„Die Weltgeltung der deutschen Wissenschaft darf nicht verloren gehen“
Am 30. Oktober 1920 wurde die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gegründet. Ein Jahr100Wissen-Interview mit Prof. Dr. Volker Remmert, Universitätsprofessor für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschafts- und Technikforschung.
Am 30. Oktober 1920 wurde der Verein „Deutsche Gemeinschaft zur Erhaltung und
Förderung der Forschung – Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft – E.V.“
gegründet, um Zitat „die der deutschen wissenschaftlichen Forschung durch die
gegenwärtige wirtschaftliche Notlage erwachsene Gefahr völligen Zusammen-
bruchs abzuwenden.“ Der Name „Notgemeinschaft“ wich schon in den 1930er
Jahren dem Namen Deutsche Forschungsgemeinschaft, als die sie 1949 wieder-
gegründet wurde. Wie war die Situation der Wissenschaft nach dem Ersten
Weltkrieg?
Remmert: Die allgemein prekäre wirtschaftliche Lage nach dem Krieg ging mit einer chronischen Finanzknappheit der Hochschulen und Universitäten sowie außeruniversitärer Forschungsinstitute einher. Im Bereich der Bibliotheken konnten wichtige Bücher nicht mehr gekauft und Zeitschriften mussten abbestellt werden. Die Staatsbibliothek Berlin etwa hatte 1914 ca. 2.200 ausländische Zeitschriften bezogen, doch 1920 waren nur noch 140 finanzierbar. Das Geld für notwendige Erneuerung oder Umbaumaßnahmen musste außerhalb staatlicher Kanäle gesucht werden (wie z.B. bei der Rockefeller Foundation). Die Politik befasste sich zwar mit den Problemen der Wissenschaft, aber eine wirkliche Lösung war in der Inflationszeit angesichts der großen Zahl drängender und teurer Probleme nicht in Sicht. Die Wissenschaft in Deutschland fühlte sich durch Geldmangel und die internationale Isolierung vom Verfall bedroht. Man sah damit nicht nur die Qualität der Wissenschaft in Deutschland sondern vor allem auch die emotional so wichtige deutsche Führungsrolle in der internationalen Wissenschaft, auf die man ein natürliches Recht zu haben glaubte, vor dem Aus.
Durch den Versailler Vertrag erhielt Deutschland die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg und wurde von vielen internationalen Veranstaltungen ausgeschlossen. In dieser Situation konstituierte sich die neue Notgemeinschaft. Welche Aufgaben übernahm sie?
Remmert: Um den Engpässen in der Wissenschaftsfinanzierung und auch der Nachwuchsförderung zu begegnen, wurde 1920 die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gegründet. Mit dieser Selbstverwaltungskörperschaft, die in eigener Regie die von Staat und auch der Industrie bereitgestellten Gelder vergab, wurde ein neues Instrument geschaffen, dem alle wissenschaftlichen Institutionen des Deutschen Reichs angehörten. Allen Wissenschaftler*innen (Professorinnen gab es allerdings kaum), insbesondere jungen ohne Dauerstellen oder eigene Laboratorien, war es nun möglich Anträge auf finanzielle Unterstützung zu stellen und auf dieser Basis eigene Forschungsideen unabhängig zu verfolgen. Grundlage der Vergabe war die Begutachtung ihrer Anträge in einem relativ transparenten und demokratischen Verfahren. Dieses neue, aus der Not geborene Instrument wurde bald auch im Ausland als Vorbild moderner Wissenschaftsförderung imitiert.
Die Reichtagsabgeordnete Clara Zetkin brachte die Situation in ihrer Rede auf der Sitzung am 24. Januar 1921 auf den Punkt: „Die wissenschaftliche Forschung ist schwer bedroht und kann nicht weitergehen. […] Die einzelnen Länder haben knapp die Mittel überwiesen, die zur Aufrechterhaltung des universitären Lehrbetriebes notwendig sind. Für den Unterhalt und die Weiterführung der wissenschaftlichen Forschung sind keine Mittel da. Das Forschungsmaterial ist aufgebraucht, die Instrumente sind abgenutzt. Neuanschaffungen sind nicht möglich, weil Materialien und Instrumente kolossal im Preise gestiegen sind. Das Erscheinen wissenschaftlicher Zeitschriften und Bücher ist durch die Wucherpreise der Herstellung in Frage gestellt. […] Es ist eine Schande, daß die Wissenschaft mit dem Bettelsack herumgehen muss.“ Wie ging es dann weiter?
