Der Briefverkehr der Familie Friedrich Engels
Prof. Dr. Wolfgang Lukas / Germanistik
Foto: UniService Transfer

Als die Liebe im Hause Engels ankam

Neue Online-Edition und ein Familienzimmer im Engelshaus geben Eindrücke über die Ehevorstellungen im Briefverkehr der Familie Friedrich Engels

Der Briefroman ´Gefährliche Liebschaften` (Les Liaisons dangereuses) des französischen Autors Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos gilt als eines der Hauptwerke der französischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts und beschreibt ein Sittengemälde des Ancien Régime. Er schildert in 175 Briefen die Geschichte zweier Intrigen. Die Leser nehmen über diese intimen Briefe am Schicksal der Protagonisten teil. Weniger intrigant, dafür umso interessanter lassen sich die privaten Briefe der Familie von Friedrich Engels lesen, die in diesem Jahr durch den Wuppertaler Editionsphilologen und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Lukas von der Bergischen Universität dem interessierten Publikum durch eine neue Online-Edition zugänglich gemacht werden sollen.
Hintergrund des Projektes, dass sich über das Friedrich-Engels-Jahr hinaus erstreckt, sind die seit den 80er Jahren im Stadtarchiv befindlichen ca. 350 Familienbriefe, die der ehemalige Leiter des Historischen Zentrums der Stadt Wuppertal (heute: Museum Industriekultur Wuppertal), Michael Knieriem, in Engelskirchen entdeckt hatte. Im Gegensatz zur literarischen Vorlage de Laclos`, handelt es sich hier um eine reale Familienkorrespondenz der Eltern und Großeltern Friedrich Engels`, aus dem Zeitraum von 1791 bis 1858. Parallel zur Online-Edition ist Lukas zudem, in Kooperation mit Prof. Dr. Kristian Wolf, maßgeblich an der im neu restaurierten Engelsmuseum vorbereiteten Familienausstellung beteiligt. „Den Besucher erwartet eine Medieninstallation, die Text, Bild und Ton kombiniert“, verrät er, „es gibt einen sogenannten Familienraum. Es ist das Haus seines (Ur-)Großvaters, d.h. Familie meint hier Eltern und Großeltern.“ Nun würden 350 potentielle Briefe auch den interessiertesten Besucher hemmungslos überfordern, so dass der Literaturwissenschaftler eine Auswahl vorgenommen hat. „Es sind genau 18 Briefe, und die haben wir nach Themen geordnet. Ich nenne mal die Bereiche Religion, Liebe/Erotik, Politik und die Geschäftsbeziehungen.“ Es handele sich dabei u.a. um die Zeit der napoleonischen Besetzung. Die ausgewählten Briefe seien von verschiedenen Adressaten und zum Leidwesen des Wissenschaftlers auch sehr männerlastig. „Das liegt offenbar daran, dass die Frauen die Briefe besser aufgehoben haben“, erklärt er.

Das Museumsprojekt im Engelshaus

Besonders stolz ist Lukas auf die Museumsinstallation. „Sie haben einen großen Touchscreen, wo diese 18 Briefe zur Auswahl stehen. Es gibt eine Zeitleiste, und ich bekomme meine gewünschten Informationen nach Personen oder Themen angeboten.“ Ein Clou dieser Präsentation sei zweifelsohne die akustische Umsetzung der Beispielbriefe. „Wir haben alle Briefe von den Schauspielern Olaf Reitz und Caroline Keufen von den Wuppertaler Bühnen einlesen lassen. Es gibt dazu eine eigene Installation. Man nimmt sich Kopfhörer, und es laufen die Originalbriefe im Faksimile über eine Projektionsfläche am Fenster. Ich sehe nur die alte Schrift, die sogenannte Deutsche Kurrent, und es ist so synchronisiert, dass ich die Zeile, die gerade gesprochen wird, auf der Leinwand sehe. Das ist wunderbar, diese alte Handschrift und die professionelle Stimme dazu“, erklärt er begeistert. Auf dem Touchscreen gebe es drei Ansichten: das Faksimile, also die Kopie des Originals, eine wissenschaftliche Wiedergabe (diplomatische Transkription) sowie, als dritte Version, eine Lesefassung in einer leicht modernisierten Form, jedoch nicht an der neuen Rechtschreibung orientiert. „Wir möchten damit gerne die kulturhistorisch Interessierten als auch die philologisch im engeren Sinne Interessierten ansprechen, die ihr Wissen vor Ort vertiefen können.“

Eheanbahnungen im Hause Engels

Aber was ist an dieser Familienkorrespondenz eigentlich so spannend?
Neben den verschiedenen Themenangeboten fällt ein historischer Aspekt besonders ins Auge: Der Wandel der Eheanbahnungen im Hause Engels. „Das ist für mich einer der spannendsten Punkte an diesem Briefwechsel, weil wir den Briefwechsel zwischen Großvater und Großmutter sowie Vater und Mutter haben. Der ist zwar etwas einseitig, aber dieser Braut- und Ehebriefwechsel beginnt zu dem Zeitpunkt 1791, als sich der Großvater Johann Caspar Engels eine zweite Frau sucht, weil seine erste Frau, Johanna Konstantia, früh gestorben ist“ erklärt Lukas. Da beginne der Briefwechsel und gehe dann weiter bis in die Zeit der ersten Ehejahre. „Ca. 30 Jahre später, um 1820 herum, kommt dann der Sohn, also Friedrich Engels Vater und macht dasselbe. Aber dasselbe ist total anders!“ Die Eheplanungen im 18. und frühen 19. Jahrhunderts hatten noch klare Vorgaben, vor allem im Adel und in den ländlichen Schichten, aber auch noch im Bürgertum. „Der Adel dachte in Kategorien von Allianzen und Genealogien. Die Bauern hatten ökonomische Aspekte der Versorgung im Blick, man brauchte eine tüchtige Bäuerin auf dem Hof. Also Liebe war nicht die erste Voraussetzung“, sagt Lukas.
Und auch für den Großvater, Johann Caspar Engels, gab es 1791 andere Prioritäten. „Wie macht der Großvater das? Er erkundigt sich erst mal. Dann hat er eine Frau im Auge – das wird dann auch die Großmutter – fährt aber nicht direkt zu ihr hin, sondern er fragt in seiner Schicht herum. Wie ist sie denn so? Was hat sie denn für Eigenschaften? Ist sie fromm? Das ist wichtig, denn er ist ja strenger Pietist. Auch muss sie soziales Ansehen haben, eine gewisse Reputation, denn man nimmt keine Frau aus der Unterschicht. Sie muss gesund sein, denn sie muss ja in der Lage sein, Nachwuchs zu bekommen, sie muss moralisch in Ordnung sein, sie muss eine tüchtige Hausfrau sein, sie muss eine Kaufmannsfrau sein und das Geschäft betreuen können. Und dann sollte sie auch noch ein wenig hübsch und liebenswürdig sein. Das sind so die Dinge“, lacht Lukas, „und das wird erst mit Dritten ganz offen durchgespielt.“ Für uns heute ist eine solche Vorgehensweise einigermaßen befremdlich, aber man müsse dies aus der Zeit heraus betrachten, sagt der Forscher. Und als ob diese mühsame Brautwahl nicht schon aufwändig genug sei, komme noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. „Es gibt noch einen Konkurrenten“, berichtet Lukas, „das ist der Kaufmann Johann Gottfried Wülfing. Der bewirbt sich um dieselbe Frau. Dann ist der Engels etwas zögerlich und die potentielle Verbindung steht tatsächlich auf der Kippe.“ Beide Herren besuchen dann wirklich die Auserwählte, Luise Noot, um die es die ganze Zeit geht, und vereinbaren klar und deutlich: „Wenn sie dem einen das Jawort gibt, dann brechen wir komplett jeden Kontakt ab, dann ist es so, als ob man vorher nie geworben hätte“. Das wiederum brachte die zukünftige Braut einige Wochen lang verständlicherweise in seelische Not, erklärt Lukas.
Ebenso interessant sei die Entscheidungsfindung Luises, die sich einer Freundin anvertraute und um Entscheidungshilfe bat. „Dann schreibt ihr diese Freundin: Mach doch eine Liste, schreib die positiven Merkmale hin und vergleiche sie“, erzählt Lukas. So funktioniere das bei den Großeltern, „nach dem Motto: Die Liebe kommt dann schon!“

Friedrich Engels Senior heiratet aus Liebe

Der Wandel in den Eheanbahnungen sei dann zwischen den Briefen des Großvaters und denen des Vaters von Friedrich Engels sehr schön nachvollziehbar, denn Letzterer habe sich tatsächlich in seine spätere Frau, Elisabeth Franziska Mauritia van Haar, genannt Elise, verliebt. Das geschah während ihres mehrwöchigen Aufenthalts bei der Familie Engels im Sommer 1816. Gerhard Bernhard van Haar, seines Zeichens Gymnasialprofessor in Hamm, war freundschaftlich verbunden mit Johann Caspar Engels, der seinerseits in den Jahren 1805 bis 1807 seinen Erstgeborenen Johann Caspar (III) zum besseren Studium dorthin geschickt hatte, ein Vorgang, der in gutbürgerlichen Familien Usus war. Man sandte seine Kinder für einige Zeit in andere Familien und erkundigte sich brieflich über deren Fortschritte. Um seine beginnende Liebesgeschichte nicht zu gefährden, musste sich Friedrich Engels Senior jedoch mit den damaligen Konventionen arrangieren, so dass einige seiner Briefe nicht direkt verschickt werden konnten. „Man muss sich vorstellen, Briefverkehr, das war immer ein Ereignis. Wenn der Postbote einen Brief brachte, war es sehr üblich, dass der en famille verlesen wurde. Also man musste schon, wenn man etwas schreiben wollte, das nicht von der ganzen Familie gelesen werden sollte, es heimlich zustellen lassen.“ Das seien die ersten Zeichen einer wachsenden Intimität, betont Lukas und es sei nachgewiesen, dass eben solche Briefe über eine Hausangestellte, einen Freund oder eine Schwester überbracht wurden. Engels’ Vorsicht ist bemerkenswert, und auch später legt er noch Wert auf briefliche Intimität. „Da droht er auch mal seiner Frau und schreibt, wenn ich erfahre, dass du meine Briefe irgendjemand anderem zeigst, dann schreibe ich dir nie wieder solche Intima.“ Hier wird eine modernere Liebeskonzeption deutlich, wie sie vor allem von der romantischen Literatur um und nach 1800 propagiert wurde und die in der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts zum Modell der sogenannten Liebesehe führt.

Die Online-Edition

Die Korrespondenz der Familie Engels lässt den modernen Menschen schon mal an Erfolgsdrehbücher dynastischer Familienserien denken. In der Aufarbeitung für die Online-Edition sollen sie nun einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. „Wir haben alle Originale in der Hand gehabt“, sagt Wolfgang Lukas und lobt die gute Zusammenarbeit mit dem Museum Industriekultur Wuppertal und dem Stadtarchiv. In mehreren Masterseminaren des Studiengangs Editions- und Dokumentwissenschaft hat der Wissenschaftler mit seinen Studierenden die Briefe regelrecht autopsiert, nach Wasserzeichen, Textabständen und Schrifterkennung geforscht. „Wir haben in mehreren Seminaren zunächst einmal gelernt, die deutsche Schrift zu lesen. Dann haben wir mit Briefeditionen angefangen. Wie kann man das machen? Welche Modelle und Methoden gibt es? Wir haben uns auch mit historischen Briefstellern beschäftigt, also Anweisungen, wie man Briefe zu schreiben hat“, erläutert er die Vorgehensweise. Neben dem schriftlichen Erfassen kam dann auch die digitale Umsetzung dazu. Lukas fand einen Studenten (mittlerweile erfolgreichen Absolventen) des Masters Druck- und Medientechnologie, der die medientechnologische Aufarbeitung übernahm. Für die inhaltliche Sichtbarkeit bedurfte es weiterer Spezialisten aus dem Bereich der Informatik sowie des Medien-/Interfacedesigns. Unter Leitung von Prof. Lukas und Prof. Wolf arbeiten derzeit sieben (z.T. ehemalige) Studierende aus vier verschiedenen Fakultäten der Bergischen Universität an den beiden Projekten. Drei von ihnen haben bereits 2018 das „Studio Arrenberg“ als Büro für Gestaltungsfragen gegründet. Ursprünglich begonnen mit dem Schwerpunkt der Gestaltung von Industrieprodukten, entwickelte sich das Büro weiter und ist heute kompetenter Ansprechpartner für die Entwicklung von Front-End Anwendungen.

Man darf gespannt sein, sowohl auf die baldige Wiedereröffnung des Engelshauses als auch auf die Freischaltung der umfassenden Online-Edition, die unter der Adresse www.familie-engels-briefe.de abrufbar sein wird. Und das Ende ist nach wie vor offen, denn im Stadtarchiv warten noch weitere Korrespondenzen aus dem Umfeld der Familie Engels auf ihre Sichtung, die die Familienstruktur einer Bergischen Dynastie in Zukunft noch vervollständigen kann.

Uwe Blass (Gespräch vom 13.04.2021)

Wolfgang Lukas studierte Germanistik und Romanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte ebenda. Er habilitierte sich an der Universität Passau. 2006 übernahm er den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

 

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