Hachikō, der treueste Hund der Welt
Die Theologin Heike Baranzke über das ambivalente Mensch-Tier-Verhältnis aus Anlass des 100. Geburtstages eines außergewöhnlichen Hundes
Hachikō (die zusätzliche Silbe ´ko` bedeutet ´kleiner Herr`) war der Name eines reinrassigen Akita-Hundes aus Japan, der zum Inbegriff der Treue wurde. Er wurde am 10.11.1923 geboren und gehörte einem Universitätsprofessor. Er begleitete diesen jeden Morgen zum Bahnhof und holte ihn auch dort am Abend wieder ab. Nachdem der Professor überraschend verstarb, kam Hachikō trotzdem bis zu seinem Lebensende jeden Tag zum Bahnhof, um Ausschau nach seinem Herrchen zu halten.
Frau Baranzke, in Japan ist der Shintoismus weit verbreitet. Die schintoistische Vorstellung vom Tod existiert parallel: Stirbt ein Mensch, bleibt seine Seele ("tama") zwischen 33 und 49 Jahre auf der Erde und übt weiter Einfluss auf die Lebenden aus, um danach in das Reich seiner eigenen Ahnen einzugehen. Er wird eins mit den Familien-"kami", den göttlichen und übernatürlichen Wesen. Alle können im Shintoismus "kami" sein, auch Tiere. In der christlichen Religion haben Tiere aber einen anderen Stellenwert, oder?
Baranzke: Anders als der Shintoismus zählt die christliche Religion, wie die jüdische und islamische, zu den Buchreligionen, die sich auf eine heilige Schrift beziehen. Dabei bildet die jüdische heilige Schrift das sogenannte Alte, oder wie wir heute im Bewusstsein der jüdisch-christlichen Verbundenheit sagen, Erste Testament, d.h. den ersten und umfangreicheren Teil der christlichen Bibel. Dieser beinhaltet auch den überwiegenden Anteil der einflussreichen schöpfungstheologischen Texte, die alles in der Welt, alle Pflanzen, Tiere und Menschen, auf einen guten Schöpfergott zurückführen. Einige Schöpfungstexte wie die bekannte Paradiesgeschichte und Psalm 104 sowie Verse aus Kohelet unterstreichen, dass Tiere und Menschen sogar als diejenigen Geschöpfe gelten, denen gemeinsam ist, vom Atem des Schöpfergottes belebt worden zu sein und im Leben gehalten werden. Biblische Schöpfungstexte und Shintoismus betonen offensichtlich beide eine besondere ursprüngliche Nähe zwischen Menschen und Tieren. Ich bin keine Expertin für den japanischen Shintoismus, habe mich aber ein wenig schlau gemacht und sehe, dass der Shintoismus als eine Naturreligion gilt, die – auch darin den alten schöpfungstheologischen Texten ähnlich – die Zeit der von der agrarischen Lebensform geprägten Naturverbundenheit spiegelt. Damit ist jedoch noch wenig darüber ausgesagt, wie Menschen mit Tieren – und vor allem welchen Tieren – konkret umgegangen sind oder gar umgehen sollen.
Hachikō ist bis zu seinem Tod 1935 jeden Tag zum Bahnhof gelaufen, um auf sein Herrchen zu warten. Das zeugt von außergewöhnlich viel Zuneigung und Empathie. Kommen Tiere eigentlich auch in den Himmel?
Baranzke: Da muss ich sofort zurückfragen: Wofür steht eigentlich der Himmel in dieser Frage? Im Englischen z. B. unterscheidet man „sky“ und „heaven“ für den physischen und den symbolischen Himmel. Die Frage zielt offensichtlich auf eine symbolische Bedeutung des Himmels, auf einen imaginären Ort, an dem Menschen und ihre Haustiere auch nach dem Tod verbunden bleiben, also nicht durch den Tod getrennt werden.
