Vom Finden der eigenen Identität
Die Psychologin Prof. Dr. Nicola Ferdinand und das Projekt: „Wie denken Jugendliche?“
Adoleszenz bezeichnet den Zeitraum in der Entwicklung des Menschen, der sich vom Eintritt in die Pubertät bis ins junge Erwachsenenalter zieht. Es ist auch eine Phase, in der sich ganze Familien verändern. Jugendliche sind auf dem Weg, ihre eigene Identität zu finden, und das ist manchmal für sie und auch ihr Umfeld sehr hart. An der Bergischen Universität geht die Psychologin Prof. Dr. Nicola Ferdinand an ihrem Lehrstuhl für Psychologie mit dem Schwerpunkt Neurokognitive Entwicklung und Verhaltensregulation in einem Projekt der Frage nach: Wie denken Jugendliche?
Verschaltung der Nervenzellen
Zwar sehe das Gehirn von Jugendlichen, oberflächlich betrachtet, schon fast so aus, wie ein erwachsenes Gehirn, erklärt die Wissenschaftlerin, dennoch mache es in diesem Alter enorme Denk- und Reifeprozess durch. „Unser Gehirn besteht zu großen Teilen aus Nervenzellen, die miteinander zu Netzwerken verschaltet werden“, sagt Ferdinand und erklärt es im weiteren neurobiologisch: „Tatsache ist, dass unser Gehirn erst einmal viel zu viele Verschaltungen produziert, die wir gar nicht brauchen. Im Nachgang wird dann verfeinert, die Verschaltungen, die wir benötigen, werden verbessert, stabilisiert, andere werden gekappt, weil wir sie überhaupt nicht benutzen. Wo und wann das im Gehirn passiert, ist je nach Hirnareal unterschiedlich.“ Im Jugendalter geschehe das vornehmlich im vorderen Teil des Gehirns, im sogenannten frontalen Kortex, welcher maßgeblich für unsere Verhaltenssteuerung verantwortlich sei, führt sie weiter aus. „Wir nennen es kognitive Kontrolle, d.h., dieser Teil des Gehirns sorgt dafür, dass wir nicht auf jeden Impuls reagieren müssen, sondern Handlungen auch unterdrücken können, dass wir planen und vorausschauend rational denken können. Im mittleren Jugendalter, also etwa ab 14 Jahren, ist hier die höchste Verschaltungsdichte erreicht, und dann beginnt erst dieser Prozess, die wichtigen Verschaltungen herauszuarbeiten. Die Verhaltenskontrolle ist also zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ausgereift wie das bei erwachsenen Menschen der Fall ist.“ Ihre Entwicklung mache hier aber einen großen Fortschritt.
„Dazu kommt, dass ein tiefer im inneren des Gehirns gelegenes Hirnareal, das sogenannte limbische System, im Jugendalter hyperaktiv ist. Es ist für Emotionen zuständig, aber auch dafür, wie wir Belohnungen verarbeiten.“ Jugendliche seien dann besonders emotional, für Belohnungen besonders empfänglich. Das erkläre ein bisschen das manchmal auch recht willkürlich wirkende Verhalten, welches allerdings wichtig sei, um zu sozialkompetenten Wesen heranzureifen. Ein dritter Punkt betreffe die Verschaltung der Nervenzellen über weitere Entfernungen im Gehirn, durch die die Verbindungen effizienter und schneller gemacht würden. Das geschehe durch eine Art Isolierschicht, die um die Neuronen herum gebildet würden. „Dadurch kann die Kommunikation z.B. zwischen dem „emotionalen Teil“ und dem frontalen, „rationalen Teil“ überhaupt erst richtig stattfinden. Diese drei kritischen Dinge passieren im Jugendalter.“
Kreativität im Problemlösen und Flexibilität im Denken
Jugendliche sind durch diese Entwicklung in ihrem Verhalten noch sehr variabel. Man könne nicht immer genau vorhersagen, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten werden. Ob sie Verhaltenskontrolle anwenden, sei ganz stark vom motivationalen und emotionalen Kontext abhängig. „Wenn ich denke, dass es sich für mich auszahlt, also dass es belohnend sein wird, wenn ich mich risikoreich verhalte, dann tue ich das natürlich. Und wenn ich denke, dass ich von meinen Peers, also von den Gleichaltrigen -die in diesem Alter sehr wichtig sind- Anerkennung bekommen könnte, weil ich risikoreich Autofahre, dann mache ich das auch eher, als ich das später, im Erwachsenenalter tue, wenn diese Entwicklungsprozesse abgeschlossen sind.“
Dieses variable Verhalten wurde lange Zeit nur negativ formuliert, Jugendliche galten als risikobereit, rebellisch, irrational und unkonventionell. Heute sehe man das wieder positiver. „Es ist eine sehr hohe Flexibilität im Denken von Jugendlichen vorhanden und diese Flexibilität ermöglicht es ihnen eigentlich erst, ihre Entwicklungsaufgaben in dieser Zeit zu meistern“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Dazu gehört beispielsweise, sich vom Elternhaus und den eventuell übernommenen Verhaltensschemata ein Stück weit abzulösen, eigene auszuprobieren, selbst eine Identität, eine Persönlichkeit zu entwickeln und auch in der Gruppe der Gleichaltrigen in der Welt draußen zurechtzukommen. Da helfen natürlich Kreativität im Problemlösen und Flexibilität im Denken sowie auch manchmal eine gewisse Tendenz, Risiken einzugehen. Dadurch probiert man überhaupt erst neue Dinge aus.“
