Sonderpädagogik: Ein Studiengang mit hoher, sozialer Motivation
Professor Dr. Michael Grosche forscht und lehrt am Institut für Bildungsforschung in der School of Education
„Ein Lehrer ist besser als zwei Bücher“ sagt ein deutsches Sprichwort und impliziert damit schon ein großes Maß an fachlicher, sozialer und organisatorischer Kompetenz. Jedoch für Kinder mit besonderen Förderbedarfen muss ein Pädagoge neben zusätzlicher Geduld und Aufopferung auch forschungsmethodisches Wissen mit in den Schulalltag einbringen. Um diese Fähigkeiten adäquat vermitteln zu können, gibt es an der Bergischen Universität das Institut für Bildungsforschung in der School of Education. Mit dem Ziel, bildungswissenschaftliche Kompetenzen für den Lehrerberuf zu vermitteln, schulbezogene Bildungsforschung durchzuführen und die an der Lehrerbildung Mitwirkenden koordinierend zusammenzuführen, lehren und forschen dort Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen. Professor Dr. Michael Grosche mit dem Arbeitsbereich „Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Lernen“ ist einer von ihnen.
Arbeitsgedächtnis- und Implementationsforschung
Der gebürtige Detmolder beschäftigt sich in seiner Professur seit 2015 u.a. mit Lernbeeinträchtigungen, meistens mit den kognitiven Fassetten des Arbeitsgedächtnisses. „Es gilt als gesichert“, sagt er, „dass das Arbeitsgedächtnis von Menschen mit Lernbeeinträchtigung eingeschränkt ist und es gibt Hinweise darauf, dass diese Einschränkungen ursächlich dafür verantwortlich sind, dass Menschen Lernbeeinträchtigungen entwickeln.“ Dieses, nennen wir es „reduzierte“ Arbeitsgedächtnis, ist ein Teil seiner Forschung, wobei er immer Hilfestellungsmöglichkeiten für die unterrichtenden Lehrkräfte mitdenkt. „Wir beschäftigen uns mit vielen diagnostischen Verfahren, die wir teilweise hier entwickeln und versuchen dann, den Unterricht auf dieser Grundlage zu verändern.“ Grosche beschäftigt sich auch im neuen Forschungsfeld Implementationsforschung, denn es setzt direkt in den Schulen an. „Wir gehen in die Praxis, schauen, was die Lehrkräfte vor Ort machen und versuchen das dann mit den Lehrerinnen und Lehrern zusammen weiterzuentwickeln“, erläutert er. „Wir haben z. B. ein diagnostisches Instrument für den Grammatikerwerb für die Verbstellung weiterentwickelt, dass in der Praxis sehr gut angekommen ist.“ In verschiedenen grammatischen Erwerbsstufen können dann die Kompetenzen der Kinder eruiert werden.
Das Konzept response-to-intervention (RTI)
Einen langen Weg bis zu einer Veränderung müssen alle neuen Konzepte gehen. Das in den sonderpädagogischen Arbeitsbereichen untersuchte sogenannte response-to-intervention-Konzept, kurz RTI genannt, evaluiert die dem Kind angebotene Förderung, um herauszufinden, ob diese Förderung auch dort ankommt. „In diesem Konzept diagnostizieren wir ungefähr drei Mal im Jahr die Lernstände von allen Kindern und Jugendlichen und schauen dann, wer evtl. mehr oder andere Förderung benötigt“. Diese Förderung wird dann kleinschrittig auf Passung zu den Lernbedürfnissen geprüft. Grosche nennt dies „experimentelles Unterrichten“, da man eine Förderhypothese zu Grunde legt, sie in der Realität testet und im negativen Fall noch enger an die Bedürfnisse des Kindes anpasst.