Remmert: Tatsächlich hatte im Juli 1919 Max Planck festgestellt: „Denn die Wissenschaft gehört mit zu dem letzten Rest von Aktivposten, die uns der Krieg gelassen hat, den einzigen, denen auch die Begehrlichkeiten unserer Feinde bisher nichts Wesentliches anhaben konnte“. Damit gab Planck, wie auch andere, etwa der Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Adolf von Harnack, der Anfang 1920 sagte, der Krieg sei zwar verloren, „die Wissenschaft aber, trotz des Verlustes von tausenden ihrer Träger, steht noch immer aufrecht, doch droht auch ihr der Untergang“, der verbreiteten Auffassung Ausdruck, dass die Wissenschaft in Deutschland zu den wenigen Gebieten zählte, auf denen man noch ungeschlagen sei. Das zugehörige Schlagwort war die „Weltgeltung der deutschen Wissenschaft“, die nicht verloren gehen dürfe. Natürlich gehörte dieser rhetorische Kunstgriff zu den Standardargumenten, wenn es darum ging, der in finanzieller Hinsicht notleidenden Wissenschaft in Deutschland neue Ressourcen zu eröffnen. Tatsächlich entspannte sich die finanzielle Lage der Wissenschaft in Deutschland bis Mitte der 1920er Jahre. Bis dahin aber wuchs die Notgemeinschaft in eine wichtige Rolle in der staatlichen Wissenschaftsförderung, die ihr erhalten blieb.
Schon zu Beginn gab es über 2000 Anträge. Wo lagen die Bedarfe und nach welchen Kriterien wählte man aus?
Remmert: Die Notgemeinschaft vergab Forschungsstipendien an Nachwuchswissenschaftler*innen, unterstützte wissenschaftliche Einzelforschung sowie Forschergruppen, förderte Bibliotheksetats und vergab Druckkostenzuschüsse zu wissenschaftlichen Publikationen, seien es Bücher oder Zeitschriften. Die Antragsform war noch nicht festgelegt, oft genügte ein kurzer Brief, um Förderbedarf anzumelden (das gab es übrigens noch in den 1980er Jahren). Über die Vergabe von Mitteln wurde in Fachausschüssen entschieden, wobei eher selten vorab Gutachten eingeholt wurden. Die Notgemeinschaft entwickelte schnell eine rege Tätigkeit. Lücken in den Bibliotheksetats wurden gestopft und vor allem konnte die ausländische Literatur wieder angeschafft werden. Druckkostenzuschüsse wurden erteilt, Nachwuchswissenschaftler gefördert – in den ersten acht Jahren wurden 3700 Förderstipendien vergeben, die gleichwohl z. T. am Rand des Existenzminimums lagen –, Reisebeihilfen an Geologen und Archäologen ausgezahlt, etc.
Sehr hohe Priorität bei der Förderung hatte für die Notgemeinschaft die Unterstützung des wissenschaftlichen Publikationswesens. Warum war das so und wie ging man da vor?
Remmert: Eine angemessene staatliche Finanzierung von Forschung und Lehre war nach dem Krieg kaum zu leisten. Die Unterfinanzierung wirkte sich unmittelbar auf das wissenschaftliche Publikationswesen aus, denn die wissenschaftlichen Bibliotheken, d.h. insbesondere die Universitätsbibliotheken, reagierten z.B. mit Abbestellungen wissenschaftlicher Zeitschriften, v.a. aus dem Ausland, da sie unbezahlbar waren. Der Kaufkraftschwund im studentischen Publikum führte zum Kollaps des Lehrbuchmarktes, so dass auch dadurch wissenschaftliche Verlage in ihrer Existenz bedroht waren. In einigen Disziplinen kamen noch Spezialprobleme hinzu: der schwierige mathematische Formelsatz zum Beispiel, für den nur wenige Druckereien das erforderliche Typenmaterial besaßen, war besonders teuer und trieb so die Herstellungskosten nochmals in die Höhe. Zudem waren die Papierpreise nach dem Krieg auf ein Vielfaches des Vorkriegsniveaus angestiegen, was sich sofort in Preiserhöhungen für Zeitschriften und Bücher niederschlug.
In dieser Situation stellte die Notgemeinschaft erhebliche Finanzmittel zur Stabilisierung des wissenschaftlichen Publikationswesens zur Verfügung. Auch übrigens, weil deutschsprachige wissenschaftliche Literatur, etwa im Bereich der Klassischen Philologie, Mathematik, Medizin, Natur- und Technikwissenschaften, im Prinzip immer noch ein Exportschlager war und die Bewahrung der „Weltgeltung des deutschen wissenschaftlichen Buches“, wie es zeitgenössisch hieß, außen- und kulturpolitisch von großer Bedeutung war.
