Der Republikaner Warren G. Harding wird 29. US-Präsident
Dr. Volker Mittendorf / Politikwissenschaft
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Das Spezifikum präsidentieller Systeme

1920 wurde der Republikaner Warren G. Harding 29. Präsident der Vereinigten Staaten. Sein Parteikollege Donald Trump steht 100 Jahre später vor einer Wiederwahl. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Dr. Volker Mittendorf.

Am 3. November 2020 stehen die Präsidentschaftswahlen in den USA an. Fast auf den Tag genau (02.11.1920) vor 100 Jahren wurde der Republikaner Warren G. Harding zum 29. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Viele Parallelen verbinden Harding mit Donald Trump. So war er als erfolgreicher Zeitungsverleger sehr begabt in öffentlichen Auftritten, seine Regierungszeit begleiteten zahlreiche Skandale und eine uneheliche Affäre wurde durch Bestechung zum Schweigen verurteilt. Wie ist die Karriere solcher Männer zu erklären?

Mittendorf: Das ist ein Spezifikum von präsidentiellen Systemen. Da wird Macht auf eine einzelne Person konzentriert und das ist natürlich ein ganz anderes System als hier bei uns in der Bundesrepublik. Wir haben ein parlamentarisches System, in dem die Macht auch im Kabinett auf mehrere Personen verteilt ist. Wir haben zudem die Unterteilung zwischen Präsident und Kanzler. Dadurch ist dieser personelle Faktor etwas reduziert und es fehlt die extrem starke Konzentration auf diese charismatischen Persönlichkeiten, die in der breiten Bevölkerung wirken. Sie benötigen, um so ein Amt einzunehmen, auch den unbedingten Willen oder das Gefühl, gerne im Mittelpunkt zu stehen. Bei einem Präsidentschaftswahlkampf muss man gerne vor Leuten stehen und reden. Das ist eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, ein gewisser Narzissmus, der besonders stark ausgeprägt sein muss, um so ein Amt überhaupt anstreben zu wollen. Man muss viel Kritik wegstecken können, oder wie wir das bei Donald Trump beobachten, auf eine bestimmte Art und Weise so darauf reagieren, dass die Motivation dazu, Präsident zu sein, nicht davon angegriffen wird.
Dazu kommt noch, Harding war ein erfolgreicher Zeitungsverleger, Trump ist erfolgreicher Bauunternehmer oder stammt aus einer erfolgreichen Bauunternehmerfamilie. Man kommt in den USA ohne extrem große eigene Ressourcen fast nicht in so ein Amt hinein. In den 1920er Jahren war das so und spätestens seit der Präsidentschaft George Bush Senior hat diese Tatsache wieder deutlich zugenommen. Die amerikanische Rechtsprechung setzt de facto seitdem fast keine Grenzen der privaten Wahlkampffinanzierung und dementsprechend sind es immer reiche Personen, Leute, die gute Vernetzungen in diesem Bereich haben. Es ist eher unwahrscheinlich, dass jemand aus Mittelschichts- oder Unterschichtsfamilien in so ein Amt hineinkommen kann.
 

Harding verfolgte, und auch das hat sich wiederholt, eine Politik des Isolationismus, heute als „America first“ bekannt sowie eine Einwandererbeschränkung (Trumps Mauerpläne). Haben die Amerikaner das vergessen?

Mittendorf: Es war eine andere Zeit. Der Unterschied ist schlicht und ergreifend: Kurz nach dem ersten Weltkrieg, der auch viele Opfer in den USA forderte, hatte eine militärische Zurückhaltung in der Bevölkerung eine hohe Zustimmung. Isolationismus damals bedeutete ja eigentlich auch eine Abkehr von einer Kanonenbootpolitik (Durchsetzung von Wirtschafts- und Machtinteressen). Die USA, und das sieht man aus der europäischen Brille etwas weniger, war natürlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreich darin, militärische Macht auch in wirtschaftliche Macht umzumünzen, wenn man in den pazifischen Raum schaut. Z.B. wurde u.a. Japan gezwungen, sich für amerikanische Waren zu öffnen. Gegen diese Art von Wirtschaftspolitik wandte sich Warren Harding. Das hat eine andere Konnotation als die heutige Bündnispolitik, die wir im Kalten Krieg oder nachher in einer liberalorientierten Bündnispolitik hatten, gegen die sich Donald Trump richtet. Harding war im Gegensatz zu Trump ein sehr liberaler Mensch. Er hatte das Bild „Alle Menschen sind gleich“.
 

