Prof. Dr. Dr. Dr.h.c. Dieter Vieweger / Biblisch-Archäologisches Institut
Foto: Sebastian Jarych

Von der spannenden Entdeckung einer Stadt und ihrer Stadtmauern

Der Direktor des Biblisch-Archäologischen Instituts an der Bergischen Universität, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Dieter Vieweger revidiert mit seinen Ausgrabungen die bisher angenommene Größe der Stadt Jerusalem in alttestamentlicher Zeit

Sieben Monate im Jahr forscht und gräbt der Direktor des Biblisch-Archäologischen Instituts an der Bergischen Universität, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Dieter Vieweger in Israels Metropole Jerusalem. Zurück in Wuppertal berichtet er in diesem Jahr über einen spektakulären Fund, der die weltweiten Forschungserkenntnisse über die Heilige Stadt deutlich verändert. „Seit vielen Jahren arbeiten wir in der Altstadt von Jerusalem. Man muss allerdings wissen, dass die touristische Altstadt das mittelalterliche Jerusalem ist. Die bronzezeitliche (1800 v. Chr.) und eisenzeitliche (= alttestamentliche; 1000-586 v. Chr.) Altstadt liegt südlich dieser Stadt – und tief in der Erde verborgen.“
Im Laufe der Geschichte habe sich Jerusalem nach Norden verlagert, was für heutige Archäologen gut sei, wenn man nach den alten Siedlungen sucht – denn dann stehen den Grabungen keine modernen Häuser im Weg.
„Wir verfolgten zwischen 2009 und 2012 auch ein Projekt mitten in der heutigen Altstadt, als wir nach der ehemaligen „Neustadt“ und der Mauer von Herodes d. Gr. suchten – die uns in den Geschichtswerken von Flavius Josephus ausführlich beschrieben und die im Neuen Testament vorausgesetzt wird. Wir konnten das riesige Gelände unter dem Kirchenschiff der Evangelischen Erlöserkirche 14 m nach unten graben und dabei die Stadtgeschichte des heutigen christlichen und arabischen Viertels incl. des Berges Golgatha und die Frage, wie die Via Dolorosa verlief, klären. Das ganze Gebiet ist bis heute unterirdisch über Brücken und Treppen in einem archäologischen Park zu besichtigen und (vor Corona!) haben etwa 40.000 Besucher diese Ausgrabung jährlich besucht. – Allerdings, die zwischen 21 und 4 v. Chr. errichtete Stadtmauer Herodes‘ selbst lag nicht unter der Kirche. So mussten wir nach anderen Methoden Ausschau halten, diese zu finden.“

Bodenkunde in einer nächtlichen Aktion

Mitten in der Nacht brach Vieweger während der letzten fünf Jahre immer wieder mit einem Team der TU Ilmenau und einem Holz-/Karbonvehikel auf. Sie durchkämmten die dann touristenfreie Stadt, um mit einer besonderen Art Georadar ca. 20 Meter unter die Erde zu schauen. Damit konnten tatsächlich zwei zusammengehörende Mauerzüge nachgewiesen und die Größe der herodianischen Stadt am Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts geklärt werden.