Ob Hachikōs Verhalten von Treue zeugt, ist aus wissenschaftlicher Perspektive erst einmal ein Anthropomorphismus (Ein Anthropomorphismus ist die Übertragung menschlicher Eigenschaften an nicht menschliche Wesen, Anm. d. Red.). Wir schreiben das dem Tier zu, als sei es eine freie Charakterbildung des Hundes gewesen. Aber ist es nicht eher die Projektionsfläche für unsere, in der Gesellschaft aus vielerlei Gründen unbefriedigten Utopien und Sehnsüchte? Sind die Tiere – und Hunde nehmen hier ja noch einmal eine besondere Rolle ein – im Prinzip das Reservoir, auf das wir all unsere Sehnsüchte projizieren, insbesondere solche, deren Erfüllung wir Menschen einander allzu oft schuldig bleiben? Was erwarten wir denn sonst vom Himmel? Erst einmal ist festzustellen, dass Tiere, weil sie ja nicht über die moralischen Fähigkeiten verfügen, ihr Verhalten selber noch einmal zu bewerten, nicht zur ethischen Reflexion fähig sind. Sie können eigentlich nicht begründen, was gut und was böse ist, sondern man könnte mit Konrad Lorenz, dem berühmten Verhaltensforscher sagen: Tiere sind Gefühlsmenschen. Sie reagieren immer irgendwie spontan nach ihren Gefühlen und verstellen sich nicht, haben auch keinen Sensus für unsere sozialen Unterschiede und sozialen Bewertungen, die wir vornehmen und lügen in diesem Sinne auch nicht. Das ist natürlich auch etwas, was wir Menschen uns voneinander wünschen, dass wir uns auf Sympathieäußerungen verlassen können. Aber bei uns ist das eine freie Entscheidung, Tiere hingegen können sich nicht verstellen. Daher sind wir geneigt in ihnen den Himmel zu sehen, weil wir uns eigentlich voneinander auch ein unverstelltes und ein verlässliches Verhalten wünschen.
Hachikō wurde in den ersten Jahren am Bahnhof geschlagen, beschmiert und stillschweigend geduldet, bis ein Bahnhofsvorsteher sich seiner annahm und ihm einen Ruheort einrichtete. Der Tierschutz hat eine lange Geschichte hinter sich, seit dem 17. Mai 2002 hat er in Deutschland sogar Verfassungsrang. Am 10. Mai 2021 hat Großbritannien als eines der ersten europäischen Länder Gefühle von Tieren sogar gesetzlich verankert. Tierethik gehört mittlerweile zum nahezu selbstverständlichen Repertoire ethischer Grundentwürfe. Was hat den Bedeutungswandel ausgelöst?
Baranzke: Das sind vielerlei Punkte, die das ausgelöst haben. Zum einen ist das ein sehr fundamentaler Wechsel im Weltbild, vor allem durch die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften in der frühen Neuzeit. Dadurch erstarkte das empirische Empfinden von einer Jenseits- zu einer Diesseitsorientierung. Damit rückt zugleich die Wahrnehmung, was uns in diesem irdischen Leben wichtig ist, nämlich die Empfindungsfähigkeit und Leidensfähigkeit usw., mehr in den Vordergrund. Auch innerkonfessionelle Entwicklungen spielten eine Rolle. Vor allem im Protestantismus wandte man sich einer Verantwortungsethik zu, nämlich der Auffassung, dass aufgrund der Erbsündenlehre der Mensch verantwortlich sei für das Leiden in der Welt, und er nun auch Verantwortung tragen müsse, dieses Leiden in der Welt zu vermindern. Diese protestantischen Impulse gingen davon aus, dass der Mensch dazu beitragen könne, das Wiederkommen Christi zu beschleunigen, wenn er ihm den Weg bereite, durch ein entsprechendes Handeln aus Nächstenliebe. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstand so im Protestantismus daraus eine protoökologische Diskussion. Es gab Tierschutz-, Tierrechts- und Tierseelendiskussionen und neben Suppenküchen für Arme wurden im 19. Jahrhundert die ersten Tierschutzvereine gegründet, so dass der theologischen Diskussion tatsächlich Handlungsimpulse entsprangen. Die Nächstenliebe wurde auch auf Tiere ausgeweitet und dieser Schwung hält bis heute an, auch wenn die protestantischen Hintergründe kaum mehr bewusst sind.
Im Gegensatz dazu hatte die katholische Tradition vorher ein rein schöpfungsspirituelles Verhältnis, ähnlich wie bis heute auch noch im Islam. Und ich vermute, dass das auch im Shintoismus vergleichbar ist. In den Geschöpfen wurden zwar Spuren Gottes gesehen, aber es blieb eher eine theoretische Spiritualität. Was auch noch dazu kommt, sind natürlich soziale Bewegungen. Da gab es die Nutztiere auf der einen und die vom Adel getätschelten Schoßhündchen auf der anderen Seite. Das Bürgertum orientiere sich gerne am Adel und schaffte sich dann auch Haustiere als zweckfreie Spielgefährten an. Es gab sehr viele Einflüsse, die man hier bedenken muss.
Ein Jahr vor seinem Tod wurde dem Hund ein Denkmal am Bahnhof in Shibuya errichtet. Auch wir kennen Hundedenkmäler. So gibt es in Solingen den sogenannten Rüdenstein, der einen Hund ehrt, der der Sage nach das Leben des Jungherzogs Robert von Berg rettete, nachdem der vom Pferd gefallen war. Das sind Beispiele, die zeigen, wie verbunden sich Menschen mit Tieren fühlen. Sie sagen: „Tiere erleben unsere Sprachmelodie, die Art, wie wir uns bewegen und natürlich die Gerüche. Und daraufhin ist auch eine Kommunikation möglich.“ Doch eine Seele hat man den Tieren lange Zeit abgesprochen. Hat sich das heute in der christlichen Theologie verändert?
Baranzke: Man muss erst einmal sehen, wo das Seelenkonzept eigentlich herkommt. Das Seelenkonzept ist kein Konzept der hebräischen Religion gewesen, sondern es ist ein Konzept der griechischen Philosophie, vor allem der platonischen und aristotelischen Konzeption und hat dadurch auch die christliche Theologie beeinflusst. In diesem Sinne waren dann die Tiere eigentlich nie ohne Seele, weil die Seele zunächst ein Lebensprinzip war. Der Mensch-Tier-Seelenunterschied wurde in der Frühzeit der philosophischen Tradition darin gesehen, dass nur dem Menschen eine unvergängliche, eine unsterbliche Seele aufgrund seiner Vernunftfähigkeit zugesprochen wurde. Dass Tieren mit einer vergänglichen Lebensseele auch die Empfindungsfähigkeit abgesprochen wurde, ist eine ganz späte philosophische Entwicklung des 17. Jahrhunderts durch den Philosophen René Descartes gewesen und hat etwas mit der Mechanisierung des Weltbildes in der frühen Neuzeit zu tun.
Die Verbundenheit, die der Mensch mit den Tieren sieht, ist natürlich die Lebendigkeit und die Empfindungsfähigkeit und die Projektionsfläche für vielerlei, was wir uns wünschen oder eben nicht wünschen, denn die Frage ist ja auch: Haben Ratten, Vogelspinnen oder Wespen auch eine Seele? Liegt uns daran, auch das zu thematisieren?
Die Sage um den Rüdenstein sagt ja auch etwas über die enge Beziehung des Ritters zu seinem Pferd. Eine Entwicklung, die es auch im Schamanismus gibt, die im mongolischen Raum bei den Steppenvölkern entstanden ist. Da hat das Pferd auch eine besondere Rolle. Also landschaftlich und geographisch bedingt, nicht nur als Fleischlieferant, sondern als Transporttier. Es wurde so hochgeschätzt, dass, wenn dann der Ritter starb, oft auch das Pferd getötet wurde, um es ihm im Jenseits mitzugeben. D. h. die enge Beziehung und die Hochachtung, die ein Tier erfährt, kann auch durchaus darin münden, dass es als Grabbeigabe getötet wurde. Bei der Beurteilung alter Sagen und Legenden muss man immer wieder die Frage stellen: Was war denn das bedeutungsgebende Weltbild? Die Mensch-Tier-Beziehung ist immer ambivalent.