Mehr Risikobereitschaft in unsicheren Situationen
Das Wuppertaler Projekt untersucht anhand von Aufgaben, wie Jugendliche Informationen verarbeiten und Entscheidungen treffen. „Wir verfolgen hier am Lehrstuhl zwei Forschungsansätze in dem Bereich“, erklärt Ferdinand. „Der eine ist, dass wir Jugendlichen Lernaufgaben stellen, die sie am PC bearbeiten oder Aufgaben geben, bei denen sie kognitive Kontrolle einsetzen müssen.“ Der zweite Ansatz untersucht das Entscheidungsverhalten. Dazu führen Ferdinand und ihre Mitarbeiterin, Dr. Corinna Lorenz, mit den Jugendlichen z.B. Fahrsimulationen am PC durch, um die Risikobereitschaft zu testen. „Man kann dann sehen, dass sie sich in bestimmten Situationen sehr rational verhalten können, in anderen aber auch nicht. Wir untersuchen aktuell besonders, ob die Unsicherheit der Situation etwas damit zu tun hat. Man vermutet nämlich, dass Jugendliche eher eine Tendenz zu Risikoverhalten zeigen, wenn unsicher ist, welche Konsequenzen ihr Verhalten haben kann.“ Computergestützte Kartenspiele bieten den Forscherinnen auch verschiedenste Möglichkeiten, Risikoverhalten zu analysieren. „Wir schauen dabei, was passiert, wenn man in einem Kartenspiel gewinnt oder verliert. Ist man vorsichtiger, wenn man gerade verloren hat? Oder geht man gerade dann Risiken ein, weil die Verluste vielleicht nicht so schwer wiegen?“ Auch hier sei wieder der Einfluss der Peergroup wichtig. Z.B. könne ein Lob durch Gleichaltrige die Leistungen gegenüber neutralen Situationen entscheidend verändern. „Wir versuchen, das Entscheidungsverhalten zu beeinflussen, indem wir z.B. emotionale Situationen schaffen, Belohnungsanreize oder verschiedene Motivatoren einsetzen. Wir verändern also die Entscheidungssituation, um zu schauen, wie die Jugendlichen reagieren und ob daraus ein höheres Risikoverhalten resultiert.“
Darüber hinaus zeichnet Ferdinand auch mittels EEG (Elektroenzephalogramm) die Hirnaktivität der Probanden auf, um weitere Aussagen über die Leistungen machen zu können. „Spannend ist, dass man Belohnung selbst im Jugendalter zielführend einsetzen kann“ erzählt die Forscherin, um damit die Leistungsbereitschaft zu steigern.
Besondere Einflussfaktoren, aber gleiche Themen
Jugendliche sind beeinflussbar, und das ist auch ganz normal, weiß Ferdinand. „Wenn man sich die Entwicklungsaufgaben anschaut, und dazu gehört Loslösung von bekannten Strukturen, wie z.B. vom Elternhaus, verbunden mit einer Selbstfindung, der Findung eigener Normen und Werte und der eigenen Identität, dann ist eigentlich schon klar, dass Jugendliche eine gewisse Anfälligkeit für Beeinflussbarkeit haben.“ An dieser Stelle seien die Gleichaltrigen sehr wichtig, denn „Jugendliche lassen sich besonders stark durch ihre Peers beeinflussen. Ganz besonders, wenn sie z.B. Gruppendruck ausgesetzt sind. Nicht umsonst kommen manche Jugendliche in diesem Alter auf die schiefe Bahn. Wenn man in die falschen Gruppen gerät, mit dem falschen Gruppendruck konfrontiert wird, kann man da sehr anfällig für Beeinflussung sein. Es kommt sicher immer darauf an, was für Jugendliche wirklich ´cool` ist. Und das waren vor zwanzig Jahren noch andere Dinge als heute.“ Einen großen Einfluss schreibt die Psychologin heute dabei den sozialen Medien zu. Das Handy beispielsweise scheine in diesem Alter förmlich an der Hand festgewachsen zu sein, und das beeinflusse sicher viele junge Menschen in ihrem Denken und Verhalten. „Die Themen sind auch heute immer die gleichen. Eine gewisse Art der Rebellion gehört dazu, weil man sich von Konventionen ablösen muss und eigene finden muss. Auch die Veränderung des eigenen Körpers spielt eine wichtige Rolle, damit muss man umzugehen lernen, und das hat Jugendliche schon immer umgetrieben.“
Weniger Konflikte durch mehr Autonomie
Konflikte mit den Eltern kennt jeder aus eigener Erfahrung. Waren Eltern früher oft gegen alles, was Jugendliche machten, werden sie heute häufig sogar zur Party eingeladen. „Ich könnte mir vorstellen, dass es daran liegt, dass sich das Erziehungsverhalten geändert hat. Früher wurde deutlich autoritärer erzogen mit starren Regeln, die dann auf einmal mit Eintreten der Volljährigkeit weggefallen sind“, sagt Ferdinand. „Das ist heute doch anders geworden. Idealerweise gibt man den Kindern altersangemessen mehr Freiräume und Möglichkeiten, sich auszuprobieren. Autonomie wird eher unterstützt, statt eingedämmt. Man möchte, dass sie sich zu selbständigen Menschen entwickeln. Und dadurch bieten sich Eltern als Thema zur Rebellion nicht mehr so stark an.“ Allerdings zeige sich Rebellion auf verschiedenste Art und Weise, erklärt die Wissenschaftlerin. Das könne auch der Musikgeschmack sein, der vielleicht unkonventionell auch schon mal das ganze Haus zudröne oder eine Extremsportart. Auch besondere Modetrends, die Durchsetzung eines Tattoos oder Frisuren können in diese Kategorie gehören.
Manchmal können Jugendliche gar nicht anders
Neurowissenschaftler und Psychologen arbeiten daran, das jugendliche Gehirn besser zu verstehen. Dabei spielt die psychische Gesundheit junger Menschen eine wichtige Rolle. „Es ist es ganz wichtig, das Verständnis herzustellen, warum sich Jugendliche so und nicht anders verhalten“, erklärt Ferdinand. „Wenn es dafür neurophysiologische oder neurochemische Erklärungen gibt, ist es leichter zu verstehen, dass Jugendliche manchmal gar nicht anders können. Sie müssen durch diese Phase durch, sie müssen mit ihren körperlichen Veränderungen umgehen. Dazu gehören auch die Veränderungen im Gehirn. Sie müssen ihre Entwicklungsaufgaben bearbeiten, um zu selbständigen jungen Erwachsenen heranzureifen.“
„Auch die Wirkung der Sexualhormone im Gehirn in Bezug auf die Veränderungen im Denken und Verhalten ist interessanterweise noch gar nicht so gut erforscht“, sagt Ferdinand, „aber gerade bei Testosteron häufen sich die Hinweise, dass es mit Risikoverhalten korreliert. Je höher der Testosteronlevel, desto eher findet man Risikobereitschaft.“ Wenn Bezugspersonen das verstünden, könne ein entspannterer Umgang miteinander entstehen und man sei dann auch eher in der Lage, nicht alles als persönlichen Angriff zu werten, auch wenn es so formuliert sei. „Jugendliche suchen ja Reibungspunkte. Und man kann auch, wenn man diese biologischen und sozialen Mechanismen versteht, Präventionsprogramme speziell für Jugendliche entwickeln, bei denen man diese Mechanismen beachtet.“ Das könne z.B. ein neutral gestalteter Kontext sein, in dem man mit ihnen spricht. Auch eine gute Basis zu anderen Gleichaltrigen könne hilfreich sein. „Eltern sind weiterhin ganz wichtige Bindungs- und Bezugspersonen, auch wenn da Freundinnen und Freunde neu mit hinzukommen. Wenn Jugendliche überfordert sind, sind Eltern immer noch die wichtigste Anlaufstelle und der wichtigste Rückhalt. Sie können Autonomie fördern, Freiheiten ermöglichen und trotzdem bestimmte Regeln vorgeben, die auch eingehalten werden müssen, denn die Jugendlichen sind noch nicht junge Erwachsene und brauchen noch Regeln und Strukturen. Die können und sollten Eltern auch noch liefern.“
´Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr` heißt es in einem Sprichwort, dass die oft schwierige Begleitung Jugendlicher durch Erwachsene beschreibt. Professorin Ferdinand formuliert es so: „Es ist der schmale Grat zwischen den Freiheiten, die man geben sollte, damit Jugendliche sich selbst ausprobieren und entwickeln können und klaren, vorgegebenen Regeln, an die sie sich auch halten müssen. Man muss eine Balance finden, denn, wenn man zu sehr auf eine Seite rutscht, kann das eine ganze Kaskaden negativer Folgen auslösen. Schränkt man die Freiheit zu sehr ein, bekommt man die Rebellion stärker zu spüren. Lässt man alles zu, geraten sie vielleicht leichter in Schwierigkeiten. Genau die Mitte zu treffen, ist die Kunst.“
Der Lehrstuhl für Psychologie mit Schwerpunkt Neurokognitive Entwicklung und Verhaltensregulation sucht immer wieder Studienteilnehmer im Alter von 8-19 und von 65-80 Jahren. Für die Teilnahme erhalten die Probanden eine Aufwandsentschädigung. Interessierte können sich unter music@uni-wuppertal.de oder 0202-439 5317 (Mo bis Do 10-12 Uhr) melden.
Uwe Blass
Prof. Dr. Nicola Ferdinand leitet den Lehrstuhl für Psychologie mit Schwerpunkt Neurokognitive Entwicklung und Verhaltensregulation in der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität.