auch seinen Stil?
Meier: Hesse ist sprachlich sicherlich ein ‚poetischer Realist‘ geblieben, sehr stark von Sprachbildern geprägt, deren Ursprung man in der Romantik verorten kann. Naturbilder spielen eine große Rolle, zugleich aber auch ein sehr feines rhythmisches Sprachgefühl. Seine Satzperioden sind so angelegt, dass sie einem natürlichen Sprachgefühl folgen und immer nur dann, wenn der Inhalt es erfordert, auch zu komplexeren Formen aufgipfeln. Sprachlich also bleibt Hesse sicherlich, zumindest was Klanglichkeit und Metaphorik betrifft, dem Umfeld der späten Romantik und des poetischen Realismus verhaftet.
Der Roman wird eine „indische Dichtung“ genannt. Aber man kann ihn auch als Spiegelbild der europäischen Gesellschaft deuten. Woran erkennt man das?
Meier: Hesse hält in „Siddartha“ sicherlich auch seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel vor, wenn man sich die Welt der städtischen Kindermenschen im Roman vergegenwärtigt. Hier sieht man, wie leicht eine Gesellschaft vom ‚Lebensruf‘ ablenkbar ist, wie leicht sich Menschen mit materiellen Äußerlichkeiten begnügen und wie leicht man auch, von einer schönen Kurtisane angelockt, sein Leben ‚verligen‘ kann, wie es in einem mittelhochdeutschen Epos, im „Erec“ Hartmann von Aues heißt, dessen Titelheld sich ´verligt` und seine ritterlichen Pflichten vergisst. Hier ergibt sich sicherlich leicht ein Bezug zur Gegenwart Hesses aber auch über diese hinaus, insofern auch gegenwärtige Zeitgenossen den ‚Lebensruf‘ nicht hören oder nicht hören wollen, es nicht ertragen im Dissens mit der Gesellschaft zu leben, Asket, Einsiedler oder gar Zweifler zu sein.
Man weiß heute, dass Hesse während der Niederschrift familiäre Probleme hatte, die er dank einer psychoanalytischen Behandlung überwand. Fließen diese psychoanalytischen Erkenntnisse in seinen Roman mit ein?
Meier: Es gibt immer wieder Stellen im „Steppenwolf“, stärker noch in „Narziss und Goldmund“, in denen deutlich wird, wie sehr Hermann Hesse mit Carl Gustav Jungs Modell der Psychoanalyse vertraut war. Er selber hat sich bei einem Schüler Jungs, Josef Bernhard Lang, viele Jahre lang einer Analyse unterzogen. In „Siddartha“ fließen diese Theorien und Modelle jedoch nicht so unmittelbar ein wie in den zuvor genannten Romanen. Lediglich in Siddarthas Lebensphase bei den Kindermenschen lassen sich Ansätzen einer in diesem Sinne psychoanalytischen Krise erkennen, hier mit dem Motiv der Vaterschaft verbunden. Siddartha hat einen Sohn mit Kamala. Beiden begegnet er als Fährmann wieder, vermag aber weder Kamala, die von einer Schlange, einem ja höchst symbolträchtigen Tier, gebissen wird, noch seinen Sohn, der ihn verlässt und wieder in die Stadt zieht, bei sich zu halten, da er sich bereits auf einer anderen Lebensstufe befindet. Hier wird eine tiefe, mit seiner Scheidung von seiner ersten Frau Maria Bernoulli und der Trennung von den Kindern verbundene Lebenskrise des Autors Hesse spürbar, zumal die erste Arbeitsphase an „Siddartha“ ab Dezember 1919 nachweisbar ist.
In den 60er Jahren wurde „Siddartha“ in den USA zum Kultbuch. Von Hesses Buddha-Legende wurden allein 1967 dort rund 100.000 Exemplare verkauft. Wurde Hesse in dieser Zeit sozusagen zum Hippie-Guru, der auch Themen wie subtilen Sex bspw. in „Narziss und Goldmund“ oder Drogenträumereien in „Der Steppenwolf“ beschrieb?
Meier: Die Renaissance Hesses ist tatsächlich kurios. Der amerikanische Germanist Theodore Ziolkowski, lange Zeit Ordinarius in Harvard, hat schon 1969 mit einem Aufsatz „Saint Hesse among the Hipppies“ auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. Bis in die 60er Jahre hinein kannte man Hermann Hesse in Amerika so gut wie gar nicht. Das änderte sich tatsächlich schlagartig mit dem Aufkommen der Hippiebewegung und vor allen Dingen, als 1967 eine Rockband auftrat, die sich ‚Steppenwolf‘ nannte, obgleich keines ihrer Mitglieder zuvor jemals ein Buch von Hesse gelesen hatte – und möglicherweise auch später nicht - und dies, obwohl der Gründer der Formation, John Kay, 1944 als Joachim Fritz Kauledat in Tilsit geboren wurde und später in Hannover aufwuchs. Allein der Name eines Buches also, das der Produzent der Gruppe, Gabriel Mekler, zufällig bei sich trug, machte Hesse in populärkulturellen Zirkeln bekannt. Inwieweit man ihn hier tatsächlich gelesen hat, ist wiederum etwas ganz Anderes. Zu dieser Popularität trug sicherlich auch „Siddartha“ maßgeblich bei, da man in der ‚indischen Dichtung‘ einen Zugang zur indischen Philosophie und damit in den 1970er Jahren zugleich einen Zugang zu einer anderen Welt zu finden hoffte. Vor allem die jungen Menschen dieser Jahre befanden sich auf der Suche nach Alternativen zur Konsumwelt - und mit etwas Wohlwollen kann man hierin durchaus eine Reaktion auf den ‚Ruf des Lebens‘ erkennen.
Der Romanheld ist letztendlich fortwährend auf der Suche nach der Menschlichen Seele. Siddartha bedeutet wörtlich: der, der sein Ziel erreicht hat. Hat er am Ende sein Ziel erreicht?
Meier: Ja, zumindest sagt es Siddartha. Er sitzt am Fluss, er sieht die Welt zu sich kommen und wieder vorbeischwimmen. Er erlebt den Kreislauf des Lebens im Wasser, dass er vor sich hat, als Sinnbild auch für die ewige Wiederkehr des Gleichen, die ja nach buddhistischen Vorstellungen und den Vorstellungen von Wiedergeburt erst im Nirwana als einem Zustand endet, in dem der Zwang zur Reinkarnation aufgehoben ist. Denn die buddhistische Askese strebt ja die Überwindung der Welt an, in die man nicht wieder geboren werden möchte, nachdem man sie durch den Tod gerade erst verlassen hat. Siddartha hat sein Ziel in dem Moment erreicht, wo er die Aufgabe des Fährmanns übernommen hat. Er ist ein Pol, um den herum sich die Welt ereignet.
Uwe Blass
Apl. Prof. Dr. Andreas Meier lehrt Neuere deutsche Literatur in der Fachgruppe Germanistik in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.