„Wir tragen Musik heute am Körper“
Prof. Dr. Barbara Hornberger über Popmusik im Wandel
„Licht aus! Spot an!“, oder „Hier ist Berlin“ riefen Ilja Richter und Dieter Thomas Heck den begeisterten Popmusikfans in den 70er Jahren zu und begrüßten ihr Publikum in ihren Shows „disco“ und „ZDF-Hitparade“ an Samstagabenden. Der Mittwoch war dann in NRW für Mal Sondock und seiner „Diskothek im WDR“ reserviert, in der alle Neuvorstellungen per Postkarte in die Hitparade gewählt werden konnten. In der ARD präsentierte der „Musikladen“ einmal im Monat donnerstags unter der Moderation von Uschi Nerke und Manfred Sexauer meist internationale Stars und läutete Anfang der 80er Jahre durch eines der ersten Musikvideos der Gruppe Visage mit dem Titel „Fade to Grey“ das Videozeitalter ein. Daraus entstanden neue Formate wie die Musikvideosendung „Formel eins“, die bei Jugendlichen hoch im Kurs stand. 40 Jahre später sagt die Musikwissenschaftlerin Barbara Hornberger: „Heute tragen wir Musik am Körper“ und berichtet über den Wandel in der Popmusik.
Einprägsame Melodielinie
In den letzten 40 Jahren haben sich Popsongs sehr verändert. Vor allem das Intro von Popsongs hat sich seit den 80ern merklich verdichtet. Waren es damals noch um die 30 Sekunden, ist es heute bis auf max. 5 Sekunden geschrumpft. Das liege vor allem an Algorithmen von Streamingdiensten, sagt Hornberger, denn, wenn ein Song nicht schnell interessant erscheine, schalte der User häufig weg. „Man kommt so schnell wie möglich zurück zu einer einprägsamen Melodielinie. Das geht dann über die Gitarre, die Stimme oder ein markantes Riff, mit dem die Leute das Gefühl haben, da geht was los. Damit wird Aufmerksamkeit erzeugt.“ Die Hörgewohnheiten haben sich in den letzten Jahren sehr verändert, Musik wird heute einfach anders gehört. „Vor 50 Jahren musste man aufstehen, zum Plattenspieler gehen, die Nadel anheben, sie entweder weitersetzen oder die Platte umdrehen oder gar eine ganz andere Platte suchen. Man hatte also einen viel höheren Aufwand.“ Dadurch, dass man Musik heute mit den Smartphones am Körper trage, könne bei Nichtgefallen schnell weitergeskipped werden.
Die hohe Dunkelziffer der Musikfans neben dem Mainstream
´Bohemian Rhapsody` von Queen galt mit seinen knapp 6 Minuten Spiellänge bereits 1975 bei vielen Radiostationen als unspielbar, heute läuft kaum ein Song in den Charts noch länger als 2:50 Minuten. Intros, Bridges und Gitarrensoli scheinen ein Stilmittel von gestern zu sein. „Für das Mainstreamradio und den Mainstream-Stream stimmt das für den Moment, aber es wäre falsch zu sagen, so wäre die ganze Musik“, schränkt Hornberger ein, man müsse auch die Menschen mitdenken, die noch immer Musik anders hören. „Auch im Stream gibt es Leute, die eben doch ihre Alben hören, sich eigene Playlisten bauen. Das taucht vielleicht nicht unbedingt in den Charts oder in den Clickcharts auf, aber es ist dennoch eine existente Form von Musik. Und da gibt es auch noch Intros, lange Songs und auch Gitarrensoli. Es ist genreabhängig.“ Jedes Genre habe eigene ästhetische Regeln, die den Fans bekannt seien. „Ein echter Progrockfan (Progressiver Rock) besteht darauf, dass ein Song mindestens 7 Minuten lang ist und Metalfans schätzen nach wie vor Gitarrensoli.“
Songs werden dichter
Verfolgt man die Charts, kann man den Eindruck gewinnen, dass das Tempo in den Musikstücken rasant angezogen hat. „Ein Teil dieses Trends geht sicher auch auf das Konto der elektronischen Tanzmusik“, erklärt Hornberger, die beats per minute wurden immer schneller. Man finde in der Geschichte der populären Musik jedoch ein ständiges Wechselspiel der Tempi, wie man es schon in den 70er Jahren bei Progrock oder Punk beobachten konnte.