Die Notgemeinschaft wurde 1934 unter der nationalsozialistischen Regierung gleichgeschaltet. Wie ging es nach dem zweiten Weltkrieg weiter?
Remmert: Das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg hatten gravierende Auswirkungen auf die Wissenschaften in Deutschland. Die Entlassung der jüdischen Wissenschaftler in den Universitäten und Forschungseinrichtungen hinterließ nachhaltige Lücken. Die internationalen Beziehungen der Wissenschaftler wurden zunehmend durch die politischen Umstände in Mitleidenschaft gezogen. Im Zweiten Weltkrieg wurde in allen Disziplinen die Personaldecke an den Universitäten immer dünner. Darüber hinaus wurden viele Wissenschaftler zu Kriegsforschungsaufgaben herangezogen und so dem üblichen Forschungs- und Lehrbetrieb entzogen. Ihre Ergebnisse unterlagen oft der Geheimhaltung, so dass die Publikationstätigkeit insgesamt rückläufig war. Die Publikationsmöglichkeiten ihrerseits waren im Krieg durch die Papierkontingentierung stark eingeschränkt. Der Wiederaufbau der Wissenschaften und des Publikationswesens verlief nach 1945 inmitten der Zerstörungen an den Universitäten und der alltäglichen wirtschaftlichen Not schleppend. Insgesamt war die Entwicklung der Wissenschaften in Deutschland zwischen 1945 und 1949 gekennzeichnet durch (1) den Kollaps der wissenschaftsorganisierenden und forschungsfördernden Institutionen, (2) die alliierte Kontrolle der Forschung sowie die Demontage von Produktions- und Forschungseinrichtungen, (3) die Schließung, Entnazifizierung und alliierte Kontrolle der Universitäten und (4) einen personellen Exodus, insbes. aus der sowjetischen Besatzungszone nach Westdeutschland, aber auch aus den westlichen Zonen, v.a. in die angelsächsische Welt.
Das Jahr 1945 bedeutete für die staatliche Forschungsfinanzierung in Deutschland einen tiefen Einschnitt. Zentralstaatlich finanzierte Forschungseinrichtungen, wie Reichsinstitute und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (ab 1948 Max-Planck-Gesellschaft), verloren den Mittelfluss aus Berlin ebenso wie zentrale Institutionen der Forschungsförderung wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Forschungsförderung wurde nach 1945 zunächst in erster Linie Ländersache. Ab 1949 begann in Westdeutschland der Bund dann zunehmend forschungspolitische Initiativen zu entwickeln, über die Ansiedelung von Forschungsförderung im Atomministerium (Ressortforschung) bis hin zur Gründung eines entsprechenden Ministeriums für wissenschaftliche Forschung 1962. In diese Phase fällt auch der Beginn einer beispiellosen Expansion des Hochschulwesens in den 1960er und 1970er Jahren sowie die Gründung zweier solventer forschungsfördernder Institutionen, der Thyssen-Stiftung (1959) und der Volkswagen-Stiftung (1961). In dieser Phase hat die DFG sich seit den 1950er Jahren zu einer für den universitären Wissenschaftsbetrieb unverzichtbaren Größe entwickelt.
Wie wichtig ist die DFG für die Universitäten heute?
Remmert: Wer sich heute in den Universitäten und Hochschulen in Deutschland umschaut, wird schnell sehen, dass viele Forschungsbereiche ohne DFG-Mittel chronisch unterfinanziert wären (einen Überblick bietet der DFG-Förderatlas foerderatlas2018/Index). Das betrifft nicht nur die Ausstattung individueller oder kollaborativer Forschungsvorhaben, sondern auch den Aufbau einer strukturierten Nachwuchsförderung (etwa in Form von Graduiertenkollegs). So erfreulich dabei die erfolgreiche Einwerbung von Fördermitteln der DFG (oder anderer Drittmittelgeber) ist, so viel Zeit kostet sie die Antragsteller*innen, wobei die eingeworbene Finanzierung immer nur zeitlich begrenzt ist und berechtigte Kritik an den Antrags- und Begutachtungsprozessen geübt werden kann. Angesichts der Lücken in der Grundfinanzierung von Universitäten und Hochschulen sind die Fördermittel der DFG und vergleichbarer Förderinstitutionen in meinen Augen aber derzeit unverzichtbar.
Uwe Blass (Gespräch vom 01.09.2020)
Prof. Dr. Volker Remmert studierte Geschichte und Mathematik in Freiburg, Zürich und Karlsruhe. Er habilitierte sich in Neuerer und Neuester Geschichte sowie in der Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften. Seit 2011 ist er Professor für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Bergischen Universität. Zudem leitet er das Interdisziplinäre Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung ebenda.