„Parallel dazu verlagerten wir unseren Ausgrabungs-Fokus auf den Zionsberg – die wirkliche Alt-Stadt südlich der heutigen Altstadt. Unsere Frage war, in welcher Zeit hier Menschen von der Eisenzeit an (?) bis in die islamische Ära gelebt haben. Welche soziale Klasse hier – am Südzugang zur Stadt – lebte, welchen Handwerken sie nachgingen, wie komfortabel ihre Häser waren etc.. Insgesamt war auch noch unklar, wann sich die Stadt Jerusalem bis zu dem von uns ausgegrabenen südlichsten Punkt der Stadtbesiedlung (vor dem Abbruch ins Hinnomtal) tatsächlich erstreckt hat.“ Die herodianische und byzantinische Stadtmauer war dort längst aufgefunden worden – auch die dazugehörigen Stadttore. „Doch wo war die Mauer der Eisenzeit (des Alten Testaments)? Im Norden davon – sozusagen am anderen Ende der Stadt – wurde diese alttestamentliche Stadtmauer mehrfach nachgewiesen. Da können im jüdischen Viertel die Touristen die sechs Meter dicke Mauer bestaunen, die ehemals zwischen acht und zehn Meter hoch war. Ein zweites Mauerstück ist in der sogenannten Davidszitadelle (die nichts mit David zu tun hat!) entdeckt worden.“ Dabei ist die Geschichte dieser alttestamentlichen Stadt schon speziell. Im 8. Jh. v. Chr. – zur Zeit der Könige Ahas und Hiskia – waren alle Staaten der südlichen Levante herausgefordert. Und letztlich habe kein einziges Königreich dieses überlebt, erklärt Vieweger. Die Armee des riesigen Reichs der Assyrer stand „vor der Tür“ und schickte sich an, das gesamte Gebiet und letztlich selbst Unter- und Oberägypten zu erobern! „Die Assyrer hatten bereits das Nordreich Israel zerstört und die Oberschicht dort einfach weggeführt. Während ihrer 200 Jahre Herrschaft über die damals bekannte Welt haben sie schätzungsweise 2,6 Mio. Menschen deportiert. Davon berichtet ja auch das Alte Testament. Und Israeliten, die nicht gefangen genommen werden wollten, flohen Richtung Süden, nach Juda, weil man da die gleiche Sprache sprach, den gleichen Glauben hatte und die Stadt Jerusalem kannte.“ Um diese Menschenmassen sicher schützen zu können, musste die Stadt expandieren und bekam eine neue Stadtmauer.
Dabei muss man sich vor Augen halten, wo überhaupt Mauern gebaut wurden und wie sich ein Volk dadurch gegen potentielle Feinde schützen konnte. „Der Feind soll sich ja die Zähne ausbeißen,“ sagt Vieweger, „und so müssen die Mauern stets klug an die Anhöhen gebaut werden, um dem Feind praktisch kaum Angriffs- und Aufmarschmöglichkeiten zu überlassen.“ Die Frage ist also immer: Wo an den Rändern der um Jerusalem gelegenen Täler würde man eine Mauer bauen? Und wie viele Flüchtlinge waren im 8. Jahrhundert aus Israel entkommen – wie groß musste folglich die neu ummauerte Stadt werden?
 