„Es gab den Ehrgeiz, immer schneller zu werden, vielleicht auch immer lauter, immer tiefere Bässe, also in die Extreme zu gehen. Das ist, glaube ich, eher ein Erbe der Clubkultur.“ Gesellschaftlich gesehen verweist die Wissenschaftlerin auf den Soziologen Hartmut Rosa, der mit seinem Buch ´Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne` auf den technischen Fortschritt und die damit verbundene beschleunigte Veränderung der Kommunikations- und Handlungskontexte hinweist. Die populäre Musik wäre dazu eine Entsprechung. Auch hier gelte aber, dass der Trend nicht alles abbilde. „Es gibt immer noch auch extrem langsame, eher Laid-back-orientierte Musik, es gibt Leute, die Blues hören oder B.B. King gut finden oder Lana del Ray hören.“ Die Veränderungen hätten manchmal weniger mit der Schnelligkeit, als vielmehr mit der Produktion zu tun. „Die Songs werden dichter. Es ist mehr los an Sounds, und das macht auch manchmal den Eindruck von Schnelligkeit, obwohl es eigentlich eine erhöhte Informationsdichte ist.“ Auch die Titel der Songs, früher oft halbe Sätze, verkürzen sich heute auf meist ein Wort. Das sei kein Tribut an die Streamingdienste, mutmaßt Hornberger, sondern eher ein Tribut an die kleinen Tastaturen der Handys. „Also wenn ich einen Titel eingeben muss und der hat acht Wörter, dann bin ich ja schon schlecht gelaunt, bevor der Song losgeht. Und je kürzer der Titel ist, desto schneller ist der Song aufzufinden.“
Popmusik muss sich rechnen
Hinter populärer Musik stehen kulturindustrielle Prozesse. Viele gegenwärtige Hits hat man schnell wieder vergessen, auch wenn sie sich finanziell rechnen. „Auf Platte wurden früher vor allem Songs gepresst, von denen man glaubte, sie seien erfolgreich, denn es war teuer“, erklärt Hornberger und fährt fort: „Die Tin Pan Alley (Straße in New York, in der zwischen 1900 und ca. 1930 die meisten US-amerikanischen Musikverlage ansässig waren, Anm. d. Red.), die die populäre Musik massenmedial verbreitet, und, wenn man so will, professionalisiert hat, ist eine Kulturindustriemaschine.“ Daher komme der Pop eigentlich. Wenn man über die Spitze der Charts rede, also über Mainstream, dann gäbe es Normierungen, die an Streamingdiensten hingen und das wiederum erzähle uns etwas über den Markt. „Die Kulturindustrie funktioniert heute anders als vor 50 oder 100 Jahren. Früher haben die Musik-Labels den Ton angegeben und entschieden, was sie pushen, welche Künstler sie signen und wieviel Zeit und Geld sie in sie reinstecken. Aber diese Deutungshoheit haben sie nicht mehr. Diese Deutungshoheit haben heute vor allem Streamingdienste. Die Labels richten sich nach den Streamingdiensten und nicht andersherum. Und dann müssen sich Künstler*innen und ihre Labels entscheiden, in welches große Feld sie sich einordnen.“ Es habe aber auch immer Absetzbewegungen vom Mainstream gegeben, von denen die Indiebewegung (Independent ist eine Sammelbezeichnung für erschaffene Kulturgüter von Selbstständigen, die damit ein eigenes Genre bilden. Anm. d. Red.) sicher die Größte sei. Viele Bands oder Künstler*innen folgten nicht dieser Chart- und Streaming-Logik und fänden ihr Publikum, auch wenn sie nicht an der Spitze der Charts stünden.
Zeit bestimmt Evergreens
Musik der Gegenwart scheint eine kurze Halbwertzeit zu haben, zu schnell wechseln die Hits des Mainstreams. „Diese Sichtweise ist mir tendenziell zu kulturpessimistisch“, kontert Hornberger, denn „in jeder historischen Phase gibt es Kultur, die überlebt und vergessen wird. Und an diesen Bewertungen sind viele verborgene gesellschaftliche Machtprozesse beteiligt. Man sieht das zum Beispiel daran, dass wir nur wenige Komponistinnen aus der klassischen Musik kennen.“ Was in einer Gesellschaft als wertvoll, als erinnerungs- und aufbewahrungswürdig angesehen werde, sei schwer zu prognostizieren. Keiner könne wissen, was in 10 oder 15 Jahren noch von dem erinnert werde, was gerade im Radio laufe.
Erfolgreich ist, was das Publikum hören möchte
Laut einer Studie der Universität Michigan wurden die Songtexte über die letzten 60 Jahre immer trauriger und wütender. Die erfolgreichsten Songs von Adele sind beispielsweise nach ihrer Trennung und Scheidung entstanden. So könnte man denken, dass Trauer und Wut die Kreativität steigern. „Das ist interessant“, antwortet die Wissenschaftlerin, „denn es gibt eine andere Studie von der BBC, die sagt, im Moment wird die Popmusik nicht nur schneller, sondern auch heiterer. Es scheint darauf anzukommen, wen man fragt, welchen Zeitraum man sich anschaut und welche Songs man untersucht.“ Erfolgreich sei sicher alles, was das Publikum hören möchte. Hornberger zitiert in diesem Zusammenhang den britischen Musikjournalisten und Forscher Simon Frith, der sage, dass der Erfolg von Popmusik nicht daran liege, dass wir uns mit Sängern oder Sängerinnen identifizierten, sondern dass wir das Gefühl hätten, dass die Sänger*innen unseren Empfindungen eine Stimme und einen Text gäben. Dass sie das besser sagen, was wir nicht ausdrücken könnten. „Das wäre bei Adele der Fall. Sie hat eine musikalische und verbale Sprache gefunden für das, was viele Menschen erleben.“ Aus Traurigkeit Kreativität zu schlussfolgern hält Hornberger auch für heikel und sagt: „Wir sehen gerade eine wachsende Forschung zu Popmusik und Mental Health. Dort wird beobachtet, dass genau dieses Stereotyp für aktive Musiker*innen gefährlich ist, weil es z.B. Substanzmissbrauch befördert, weil es negative Selbstkonzepte beeinflusst, weil es auch Erwartungshaltungen von Industrie und Medien triggert und damit psychisches Leid eher verursacht oder vertieft.“ Das könne bei Musiker*innen oder Songwriter*innen auch zu psychischen Erkrankungen führen. „Ich würde eher sagen, Sensibilität kann Kreativität befördern.“ Und wenn diese Sensibilität auf das Publikum treffe, könne es sich die Songs aneignen und für das eigene Leben in Besitz nehmen.
So werden gestern wie heute viele Songs zu persönlichen Evergreens, weil wir sie mit Situationen, Menschen o.ä. erinnern, auch wenn sie keine Rolle in den Hitparaden spielen.
Uwe Blass
Prof. Dr. Barbara Hornberger studierte Kulturpädagogik in Hildesheim und promovierte zum Thema "Die Neue Deutsche Welle. Geschichte, Ästhetik und popkulturelle Bedeutung". Seit September 2022 lehrt sie Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Populäre Musik und digitale Musikkulturen an der Bergischen Universität.