Lehrbuch nimmt Coronaproblematik auf
Prof. Dr. Jens Boenigk/Biodiversität
Prof. Dr. Martin Simon/Molekulare Zell- und Mikrobiologie
Foto: Privat/UniService Transfer

Boenigk Biologie - Ein Lehrbuch mit Weitblick

In einem neuen Fachbuch der Biologie beschäftigen sich der Duisburg-Essener Biodiversitätsprofessor Jens Boenigk (Hrsg.) und der Wuppertaler Zellbiologe Martin Simon u.a. mit den Auswirkungen der Coronapandemie

„Jede einzelne Replikation eines Virus bringt eine erhöhte Gefahr für eine neue Variante“, sagt Prof. Dr. Martin Simon, Zellbiologe an der Bergischen Universität. „Dementsprechend kann jede einzeln geimpfte Person die Replikation des Virus durch seine Schutzimpfung hemmen.“ Aufklärung sei das A und O in dieser Pandemie und diese Aufklärung müsse bereits bei den Studierenden beginnen, die die nächste Generation ausbilden würde. Das neue Lehrbuch mit dem schlichten Titel ´Boenigk Biologie` blickt daher disziplinübergreifend und weitblickend über den Tellerrand.

Modernes Lehrbuchkonzept für große Datenmengen

Die Idee, ein Lehrbuch im 21. Jahrhundert ganz anders aufzuziehen, stammt von Prof. Dr. Jens Boenigk, Professor für Biodiversität an der Universität Duisburg-Essen. Eingedenk der Tatsache, dass sich die Biologie zu einer der bedeutendsten Technologieplattformen entwickelt hat, müssen auch Lehrinhalte übersichtlicher und komprimierter dargestellt werden können. „Schon 2001 hat die damalige Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn die Genforschung und Biotechnologie als Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts identifiziert“, beginnt Boenigk, „und heute stehen biologische Fragestellungen bei vielen wesentlichen Themen wie Gesundheit, Ernährung, Klimaschutz oder Nachhaltigkeit auf der Tagesordnung.“ In der Medizin könne man als Beispiele die Gentherapie, die Stammzellenforschung oder die Entwicklung von RNA-Impfstoffen nennen, im Bereich der Landwirtschaft gehe es dann um Fragen der Ernährung, der Welternährung, bei steigenden Bevölkerungszahlen und mit Blick auf den Klimawandel dann auch um eine nachhaltige Landwirtschaft. Der Fleischkonsum spiele da eine wesentliche Rolle. Auch unsere Wasserressourcen im Hinblick auf die Trinkwasseraufbereitung sowie Abwasserbehandlung in Zusammenhang mit Klimawandel, Umweltverschmutzung und Artenschutz seien eine große Herausforderung, wobei Boenigk deutlich hervorhebt, dass die Anwendungsgebiete und Themen der Biologie noch sehr viel umfangreicher seien. „Eine wesentliche Grundlage der Biologie in allen diesen Feldern sind aber die gestiegenen Möglichkeiten, mit großen Datenmengen umzugehen“, sagt er.

Deutsche Fachliteratur liegt häufig nur in Übersetzungen vor

Bisherige Biologielehrbücher sind in der Regel für den amerikanischen Markt geschrieben oder liegen als Übersetzungen amerikanischer Fachliteratur vor. Allerdings sind die verschiedenen Bildungssysteme Amerikas und Europas nicht ohne Weiteres mit unserem Bachelorstudium kompatibel. Einen wesentlichen Unterschied sieht der Biologe daher in der Gewichtung der allgemeinbildenden und spezialisierten Aufgaben in den amerikanischen Studiengängen, die den allgemeinbildenden Lehrveranstaltungen mehr Raum einräumen und daher in den fachlichen Aspekten Abstriche machen würden. „Das hat dann ganz klare Konsequenzen, was an Inhalten vermittelbar ist und wie Lehrmaterialien aufgebaut sein sollten.“ Zudem sei jegliche Primärliteratur englischsprachig, und das zeige sich auch in der Auswahl der Themen und Beispiele. „Wenn man in die nordamerikanischen Lehrbücher schaut, die ja auch in Übersetzungen vorliegen, dann sind da natürlich Beispiele nordamerikanischer Tier- und Pflanzenarten aufgeführt, während es für den europäischen Markt eigentlich viel sinnvoller ist, heimische Arten und regionale Beispiele in den Vordergrund zu stellen.“ An dieser Stelle setzt das neue Lehrbuch an, dass erstmalig in deutscher Sprache und mit einer völlig neuen Visualisierung einen anderen Weg der Vermittlung sucht.