Foto: DEI/BAI

Zweifel an langgehegter Mauerthese

Ein Fund des Benediktinermönchs Bargil Pixner, den dieser in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts machte und in die Eisenzeit datierte, galt lange Zeit als feststehende Tatsache der Maximalausdehung des eisenzeitlichen Mauerverlaufs im Süden. Die Fundstelle wurde jedoch nicht allumfassend erforscht, sondern nach Beendigung der Grabung 1988 teilweise wieder zugeschüttet. Das Areal verwahrloste, überwucherte und diente als Müllablageplatz. Bei Viewegers Wiederaufnahme der Grabungen an dieser Stelle, kamen dem Team bald Zweifel an der Pixnerschen These, denn „wir machten flächendeckend durch unsere Grabungsjahre die Beobachtung, die auch schon unsere israelischen Kollegen ein Stückchen weiter östlich gemacht hatten. Wir fanden zwar überall ein paar eisenzeitliche Scherben, die auch von Hirten stammen oder mit der Zeit heruntergespült worden sein konnten“, erklärt er, „aber wir haben niemals ein alttestamentliches Haus entdeckt. Gab es in dieser großen Ausdehnung (wie sie angenommen wurde) gar keine eisenzeitliche Stadt – war sie doch letztendlich wesentlich kleiner und kamen deutlich weniger Flüchtlinge aus dem Nordreich Israel nach Jerusalem?“
Mauern sind schwer zu datieren, es werden Steine in die Erde gesetzt, es gibt allerdings immer einen Fundamentgraben, einen Schacht, in die man die Basis der Mauer setzt. Die dort gefundenen Keramikscherben verraten, wann die Mauer frühestens gebaut sein kann. Die Scherben sind stets älter als die Bauarbeiten. Um alle Zweifel zu beseitigen, entschied sich Vieweger im Coronajahr 2020, ohne sein sonstiges Team von ca. 40 Volontär/innen, an Pixners Mauerfund weiter zu graben. Mit einem kleinen Team von nur 12 Personen legte Vieweger im Frühsommer los. „Diese bis zu 7 Meter hohe Schuttschicht in ca. 12 bis 14 Quadratmetern Umfang haben wir in Handarbeit weggeschafft. Wir hatten drei Förderbänder, aus unserem Freundeskreis aus Wuppertal geschenkt bekommen, mit denen wir das Material nach oben beförderten. Und dann konnten wir alle Bereiche, wo Mauern überhaupt errichtet worden sein konnten, auf die Tiefe ihrer Fundamentgräben erforschen.“ Eine Strapaze, bei der der 62-jährige natürlich auch anpackte. Um die richtige Datierung der Mauer durchführen zu können, bediente sich Vieweger dreier Methoden. „Wir haben von allen Mauern aus dem Fundamentgraben die Keramiken zur Datierung genommen, außerdem die sogenannte C14-Datierung für die organischen Materialien genutzt und schließlich die Thermolumineszenzdatierung, kurz OSL genannt, angewandt.“ Bei der OSL-Datierung, erklärt Vieweger, nehme man Erdreich, das seit seiner Verbauung keinem Licht ausgesetzt war und untersuche, wann diese Erde zum letzten Mal belichtet wurde (also, wann die Mauer genau auf diese Erde gesetzt wurde). Während der langen Zeit lädt der Erdmagnetismus die Elektronen des Erdreichs Jahr für Jahr auf. Und diese „Aufladung“ lässt sich messen und daraus zumindest das Jahrhundert bestimmen, in dem die Erde zuletzt dem Licht ausgesetzt war. „Wir wollten mit drei unterschiedlichen Methoden sicher sein, dass unsere Zeitbestimmungen korrekt sind!“


Foto: DEI/BAI

Kasemattenmauer wiederlegt bisherige Annahme

„Das Ergebnis hier war völlig überraschend. Wir haben keine durchgehende, dicke Mauer der Eisenzeit gefunden, wie wir sie weiter nördlich kennen. Die Stadt des Alten Testamentes hat sich nicht bis an diese südliche Stelle zum Abbruch ins Hinnomtal ausgebreitet. Sie war defintiv kleiner. Gefunden wurden vier verschiedene Mauern: aus hellenistischer, hasmonäischer, herodianischer und byzantinischer Zeit. Die von Bargil Pixner als eisenzeitlich bestimmte Mauer war eine Kasemattenmauer, d.h. eine Innenmauer und eine parallele Außenmauer, mit immer rechtwinklig eingezogenen Quermauern dazwischen. Im Friedensfall konnte man diese Zwischenräume als Ablageort für Werkzeuge oder Waffen nutzen. Im Kriegsfall schüttete man die Hohlräume voller Erde; und wenn der Feind dagegen stieß, verdichtete er die Mauer noch einmal zusätzlich.“ Das Interessante dabei ist die Tatsache, dass zwei amerikanische Archäologen, Frederick Jones Bliss und Archibald Dickie, bereits vor 100 Jahren nur 300 m entfernt eine genau gleich aufgebaute Kasemattenmauer gefunden hatten, sie aber nicht einzuordnen wussten. Vieweger, der auch Besuch an seinen Grabungsorten bekommt, wurde von seinen israelischen Kollegen daran erinnert. „Und so fanden wir eine Fortsetzung mit genau den gleichen Ausmaßen der Innenmauer und der Außenmauer sowie der Zwischenräume. Durch die aufgefundenen Keramiken war klar, dass sie im dritten oder zweiten Jahrhundert v. Chr. gebaut wurde.“
Die Aufzeichnungen von Bliss und Dickie konnte sich Vieweger im Palestine Exploration Fund ansehen. „Im Jahr 1896 wurden von beiden in wunderschönen maßstabsgerechten Zeichnungen, die man ausmessen kann, genaue Angaben gemacht.“ Damit war der Traum von Bargil Pixner gestorben, dort erstmals die große alttestamentliche Stadt zu finden.

Wo lag die Mauer wirklich? – Ein Gedankenspiel mit Logik und Glück

Damit sind Viewegers Fragen aber keinesfalls geklärt, denn wo lag die eisenzeitliche Mauer wirklich, von der wir die nördlichen Mauerzüge ja längst kennen? „Weiter unten am Hang geht es nicht, da ist es zu steil und tief – die Mauer rutscht ab und ist nicht zu verteidigen. Wir müssen weiter nördlich schauen. Die flachen Bereiche sind für Mauern ungeeignet. Erst dort, wo das Gelände wieder ansteigt, würde man wieder eine Stadtmauer errichten. An vielen Stellen dürfen wir nicht graben, da sie völkerrechtlich als ‚Besetztes Gebiet‘ gelten. Aber weiter oben auf dem Zionsberg nahe der katholischen Dormitio-Abtei – dort gäbe es eine Chance.“ An dieser Stelle setzt der Forscher im kommenden Jahr wieder an. Mit dem Abt hat er dort bereits Gespräche aufgenommen, um evtl. im Klostergarten graben zu dürfen.

Ein archäologischer Studiengang in Bethlehem

Pläne hat der emsige Wissenschaftler immer. In der katholischen Universität in Bethlehem plant er den Aufbau eines neuen archäologischen Studienganges. „Der DAAD hat eine Langzeitdozentur genehmigt. Die auszuwählenden Personen werden dann jeweils sechs Jahre an der Universität arbeiten. Wir können also mit einem Archäologen, der bereits in Bethlehem arbeitet und den wir gut kennen, sowie dieser neuen Kraft einen kleinen Studiengang in der Fakultät „Touristik“ einrichten. Mein Ziel ist es, mit diesen beiden Leuten, den Studierenden ihre eigene Geschichte in und um Bethlehem zu erforschen.“ Dazu sucht er zudem eine geeignete, überschaubare Grabungsstelle, die von den Studierenden ausgegraben, touristisch zugänglich und anschließend auch ständig gepflegt werden soll. Vieweger denkt dabei an ein beispielhaftes Lernen und betont, dass in der arabischen Welt ein solches Denken nicht sehr verbreitet sei. „Archäologische Stätten sind keine Stätten, wo man Geld einnehmen kann. Alle Eintrittsgelder werden niemals den Umfang an Reinigungsarbeiten, Sicherungs- und Ausbesserungsarbeiten aufwiegen. Eine Grabungsstätte bleibt immer defizitär. Gewinnen kann eine Gesellschaft nur, wenn alles zusammenspielt. Bus, Hotel, Zimmerservice, Guides, etc. Die Städte und Gebiete müssen ihre Gewinne so umlegen, dass auch der Mensch leben kann, der an der Pforte des Grabungsortes sitzt und für die Beschilderung sowie die Wegeführung zuständig ist.“ Für Vieweger eine praktische Hilfe zur Selbsthilfe, die er aufgrund seiner langjährigen Erfahrung gerne an kommende Generationen weitergibt.

Uwe Blass (Gespräch vom 04.12.2020)



Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Dieter Vieweger ist Professor für Altes Testament und Biblische Archäologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Gastprofessor für Archäologie an der Privatuniversität Witten-Herdecke, Leitender Direktor der beiden Institute des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman, Vertreter des Propstes in Jerusalem und Koordinator der evangelischen Bildungsarbeit in der Heiligen Stadt sowie Direktor des Biblisch-Archäologischen Instituts an der Bergischen Universität.


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