Inklusion
Dem Laien fällt in diesem Zusammenhang direkt der Begriff Inklusion ein, und der Bildungswissenschaftler sieht das RTI-Konzept auch als ein mögliches Modell. „Es ist“, erklärt er, „eines der kontroversesten Inklusionsmodelle, weil es auf der einen Seite recht pragmatisch versucht, eine möglichst gute Förderung für alle Kinder zu erreichen. Auf der anderen Seite geht es aber nicht davon aus, dass Lehrkräfte immer allen Kindern gerecht werden können. Daher ist RTI ein gestuftes System von Kooperationen von Regelschullehrkräften und sonderpädagogischen Lehrkräften, um inklusiven Unterricht zu unterstützen.“
Die Probleme im Umgang mit Inklusionsmodellen kennt Grosche zur Genüge und benennt sie auch. „Das vielgliedrige Schulsystem in der Sekundarstufe hat schon ein gewisses Spannungsverhältnis zur Inklusion. Bei der Inklusion geht es u.a. darum, dass viele Menschen, vielleicht sogar alle Menschen, an möglichst allen Prozessen des Schullebens teilhaben können. Und wenn wir weiterhin eine selektive Übergangsempfehlung haben und nur bestimmte Kinder aufs Gymnasium oder auf Realschulen gehen, haben wir ein großes soziales und leistungsbezogenes Gefälle. Und das ist schon ein bisschen widersprüchlich zur Grundidee der Inklusion.“
Das Gruppenpuzzle
Aber wie kann man dann Inklusion wirkungsvoll umsetzen? Der 37-Jährige illustriert es am Beispiel des sogenannten Gruppenpuzzles. „Es geht um das Verständnis eines Textes. Wir haben einen relativ umfangreichen Text und den schneiden wir in verschieden große Bausteine. Und ein Kind mit Förderbedarf im Lernen, das vielleicht noch nicht so gut lesen kann, bekommt einen ganz kleinen Textausschnitt, der aber trotzdem wichtig ist, um den gesamten Inhalt des Textes zu verstehen. Kinder mit besseren Lesekompetenzen würden größere Textbausteine bekommen. Das ist eine Methode, um mit heterogenen Kleingruppen im Schulalltag umzugehen.“ Die Kinder sind aufgrund unterschiedlicher Textbausteine aufeinander angewiesen, stehen im Fachjargon sozial interdependent zueinander. Um die Aufgabe zu lösen, diskutieren sie die jeweiligen Inhalte und präsentieren eine gemeinsame Abschlussaufgabe über den Textinhalt, in der Kinder mit Förderbedarf genauso wichtig sind für das Gruppenergebnis wie Kinder ohne Förderbedarf. Man benötigt also eine Lernaufgabe, die in verschiedene Subaufgaben unterteilbar ist und deren Gesamtergebnis nur gemeinsam erreicht werden kann.
„Es ist tatsächlich ein grundlegend wissenschaftliches Problem, dass wir es noch nicht geschafft haben, eine gute Theorie der Inklusion zu entwickeln“
Grosche kann die Verständnisschwierigkeiten Außenstehender zum Thema Inklusion sehr wohl nachvollziehen und weiß, dass die Umsetzung nicht immer komplett machbar ist. „Das liegt auch an den Theorien von Inklusion, weil die in sich nicht konkret genug ausgearbeitet oder teilweise sogar widersprüchlich sind. Es ist also nicht notwendigerweise ein praktisches oder politisches Problem, sondern auch ein wissenschaftliches Problem. Und da müssen wir vor allem von der theoretischen Forschung sehr viel präziser werden“, gibt er zu bedenken. Sein Wunschziel wäre eine präzise und eindeutige Theorie von Inklusion, für die er aber noch großen Entwicklungsbedarf sieht.
15.000 freie Grundschullehrerstellen in den nächsten zehn Jahren
Allein das oben genannte Beispiel des Gruppenpuzzles lässt viele Lehrer an ihre Grenzen stoßen, und das sieht der Wissenschaftler genauso. Aber er gibt zu bedenken: „Die Alternative, dass wir Förderung für Kinder mit Förderbedarf nur an Förderschulen anbieten ist nicht notwendigerweise die bessere Alternative. Es ist nicht so, dass Förderschulen durch die Bank weg extrem gut funktioniert und eine ganz tolle Förderung angeboten haben. Und vielleicht lernen Kinder mit Förderbedarf tatsächlich in der Inklusion besser, selbst wenn Inklusion noch nicht besonders gut umgesetzt wird.“
Die Politik hat zwar erkannt, dass Handlungsbedarf da ist, denn allein 15.000 Grundschullehrer, vermeldet Ministerin Gebauer, werden in den nächsten zehn Jahren fehlen. Doch die 500 neu geschaffenen Studienplätze für Sonderpädagogik pro Semester bedeuten Zeit, Lernzeit für die angehenden Jungakademiker, um die wichtigen Aufgaben im Schuldienst übernehmen zu können. „Bis die fertig sind, dauert es viele Jahre“, sagt Grosche. „Aber dann sind die Einstellungschancen exzellent. Alle, die unser Studium der Sonderpädagogik abschließen, werden eine Stelle bekommen.“
Und da kommen wir auch zu den Voraussetzungen, die Studieninteressierte der Sonderpädagogik beachten sollten. „Wir setzen bei unseren Studierenden eine sehr große soziale Motivation und Verantwortung voraus. Aber aufbauend auf diesen hohen sozialen Motiven ist unser Studiengang ein sehr wissenschaftlich orientiertes Studium, auch mit größeren Anteilen an empirischer Forschung und Diagnostik, für die man viele forschungsmethodische Kompetenzen benötigt. Das ist, glaube ich, für viele Studierende eine große Überraschung.“
Unterschiedliche Systemlogik von Uni und Schule
Die Zusammenarbeit mit vier Grundschulen im Bergischen Land laufen gut, eine weitere Kooperation mit einer Förderschule bahnt sich an. Eine entscheidende Schwierigkeit sieht der Wissenschaftler in der unterschiedlichen Systemlogik von Universität und Schule, die den Handlungsspielraum einengt. „Wir starten gerade ein Projekt, eine Kurzzeitförderung in der Rechtschreibung, die wir an ca. 10 Schulen umsetzen. Die Förderung dauert sieben Wochen. Viele Schulen machen gerne mit, weil die zusätzliche Förderung durch unsere Studierenden übernommen werden“, erzählt er. Aber gleichzeitig stellt er die Frage der Nachhaltigkeit, wenn die Studierenden die Schulen nach der Förderung wieder verlassen.
Attraktivität des Lehrerberufes steigern
Grosche weiß, wie anstrengend der Beruf des Sonderpädagogen ist. „Man braucht eine extrem hohe soziale Motivation, hinzu kommen intellektuell-forschende und auch Führungs- und Leitungsmotivation, und man muss konventionelle Bürotätigkeiten, wie formale Antragsverfahren und Dokumentationen, aushalten und gewissenhaft durchführen können“, sagt er abschließend. „Man sollte seinen Beruf als lebenslanges Lernen und der ständigen Erforschung verstehen, ob das, was man den Schülerinnen und Schülern anbietet, auch wirklich funktioniert.“
„Auch Lehrer waren einst Schüler“ sagt der Schweizer Theologe Walter Ludin und drückt damit den Vorteil aller Lehramtsstudierender aus, die einen Beruf anstreben, den sie selber jahrelang beobachten konnten.
Uwe Blass (Gespräch vom 04.12.2018)
Professor Dr. Michael Grosche studierte Sonderpädagogik an der Universität zu Köln und promovierte 2011 ebenda. Von 2013 bis 2015 war er Professor für Inklusionspädagogik/Förderschwerpunkt Sprache an der Universität Potsdam. Seit 2015 arbeitet er am Institut für Bildungsforschung in der School of Education an der Bergischen Universität. Sein Arbeitsbereich sind die Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Lernen.