Raoul Heinrich Francé: Der Mann, der sich die Natur patentieren ließ
Interview mit dem Molekular- und Zellbiologen Prof. Dr. Martin Simon
Der Naturphilosoph, Botaniker und Mikrobiologe Raoul Heinrich Francé (1874 - 1943) veröffentlichte 1920 das Buch „Die Pflanze als Erfinder“. Was war das Besondere daran?
Simon: Der Titel ist etwas irreführend, denn das Buch ist eigentlich nicht ausschließlich über die Pflanzen geschrieben, sondern Francé geht hier sehr stark auf die gesamte Biologie ein, auch über viele einzellige Wasserorganismen. Es ist auch ein sehr mikrobiologisches Buch, was vom Titel her nicht zu erwarten ist. Was in dem Buch gemacht wird, ist gerade für die damalige Zeit ein extrem innovativer Vergleich einer technischen Analyse von Bauteilen, wie sie in Pflanzen und in tierischen Einzellern existieren, von Hebelwirkungen und funktionellen Strukturen, wie z.B. Bohrern oder Propellern. Es gibt hier einen extrem technischen Vergleich mit existierenden Maschinen, also Dampfmaschinen oder Schiffsschrauben. Und dieser detaillierte Vergleich mündet in der großen Schlussfolgerung, dass dies alles ein naturgegebenes Problem ist, zu welchem interessanterweise sowohl die Technik als auch die Biologie oftmals zu sehr ähnlichen Lösungen kommen. Man denke da an den Vogelflug, die Flügel des Vogels, wie sie auch bei Flugzeugen angelegt sind oder Elementen, die schnell durchs Wasser gleiten, oder die einfach Samen verstreuen. Das innovative in diesem Buch ist diese Kombination und Integration aus technischer und biologischer Analyse, was man dann auch als morphologische Analyse bezeichnen könnte. Er schloss daraus, dass jeder Vorgang seine technische Form habe, d.h. eine naturgegebene Problemstellung. Am Beispiel eines schnell durchs Wasser gleitenden Elements, vergleicht er die Fortbewegung von Kleinstlebewesen mit der Entwicklung der ersten Torpedos. Der Faktor Zeit spielt da eine wichtige Rolle. Die Evolution hat viel Zeit gehabt, immer mit Trial and Error, also einzelne Organismen, die schlecht angepasst waren, sind dann wieder ausgestorben. In Wirklichkeit passiert das in der Technik genauso. Vieles, was wir heute kaufen ist technisch nicht ausgereift. Wir sind in der Wegwerfgesellschaft, da ist weniger Zeit, weniger Anpassung an das eigentliche technische Problem. Und wenn der Toaster nicht funktioniert, wird er entsorgt. Da ist es wie in der Evolution, das nicht Passende wird ausselektiert. Und das, was wir in der Umwelt sehen, was Francé auch analysiert, ist das, was überlebt hat.
Er kommt zu ganz klaren Schlussfolgerungen. Er analysiert u.a. die ganz klassische Schraube, die wir ins Holz drehen. Die wurde zwar technisch immer verbessert, aber dieselben Systeme gibt es eben auch in der Natur, seien es Einzeller, die sich durchs Wasser schrauben, die ihn in der Analyse zum Torpedo bringen oder seien es einzelne Insekten, die Körperteile ins Holz reindrehen müssen. Es sind dieselben Strukturen.
Francé war von der Vollkommenheit der Natur überzeugt und glaubte fest daran, dass auch der Mensch den Gesetzen und Kreisläufen der Natur unterworfen ist. Wie kam er darauf?
Simon: Eigentlich ist das die konsequente Fortsetzung seines logischen Überlegens, weil der Mensch ein Teil der Natur ist. Ich interpretiere das bei Francé so, dass er vielleicht nicht ganz so gottesfürchtig war, wie es die damalige Zeit von ihm verlangt hätte, in dem Sinne, dass er den Menschen nicht als eine höhere Schöpfung angesehen hat, sondern als ein Teil des Ökosystems betrachtet. Er hat das Ökosystem oder die globale Biosphäre als ein Ganzes gesehen. Und der Mensch als ein Teil dessen, hat keinerlei göttliche Sonderrechte und ist den selben Gesetzen der Kreisläufe unterworfen.