1920 waren erstmals Frauen wahlberechtigt, für deren Rechte sich Harding stark machte. Er erhielt 60,3 % der Wahlmännerstimmen und erreichte einen erdrutschartigen Sieg. Was hatte er, was Anderen fehlte?

Mittendorf: Er hat das Frauenwahlrecht sehr stark unterstützt, das hat ihn sehr von den anderen Kandidaten unterschieden. Und er hat sehr gut in der Öffentlichkeit gewirkt. Seine Auftritte zeigen, er wusste sich gut in Szene zu setzen. Außerdem kam diese Kriegsabwehrhaltung sehr gut bei der Bevölkerung an. Er war also bei Frauen populär und bei Leuten, die den Frieden wollten.
 

Eine weitere Parallele: Harding war sehr medienaffin und dem Beginn des Rundfunks sehr aufgeschlossen. Ein noch von der Navy betriebener Rundfunkempfänger wurde im Weißen Haus installiert. Donald Trump erklärt sich heute ungefiltert über Twitter. Wie wichtig sind die Medien für den Wahlerfolg?

Mittendorf: Innovation in der Mediennutzung, das ist das, was amerikanische Präsidentschaftswahlkämpfe immer wieder auszeichnet. Man muss sich in relativ kurzer Zeit sehr bekannt machen. In Deutschland haben wir eine stärkere, am Parteiimage ausgerichtete Wahlhaltung. John F. Kennedy hat die Chance des Fernsehmedienduelles sehr stark für sich genutzt und darin gegen Nixon punkten können, Barack Obama war mit Microfunding, also mit Kleinspenden sowie mit community-orientierter Direktansprache von Unentschlossenen durch freiwillige Helfer sehr erfolgreich und Donald Trump hat Twitter sehr gut angewendet. Die USA sind da auch viel offener für Innovationen, es ist eine innovativere Kultur als hier in Deutschland.
 

Hardings Reden enthielten oft Versprecher oder Sinnfehler. Er beharrte jedoch darauf, seine Reden selbst zu schreiben. Kritiker warfen ihm ein grauenhaftes, fehlerhaftes Englisch vor. Auch das kennen wir vom amtieren Präsidenten. Wieso agieren Politiker in solchen Führungspositionen nicht vorsichtiger?

Mittendorf: Weil sie es nicht müssen. Sie müssen nicht vorsichtiger agieren, das amerikanische Gefühl „da ist einer von uns“, das ist etwas, was beide sehr gut vermitteln konnten. Das kann auch Trump sehr gut vermitteln, obwohl er nicht aus der Arbeiterschicht kommt. Aber durch seinen Habitus, sein Auftreten, erweckt er den Eindruck, er sei wie einer aus der weißen amerikanischen Mittelschicht, der Erfolg hatte, wie man es selbst gerne hätte. Diesen Eindruck verstärkt er geradezu noch durch seine schlechte Rhetorik. Es ist bei Harding wahrscheinlich auch nicht anders gewesen. Er wirkte wie einer aus dem Volk, der einfach redet wie ihm der Schnabel gewachsen ist und dafür authentisch wirkt. Er kommt ja auch aus dem Progressive Movement, dass z.T. aus dem sogenannten Populist Movement hervorgegangen ist. Und in diesem Zusammenhang hat er diesen Dreh, sich an das Volk zu wenden, sehr stark für sich vereinnahmt. Es ist die Haltung: Wir gegen die Eliten da oben! Das ist auch heute wieder sehr stark geworden. Die Eliten in Washington, die sich so ausdrücken, dass man sie gar nicht verstehen kann. Und dann gibt es da jemanden, der redet wie wir. Das ist eine andere Form der Rhetorik als wir sie von Cicero kennen, der sehr intellektuell ausgefeilte Reden gehalten hat, sehr genau überlegt hat, wie er eine Rede halten muss. Das Authentische bei den amerikanischen Präsidenten kommt gerade daher, dass sie die Sprache des Volkes sprechen. Da sind Versprecher nicht nur legitim, sondern sie wirken besonders sympathisch und authentisch.
 

Eine großangelegte Korruptionsaffäre seines Beraterstabs belastete die Amtszeit Hardings, Trump wirft man immer noch Wahlmanipulation in der Ukraine-Affäre vor. Wieso machen solche Skandale einer Regierung nicht den Garaus?

Mittendorf: Man denkt vielleicht, dass eine demokratische Bevölkerung eher sagt, die Leute müssen besonders ehrlich oder sonst was sein. Aber stimmt das? Wer hat nicht schon mal etwas bei der Steuer nicht angegeben? Es geht um ein Gefühl! Der (Präsident) kann was durchsetzen, der weiß auch wie er es macht und dann ist das vielleicht auch in Ordnung. In Bayern sagt man dann: A Hund is er scho! Dieses Gefühl, er ist schon ein bisschen verschlagen, aber er macht das Richtige. Man kann sich die Frage stellen, ob Donald Trump wirklich das Richtige will, denn es gibt ja nicht wenige Politiker in der Republikanischen Partei, die momentan sagen, er sei eigentlich jemand, der den Willen Russlands verfolge, d.h. überhaupt nicht patriotisch handele. Er hat lange Zeit davon gezehrt, dass er einfach durchsetzungsstark ist. Und wenn erst einmal ein oder zwei Skandale abgearbeitet sind, dann gilt man als durchsetzungsstark, und das zählt dann mehr als das moralisch Verwerfliche. Es kann dazu in der Bevölkerung auch attraktiv wirken, wenn jemand mit unredlichen Mitteln vermeintlich etwas für andere – und vermeintlich für einen selbst – erreicht.
 

Harding stand dem Ku-Klux-Klan nahe, Trump sagte im Wahlkampf in Bezug auf Latinos, wenn „Mexiko seine Leute schickt, schicken sie nicht die besten. Sie schicken Leute mit vielen Problemen, und sie bringen diese Probleme mit. Sie bringen Drogen, sie bringen Kriminalität, sie sind Vergewaltiger.“ Trotz wiederholter rassistischer Äußerungen stehen immer noch die Hälfte der amerikanischen Bürger hinter ihm. Welche Gründe gibt es dafür?

Mittendorf: Es hat sich ja offensichtlich in den USA jetzt etwas geändert. Das liegt aber auch daran, dass die Politik Trumps durch Corona nicht sonderlich gut funktioniert. Es hat aber lange funktioniert. Ich bin mir bei Harding nach dem, was ich gelesen habe, nicht sicher, ob er Mitglied des Ku-Klux-Klans war. Was dafür spricht, ist, dass die Neugründung des KKK um 1920 herum in seinem Heimatstaat Ohio stattgefunden hat. Aber viele seiner Reden sprechen eher dagegen. Die Zeit war zwar sehr rassistisch, aber seine Reden hingegen nicht. Auch andere Entscheidungen sind bei Harding sehr stark pro Gewaltenteilung gewesen. Sie sind das genaue Gegenteil von Donald Trump, der im Prinzip den Präsidenten über allen Institutionen stehen sieht und sich selbst allen anderen gegenüber überlegen hält. Auch in der Besetzung der Bundesrichter, die in beide Amtszeiten fielen, hat Harding liberal, gewaltenteilend, demokratisch, Trump hingegen antiliberal entschieden.
 

Harding starb nach drei Amtsjahren plötzlich an einem Herzinfarkt. Trump steht vor seiner Wiederwahl. Wie schätzen sie seine Chancen ein?

