„Man denkt, als Forscher könnte man noch ein bisschen die Welt verändern.“
Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu und das Bergische Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung
„Was meiner Meinung nach wirklich gesund macht und gesund hält, ist das Wissen!“, betont die Vorstandsvorsitzende des Bergischen Kompetenzzentrums für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung, Frau Dr. Juliane Köberlein-Neu und hebt damit die Verantwortung jedes Menschen in Bezug auf seine eigene, individuelle Gesundheit hervor. „In den letzten Jahren ist die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen stärker in den Fokus der Forschung gerückt“, sagt die Wissenschaftlerin und konstatiert, dass das Ziel u. a. darin besteht, den Bürger/die Bürgerin und /oder den Patienten/die Patientin zu befähigen, eine bewusst aktive Rolle in der eigenen Gesundheitsversorgung zu übernehmen. Das wiederum habe den Vorteil, dass Therapien nicht mehr aufoktroyiert werden, sondern dass der Patient sich durch „die Verbundenheit zu einer vorgeschlagenen Therapie … noch enger und besser daran orientiert“, und dann umsetzen könne, was verschiedene Akteure (Arzt, Apotheker, Therapeut) vorschlagen.
Der Begriff der Gesundheitskompetenz
Und dazu bedarf es dreier Komponenten. Köberlein-Neu formuliert sie so: „Bewusstsein, Gesundheitsverständnis und ein aktives Rollenverständnis, das sind die Hauptbestandteile für alles. Wenn diese Grundlagen geschaffen sind, dann ist es auch möglich, Defizite, die es immer gibt, eigenständig als Patient ein Stück weit auszugleichen.“
Bei der interdisziplinären Zusammenarbeit in Forschungsprojekten sowie in der Versorgung wünscht sie sich mehr Offenheit sowie Verständnis für die Bedürfnisse der jeweils anderen Profession und sieht in den verschiedenen Kompetenzen eine große Chance statt Konkurrenz. Dazu sagt sie: „Wenn ich mit anderen Professionen zusammenarbeite, wird mir nichts an Kompetenzen weggenommen, sondern ich begreife die Chancen. Das interdisziplinäre Arbeiten verstärkt das Verständnis füreinander, das Anerkennen der Kompetenzen anderer hilft, seine eigenen Kompetenzgrenzen zu akzeptieren.“
Gesundheitsökonomie – ein neues Thema
Köberlein-Neu war eine der ersten, die den spezifischen Studiengang Gesundheitsökonomie – damals noch in Köln- studierte. Bewusst entschied sie sich gegen ein Medizinstudium und macht auch heute allen Studieneinsteigern, die sich mangels ausreichendem Numerus Clausus dann doch für ihr Fach entscheiden, unmissverständlich klar, dass es sich bei der Kombination Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement um ein wirtschaftswissenschaftlich dominiertes Fach handelt.
Das Interesse am Patienten war ausschlaggebend für ihre eigene Studienentscheidung und sie sagt, „das Objekt der Begierde sind keine Zahlen, sondern es ist der Patient“, und die Richtung des Studiums bestimmt jeder einzelne für sich. Die Professorin erklärt dazu: „Man kann sich ja, wenn man Gesundheitsökonomie studiert in verschiedene Richtungen entwickeln. Man kann sich wirtschaftswissenschaftlich orientieren, also sich überwiegend für die Kosten und die ökonomischen Auswirkungen von Krankheit und Ungleichheit in der Gesellschaft interessieren. Man kann aber auch sagen, mich interessiert eigentlich die Versorgung. Dann ist man Idealist und denkt, als Forscher könnte man noch ein bisschen die Welt verändern. Das ist der Weg, den ich für mich eingeschlagen habe.“
In der Versorgungsforschung sieht Köberlein-Neu einige Vorteile. Viele Fragestellungen können fachübergreifen bearbeitet werden und so zur Weiterentwicklung der regionalen sowie überregionalen Gesundheitsversorgung beitragen. Auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit sieht sie viele Chancen, „wenn ich aktiv daran interessiert bin, den Patienten umfassend zu versorgen, aber nicht den Anspruch habe, es alleine zu tun. Und das ist wichtig.“
Gemeinsame Ziele definieren
Der Weg allerdings von der Theorie zur Praxis ist indes hart. Zunächst beginnt die Recherche nach Projektpartnern, welche bereit sind, neue Wege einzuschlagen. Köberlein-Neu nennt ein Beispiel dieser mühseligen Suche. „Wir haben in einem Projekt über ein Jahr gebraucht, um z. B. Apotheker und Ärzte zusammen zu führen und auch beiden klar zu machen, dass jeder seine Berechtigung hat.“
Teamarbeit sollte ihrer Meinung nach das große Ganze als Zielsetzung haben, denn „interdisziplinäre Zusammenarbeit heißt, dass ich mich auch für den anderen interessiere und dass ich auch ganz offen und kritisch im Vorfeld darüber spreche, wo Befürchtungen sind“, betont sie und setzt abschließend hinzu, „man muss sich die Zeit nehmen, ein gemeinsames Ziel, mit dem sich alle identifizieren können, zu definieren.“
„solimed ePflegebericht“ - ein regionales Projekt
Ein so definiertes Ziel hat das Projekt „solimed ePflegebericht“ in Solingen, welches durch EFRE.NRW, der europäischen Union und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen gefördert wird, für sich gefunden. Inhalt des Projektes ist die Erprobung eines elektronischen Pflegeberichts auf „Knopfdruck“, der den Beteiligten notwendige Informationen für eine optimale medizinische Versorgung und Pflege von geriatrischen Patienten sofort zur Verfügung stellt. So wird der Dokumentationsaufwand für Krankenschwestern, -pfleger und Pflegefachkräfte zum einen reduziert und zum anderen sind alle Beteiligten gleichzeitig informiert. Köberlein-Neu schwärmt: „Alle Projektpartner sind mit sehr viel Herzblut dabei. Ich freue mich sehr, dass wir dieses innovative Projekt wissenschaftlich begleiten dürfen“. Bis 2020 läuft das Projekt noch, doch Köberlein-Neu hofft, dass sich hieraus weitere Folgeprojekte ergeben, denn nachhaltige Änderungen der Versorgungen bedürfen Zeit und Beharrlichkeit.