In seinem Buch "Die Pflanze als Erfinder" findet sich als Beispiel für eine technische Erfindung nach dem Vorbild der Natur die in Deutschland patentierte Form von Salz-und Pfefferstreuern, die dem Prinzip der Ausstreuung der Mohnkapsel nachempfunden war. Fachleute sprechen bei dieser Patentierung von einem Durchbruch in der Bionik-Geschichte. Warum?
Simon: Das ist nicht unbedingt in diesem Patent, oder dem Salz-Pfefferstreuer zu finden, sondern eher in der damaligen Rechtsgebung. Es hat damit zu tun, dass ein Patent nur auf eine neue Anwendung, einen neuen Aspekt hin vergeben werden kann. Die Biotechnik, die Francé beschrieben hat, der Vorläufer der Bionik, die heute als Forschungszweig erst richtig groß geworden ist, erreichte damals durch diesen Pionierschritt allgemeine Anerkennung. Francé schaffte es vor den Gerichten und dem Patentamt, das erstmalig diese biologische Anleihe - er hatte ja die Idee aus der Biologie von den Mohnkapseln übernommen -, die eigentlich nach damaligem Recht nicht patentwürdig war, durch einen Rechtskniff durchzusetzen und legte mit diesem Präzedenzfall den Grundstein für weitere Patente. Er hat die Forschung und Analyse der Biotechnik, wie er es damals nannte, industrie- und förderwürdig gemacht.
Francé gilt auch als Erfinder des Wortes Biotechnik und sagt u.a.: „Wenn man sich die Kleinwelt des Wassers mit Mikroskopen nahebringt, wird die Natur fast geschwätzig“. Was meint er damit?
Simon: Er hat sich eigentlich nicht nur um die Pflanzen gekümmert, sondern er hat offensichtlich auch eine gute mikroskopische Ausstattung gehabt. Er hat früh im Wasser nach Kleinstlebewesen geschaut, daher ist er auch ein klassischer Mikrobiologe. Er hat viele Flagellaten analysiert, die man damals noch in die Botanik einsortierte und er hat diese Wassertropfen oder diese Bodenmikrobiologie, also alles das, was er als Kleinwelt des Wassers bezeichnet, sehr gut analysiert. Dazu gehören eben auch Einzeller, die durchs Wasser gleiten und eine gute Anpassung haben. Und das meint er mit „geschwätzig“, man kann sich die Formen anschauen und Lösungen betrachten. Auf der anderen Seite, wenn ich einen Wassertropfen analysiere, habe ich das ganze Ökosystem unter dem Mikroskop. Ich kann die Lebensgemeinschaften auf den Punkt betrachten, was ich sonst nur in langen Märschen durch die Natur erfahren kann. Er war sicher ein Spezialist auf den einzelnen Gebieten, aber er war auch multidisziplinär auf andere Fachgebiete wissbegierig.
Er schreibt das lange Jahre als bedeutendstes Werk der Pflanzenkunde bekannte „Das Leben der Pflanzen“, wobei die ersten vier Bände komplett aus seiner Feder stammen. Warum versagte ihm die Wissenschaft so lange eine Anerkennung?
Simon: Darüber habe ich lange nachgedacht. Eigentlich hat er alles richtig gemacht, d.h. er hat viel Translation gemacht, war auch 1907 Mitbegründer des „Mikrokosmos“, einer Fachzeitschrift, die allgemeinverständlich biologische Sachverhalte darstellte, und die leider 2014 eingestellt wurde. Er hat viel populärwissenschaftliche Literatur verfasst, das Leben im Ackerboden geschildert, hat sich im Vorwort zu seinem Buch auch ein wenig über Hegel ausgelassen, der brillant war, aber trotzdem nicht verstanden wurde und bekräftigt, dass er sich klar und verständlich ausdrücken will. Seine Bücher, seine Literatur sind wirklich angenehm zu lesen, also keine Fachliteratur, bei der man hochkonzentriert sein muss. Eigentlich sollte er weiter im Gedankengut der Menschen bleiben. Sein Buch „Das Leben der Pflanzen“ wird auch als „Brehm der Pflanzen“, nach Brehms Tierleben, gehandelt und ist somit ein Standardwerk. Er hat grundlegende Erkenntnisse formuliert, was die Bodenmikrobiologie angeht und damit auch die biologische Landwirtschaft mitbegründet. Francé betrieb grundlegende Forschung und analysierte Stoffkreisläufe. Daran orientiert sich heute die biologische Landwirtschaft. Ich glaube, er lebte in der falschen Zeit, denn damals war die Industrialisierung in vollem Gange, dann kam das Haber-Bosch-Verfahren (Großindustrielles chemisches Verfahren zur Synthese von Ammoniak Anm.d.Red.), der Stickstoffdünger wurde großtechnisch hergestellt. Von daher kann es gut sein, dass sich in dieser Zeit keiner für seine Analysen, den Kunstdünger, der aufkam durch einen biologischen Dünger zu ersetzen, interessierte. Heute ist das in der biologischen Landwirtschaft wieder aktuell und daher erlebt seine Forschung heute ein Comeback. Man erinnert sich wieder daran, vor allem da, wo die ökologische Landwirtschaft auf dem Vormarsch ist. Sogar Straßen werden heute wieder nach ihm benannt. Sein Andenken und seine Forschung erfahren jetzt wieder eine Renaissance.
Francé schrieb über 60 Bücher, unzählige Artikel und gilt als anerkannter graphischer Künstler, der die Technik des Federstiches, die im Kupferstich wurzelt, entwickelte.
Als kluger Kopf seiner Zeit sagte er: „Die Menschen können Flüsse durch Abwässer vergiften, die Luft durch Rauch und Abgase unatembar machen, aber sie können die Naturgesetze nicht zerstören, ohne selbst zerstört zu werden“ und ist damit in unserer heutigen Klimadebatte wieder topaktuell. Warum ist er trotz seines Werkes in Vergessenheit geraten?
Simon: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, denn die Schriften, die er verfasst hat, sind für die damalige Zeit revolutionär, weil er nicht den einzelnen Organismus sieht, sondern das ganze Ökosystem. Er hat es noch nicht global gesehen, wie wir das heute tun, aber genau das ist die konsequente Fortsetzung. Wir heute, mit Klimadebatte und Corona als Beispiel, wir sehen das nicht mehr im Ökosystem, sondern wir müssen die Probleme, die Stoffkreisläufe oder die Ausbreitung von den Coronaviren - wie wir das die ganze Zeit schon mit den Grippeviren tun - nicht mehr im einzelnen Ökosystem, sondern in der globalen Verbreitung sehen. Francé hat das schon damals konsequent analysiert. Es gab schon die Kanalisation, er hat auch realisiert, wenn ich alles in den Bach einleite, dann ist das zwar lokal erst mal weg, aber es ist noch existent. Ein Stoff wird irgendwo eingeleitet und hat auch Auswirkungen von dieser Stelle aus. Er war davon überzeugt, dass das Abwasser im Bach auch Auswirkungen auf den Bach hat. Wir müssen uns klarmachen, durch die Industrialisierung wurde viel Müll produziert, auch giftiger Abfall und Abgase. Das hat dazu geführt, dass Luft verpestet und Fische kontaminiert wurden. All das hat er schon gewusst. Aber das sind ungeliebte Themen für viele, und vielleicht hat das auch ein bisschen damals dazu beigetragen, dass er sich nicht in die Spitze der Topwissenschaftler einreihen konnte. Er ist nicht richtig in Vergessenheit geraten, seine Schriften und Ansichten erleben heute eine Renaissance.
Uwe Blass (Gespräch vom 22.10.2020)
Martin Simon studierte bis 2005 an der TU Kaiserslautern und wurde dann 2012 Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes.Seit 2018 leitet er die Fachgruppe Molekulare Zellbiologie und Mikrobiologie in der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften an der Bergischen Universität.