Mittendorf: Ich hätte sie im April noch sehr gut eingeschätzt. Nun bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Es liegt daran, dass seine Untätigkeit in der Coronapolitik mittlerweile die eigene Wählerschaft sehr stark trifft. Am Anfang war offensichtlich das Gefühl da, das es eher die Großstädte, die sowieso demokratisch wählen, trifft. Mittlerweile trifft es genau die Landesteile, in denen es zur politischen Einstellung geworden ist, keine Maske zu tragen. Dort merkt man jetzt, dass diese Politik nicht wirksam ist. Dennoch kann man jemanden wie Trump nicht abschreiben, weil er entgegen aller Voraussagen im Prinzip immer wieder besser dagestanden hat, als es die Wahlprognosen angedeutet haben. Die Chancen halte ich immer noch für gegeben, wenngleich nicht mehr so groß.
Die Schwäche der demokratischen Partei ist eben auch sehr offensichtlich. Der Vorauswahlmechanismus ist nicht besonders effektiv gewesen. Die Partei ist extrem zerstritten. Die strukturelle Krise in den USA besteht ja vor allen Dingen darin, dass die ehemals gesellschaftlich tragende Schicht, nämlich die weiße amerikanische Mittelschicht, stark verarmt. Gleichzeitig gibt es kein wirkliches Erstarken der Zuwandererschichten, d.h. der Latinos, der afroamerikanischen Bevölkerungsanteile. Diese stärker werdende Schere in Einkommen und den Vermögen, die außerdem jetzt auch diejenigen trifft, die sich bisher als die tragende gesellschaftliche Schicht verstanden haben, macht den Konflikt so unkalkulierbar. Die Angst der Mittelschicht, abzusteigen und nicht mehr die Elite zu sein, macht in Amerika seit mehr als 25 Jahren Sorgen.
Die Positionen der Parteien gehen extrem stark auseinander, eigentlich spielen im Parlament, im Kongress, die Parteigrenzen normalerweise nicht so eine große Rolle. Das kann man historisch sehr gut nachvollziehen. Es hat nur zwei extreme Phasen der Polarisierung gegeben hat. Das eine war in den 1850er Jahren und es führte zum Bürgerkrieg und heute haben wir eine historisch starke Polarisierung unter Trump, obwohl es schon vor Trump begonnen hat. Es gibt relativ wenig Antwortmöglichkeiten, diese strukturellen Probleme der Ungleichheit wieder anzugehen und das ist eine negative Prognose für die Zeit nach der Wahl.
Da ist also noch jede Menge Sprengstoff bis zum Herbst und es geht ja auch noch weiter.
Es gibt viele Diskussionen in den USA, die auf eine Schwäche der amerikanischen Verfassung hinwirken, nämlich, dass der Amtsübergang nicht wirklich gut geregelt ist sowie die Problematiken, wenn Wahlen nicht stattfinden können. Aktuell in der Coronakrise lässt es die amerikanische Verfassung durchaus zu, dass das jeweilige Staatsparlament die Wahlmänner ins Electoral College schickt. Und dementsprechend könnte es schlicht und ergreifend sein, dass die Wahlen für nicht durchführbar erklärt werden. Dann würden einige republikanische Staaten ihre Wahlmänner einfach so bestimmen. Und wenn das in den Swing States passiert, dann würde Trump dadurch unter Umständen Präsident bleiben, und das wäre eine Form des kalten Putsches. Es könnte auch sein, der Amtsübergang ist nicht wirklich geregelt, der Präsident muss die Niederlage anerkennen. Jemand wie Donald Trump erkennt keine Niederlage an, egal wie deutlich sie ist. Da ist dann die Frage, wie bekommt man ihn aus dem Amt heraus? Das ist eine Diskussion, die in den USA momentan sehr offen geführt wird. Und wenn man sich anschaut, dass der Präsident den Heimatschutz schon jetzt in die demokratischen Städte schickt, lassen sich Überlegungen anstellen, was passiert eigentlich, wenn er die Wahl verliert? Ein Sprengstoff, der nicht nur in der Jurisprudenz diskutiert wird. Das sind Probleme, die bei der Persönlichkeitsstruktur von Trump durchaus in Betracht kommen.
 

Uwe Blass (Gespräch vom 24.07.2020)

 

 

Dr. Volker Mittendorf ist Akademischer Rat an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). Er ist stellvertretender Leiter des Instituts für Demokratie und Partizipationsforschung (IDPF) an der BUW. Seine Forschungsfelder umfassen das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, Lokale Politikforschung, Partizipation, Effekte direktdemokratischer Verfahren und Argumentationsmuster in der Wahlkampfkommunikation.

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