Am 8. März 1935 wurde der Hund tot in einer Straße aufgefunden. Einen Tag später strömten Tausende Menschen am Bahnhof Shibuya zusammen. Unzählige Blumen schmückten den Platz, ein buddhistischer Mönch sprach ein Gebet für den Vierbeiner. Nach der Zeremonie wurde Hachikos Körper präpariert und befindet sich heute im Nationalmuseum der Naturwissenschaften in Tokio. Frau Baranzke, wie würden Sie denn aus ethischer Sicht unser Mensch-Tier-Verhältnis heute beschreiben?
Baranzke: Ambivalent war es schon immer. Heute würde ich sagen, ist es noch extremer, weil wir Tiere ganz stark kategorisieren nach unserem Nutzen. Der Mensch ist das Tier, was evolutiv betrachtet, die vielfältigste Nutzungs- und Beziehungsformen zu anderen Tieren hervorgebracht hat, inklusive von ihrerseits höchst ambivalenten sozialen und emotionalen Beziehungen. Wir wissen zwar, dass z. B. Ameisen, Blattläuse melken und gewissermaßen ihre eigene Viehwirtschaft betreiben, aber der Mensch hat doch in der Hinsicht ganz vieldeutige Beziehungen aufgetan. Das schlägt sich dann in vielerlei Kategorisierungen nieder, wie Wildtiere, Haustiere, Nutztiere. Der Begriff Tier ist ja schon ein philosophischer Abstraktbegriff. Den Hund sehen wir als das erste domestizierte Tier, weil Wölfe und Menschen ähnliche Sozialstrukturen haben und auch die Empfänglichkeit für das Kindchenschema teilen, wodurch sich ja auch kulturelle Erinnerungen in Legenden erhalten haben, dass Wölfe auch verlorengegangene Menschenkinder aufgezogen haben. Da denkt man an die Stadtgründung Roms mit Romulus und Remus. Oder die Geschichte des von Wölfen aufgezogenen Mogli in Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Aber wie sieht es mit den Ratten, den Wespen und Hornissen aus?
Was mich noch mehr bewegt und auch mit einem kritischen Blick auf diese sehr rührende Geschichte mit Hachikō einen realistischen Rahmen zeichnet, das ist, dass wir wohl in gleicher Weise manche Tiere nur noch ganz sentimental für die Befriedigung unserer emotionalen Bedürfnisse vollkommen in die Familien integrieren und gar nicht mehr als einen Teil der Natur sehen. Das wirkt sich auf die einzelnen Tierarten auch sehr negativ aus, weil sie nämlich alles andere als artgerecht behandelt werden und unter dieser Vermenschlichung auch extrem leiden. Und es zeigt auch, dass wir kein Naturverständnis mehr haben. Sehr kontrovers wird auch das japanische Verhältnis zum Walfang diskutiert. Da werden aus Pseudogründen immer noch Delphine und Wale abgeschlachtet, obwohl sie heute gar keiner mehr essen mag und dafür auch keine Notwendigkeit besteht. Oder die japanischen Tiercafés, die nur existieren, um ein sentimentales Streichelverhältnis zu Tieren herzustellen. Dort werden Tiere in absolut künstlichen Umgebungen gehalten und zwar nicht nur Hunde, Katzen und Meerschweinchen, sondern auch Igel und Eulen, die eigentlich nachtaktiv sind, oder gar Amphibien, die die menschliche Berührung als totalen Stress empfinden. Da bedarf es auch in Japan noch einiger Aufklärung.
Uwe Blass
Dr. Heike Baranzke ist Lehrbeauftragte für Theologische Ethik der Katholischen Theologie in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.