Organismische Breite von gestern bis übermorgen

„Zu der Vermittlung gehört, dass wir sowohl auf die fachliche Breite der Biologie und auch auf die inhaltlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Forschung und Lehre eingehen, als auch die aktuellen Inhalte wie die Epigenetik, die Entwicklung der Mikro- und Molekularbiologie, sowie aktuelle Themenfelder wie den Klimawandel, die Covid 19-Pandemie und andere Themen im Buch aufgenommen haben“, erklärt Boenigk. Dies gelte genauso für die organismische Breite, denn viele der existierenden Lehrbücher seien aus einem zoologischen Fokus heraus geschrieben worden. Bei Pflanzen oder anderen Organismengruppen fielen da Lücken oder Schwächen auf, so dass das neue Lehrbuch neben Tieren und Pflanzen auch Pilze, Bakterien und eukaryotische Einzeller ausführlich behandele. Die besondere Herausforderung bestand in der Umsetzung des didaktischen Konzeptes, erklärt der Wissenschaftler, denn „die Biologie ist die Naturwissenschaft mit dem größten Fachvokabular und die Bezüge innerhalb der Biologie zwischen den Teildisziplinen und den Nachbarwissenschaften wie Physik, Chemie, Mathematik oder den Geowissenschaften sind sehr ausgeprägt.“

Erklärende Abbildungen statt langer Fließtexte

„Ganz grundsätzlich vermitteln wir hier stark von Abbildungen ausgehend und verbinden damit visuelle Lern- und assoziative Verknüpfungen verschiedener Aspekte und Themenfelder mit den jeweiligen Fachbegriffen. Dadurch, dass wir das visuelle Lernen wesentlich stärker nutzen, als das in anderen Lehrbüchern der Fall ist, können wir auf wenig Platz, ohne allzu langschweifige Erklärungen, komplexe Zusammenhänge fachgerecht vermitteln.“ Die visuelle Aufnahme von Informationen spiele für uns Menschen schon immer eine zentrale Rolle, weiß Boenigk, doch dieser Kanal der Vermittlung wurde in der Vergangenheit in Lehrbüchern meist nicht adäquat genutzt. Von daher habe er bewusst auf das Medium Buch als Vermittlungsmedium gesetzt, denn das reine Lernen über Online-Medien könne auch wegen der reichhaltigen Verlinkung schnell vom eigentlichen Thema ablenken. „Gerade im Zeitalter zunehmender Onlineverfügbarkeit von Wissen ist ein Bedarf nach übersichtlich strukturierten Lernressourcen, die dem Umfang des Fachs gerecht werden da, und ich halte hier ein richtiges Buch für die beste Ressource der Ausbildung“, betont er. Seine Beobachtungen in der Studierendenschaft belegen seine These. „Wenn es auf die Klausurvorbereitungen zugeht, ist das Buch das erste Medium der Wahl. Und da halte ich es nur für konsequent, die Stärken des Mediums Buch auch voll auszunutzen.“
Die Informationsdichte sei durch die Anzahl der kommentierten Abbildungen extrem hoch und man könne übergeordnete Muster und Prinzipien auf geringem Platz auf den Punkt bringen. „Dadurch ist es uns hier gelungen in einem Biologielehrbuch viele moderne Aspekte zusätzlich mit hinein zu nehmen, ohne dass dadurch der Umfang des Werkes explodiert.“ Der Wuppertaler Zellbiologe Martin Simon ergänzt: „Die Abbildungen sind auch anders aufgebaut als klassische Abbildungen. Wir haben Textabschnitte mit in die Grafiken eingebaut, dort, wo sie hingehören. Da wird ein Enzym über eine Sprechblase an der Stelle erklärt, wo es auch in einem Mechanismus funktioniert. Dadurch wird dieses Hin- und Herspringen des Lesers zwischen Text und Abbildung verkürzt.“

Neues Buch – Neue Herangehensweise

Für das neue Buchkonzept musste Boenigk erst einmal eine Menge Überzeugungsarbeit leisten, denn alle Autoren hatten für ein Lehrbuch so noch nicht gearbeitet. Dazu Simon, der einen Großteil zum Thema Genetik beisteuerte: „Das war für mich als Autor am Anfang komplizierter, weil ich nicht einfach meinen Text runterschreiben konnte, sondern ich musste die Abbildung mit Bleistift skizzieren, die dann von der Grafik gestaltet wurde.“ Das habe am Anfang etwas gedauert, bis man sich auf diese Arbeitsweise eingestellt habe. Im Ergebnis habe der Leser nun die Übersicht und die Teilinformation in einer Abbildung. „Das erleichtert das visuelle Lernen ungemein!“ Und Boenigk ergänzt: „Das ´Making of` ist tatsächlich ein Punkt, der wesentlich arbeitsaufwändiger und komplizierter war, als bei einem Standardlehrbuch. Die Autoren mussten erst einmal umdenken und die Informationen von der Abbildung aus denkend, aufbereiten.“ Der zuständige Grafiker kam bei manchen Abbildungen an seine Grenzen und auch für den Verlag bedeutete das Projekt Neuland.

Verschiedene Organismengruppen mit immer derselben Struktur

´Boenigk Biologie` ist auch ein Buch, dass über den Tellerrand schaut und disziplinübergreifenden Zusammenhängen eine zentrale Rolle zukommen lässt. Boenigk erklärt es an einem Beispiel der Zellbiologie. „Da haben wir das Beispiel von Zellwänden. Die finden wir bei den verschiedensten Organismengruppen und sie werden jeweils in der bestimmten Organismengruppe erklärt. So haben also Bakterien Zellwände, Pilze haben Zellwände, Landpflanzen haben Zellwände. Wenn man das aber so auseinanderreißt und in den verschiedenen Organismengruppen erklärt, dann wird eigentlich gar nicht klar, dass das immer dieselbe Struktur ist. Das machen wir vergleichend, ziehen diese Informationen zusammen und erklären die Zellwände für alle Organismen mit einem entsprechenden Verweis auf die einzelnen Organismengruppen.“ In der Komprimierung werde dadurch der Zusammenhang viel klarer.

Covid-19 findet Eingang in die Lehre

Boenigk und Simon kennen sich bereits seit Jahren von diversen Fachtagungen und so sprach der Duisburg-Essener Biologe den Wuppertaler Genetiker an, bei diesem neuen Lehrbuchkonzept mitzuarbeiten. Noch im Entstehen des Buches entwickelte sich die weltweite Coronapandemie und die beiden Wissenschaftler entschlossen sich, der Epidemie zwei zusätzliche Kapitel zu widmen. Dazu Simon: „Ich hatte in meinem Genetikkapitel bereits die Grundlagen der Viren erklärt und wenn man die Medien der letzten anderthalb Jahre verfolgte, ergab es sich zwangsläufig, dass man näher auf die Translation zwischen den Grundlagen der Virologie und der Epidemiologie eingehen musste.“ Die neuen Virenvarianten seien genau das, was man in der aktuellen Coronapandemie erlebe, erklärt Simon, zwar könnten sich Geimpfte immer noch anstecken, doch die Replikation der Viren werde schwieriger. „Jede einzelne geimpfte Person trägt zur Vermeidung von neuen Varianten und zur verminderten Verbreitung der Viren bei!“ Das Buch frage auch, wo die neuen, immer virulenter werdenden Stämme herkommen und weise damit in die nahende Zukunft, denn das Problem der Pandemien werde man immer öfter sehen. Boenigk und Simon wollen im Lehrbetrieb bereits jetzt darauf hinweisen und durch ausführliche Informationen einer Verunsicherung zuvorkommen, um auch zukünftige Impfverweigerer zu überzeugen. „Wir alle haben in unseren Studiengängen auch die Lehrämter“, erklärt Simon, „wir bilden die nächste Lehrergeneration aus und wir müssen dieses Wissen jetzt schon dort anbringen und in den Lehrbüchern manifestieren, damit dass an die nächsten Generationen in den Schulen übertragen wird.“ Das Kapitel schildere eindringlich die soziale Relevanz des Impfens und helfe durch die Vermittlung der Bevölkerung, diese Veränderungen nachzuvollziehen. Boenigk ergänzt: „In der Genetik wird erklärt, was ein Virus eigentlich ist, wie es aufgebaut ist und funktioniert, und das, was wir jetzt sehen, sind die Effekte der Viren. Damit sind wir in der Ökologie, also wie sie mit ihrem Wirt interagieren, wie sie sich verbreiten. Deshalb haben wir diese zusätzlichen Kapitel auch in die Ökologie gepackt. Daran sieht man dann auch die engen Verknüpfungen der Disziplinen. Viren an sich werden bedeutend bleiben, und auch bedeutender werden“, sagt er abschließend, „in der Gesellschaft, bei steigender Bevölkerung werden wir häufiger mit Epidemien und Pandemien zu tun haben. Der Anteil von Viren in Genomen wird aber auch erst jetzt entdeckt. In den Bereichen der Gentechnik spielen Viren eine zunehmende Rolle, beim Verständnis des Aufbaus von Leben sowieso.“

Wie bedeutend Viren in Zukunft sein werden, ist dann jedoch eher eine medizinische Frage, die man aber nach Boenigk`s Lehrbuchkonzept ebenfalls aufbereiten könnte.

Uwe Blass (Gespräch vom 02.09.2021)

Prof. Dr. Jens Boenigk lehrt Biodiversität an der Universität Duisburg-Essen.
Prof. Dr. Martin Simon leitet die Fachgruppe Molekulare Zellbiologie und Mikrobiologie in der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften an der Bergischen Universität.

Literaturangabe:
Boenigk, Biologie
Der Begleiter in und durch das Studium
Hrsg. Jens Boenigk
Springer Verlag, 2021

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