Die Diskrepanz zwischen Management und Pflege
Die Diskrepanz zwischen Management und Pflege ist der gebürtigen Eisenacherin wohl bewusst, aber auch da sieht sie in ihrem Studiengang ganz klare Zukunftschancen. „Diese Studiengänge sollen dazu führen, das Führungskräfte heranwachsen, die das nötige Bewusstsein mitbringen. Sie kennen dann auf der einen Seite die Pflege und die Bedürfnisse der Mitarbeiter, auf der anderen Seite aber auch die ökonomischen Zwänge.“ Daher motiviert sie auch die oft aus der Pflege kommenden berufsintegriert Studierenden, die einen ganz anderen Blick auf die Gesundheitsökonomie haben. „Die fragen sich viel öfter, ob sie das richtige Studium gewählt haben, da sie ja eigentlich für den Menschen und nicht für das Management da sind“, erklärt Köberlein-Neu und motiviert die Lernenden zum Durchhalten, indem sie ihnen ihre spätere Vermittlerrolle im System erklärt.
Vorsorge in der Augenheilkunde
Einen Schwerpunkt in den nächsten Jahren sieht die Wuppertaler Professorin im Bereich der Augenheilkunde, also der Blindheit/Sehbehinderung und meint in einem Spezialgebiet mehr bewegen zu können, denn: „Breite Strategien erreichen zwar viele Menschen, aber von den einzelnen Bevölkerungsgruppen immer nur ein paar.“ Daher geht sie punktuell vor, was zwar länger dauert, aber, wie auf einer Landkarte, mit der Zeit flächendeckender wird. Zu ihren Aufgaben gehört neben der ökonomischen Analyse der Folgen einer Blindheit oder Sehbehinderung auch die Entwicklung von Evaluationskonzepten, sowie die Bewusstmachung landläufig unterschätzter Augenkrankheiten, wie der Makuladegeneration (Netzhauterkrankung, die zu Blindheit führen kann). Köberlein-Neu: „Die Blindheit und Sehbehinderung in Folge einer Erkrankung ist ein Problem des Alters in Deutschland und ich halte es für sehr relevant, weil solche Erkrankungen, die sehr lange symptomfrei bleiben, in der Bevölkerung massiv unterschätzt werden.“ Eine Aufgabe der Gesundheitsökonomie sieht sie darin Gründe zu finden, warum die Situation so ist und zu fragen, weshalb die Bevölkerung ein so geringes Bewusstsein bei diesem Thema aufbringt.
Europäisch gedacht – Wo stehen wir mit unserem Gesundheitssystem?
„In Deutschland ist das Gesundheitssystem schon ganz ordentlich“, sagt sie bestimmt, „lediglich in der Digitalisierung hinken wir noch nach.“ Dennoch: „In anderen Ländern“ fügt sie hinzu, „ist die Gesundheitsversorgung zwar wesentlich schlechter, aber die Menschen haben oftmals eine andere Grundeinstellung.
„Hinzu kommt“, sagt sie abschließend verschmitzt, „dass die Deutschen manchmal gern auch ein bisschen meckern.“
Vielleicht spornt uns diese Unzufriedenheit aber auch an. Nach einer internationalen Studie der University of Washington in Seattle von 2017 liegt Deutschland in der medizinischen Betreuung von 197 untersuchten Ländern auf Rang 20. Da scheint noch was zu gehen. Und außerdem: „Unzufriedenheit ist der Erste Schritt zum Erfolg“, sagt schon Oscar Wilde. Und der war nicht einmal Deutscher.
Uwe Blass (Gespräch vom 24.01.2018)
Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu promovierte am Institut für medizinische Statistik, Informatik und Epidemiologie der Universität zu Köln zur Wirksamkeit von Therapieleitlinien in der Allergologie. Nach Abschluss der Promotion war sie in der Privatwirtschaft tätig. 2010 erhielt sie den Ruf als Juniorprofessorin für Gesundheitsmanagement nach Wuppertal. Dort leitet sie das Bergische Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG).