Durch den Körper durchgucken
Der Physiker Dirk Lützenkirchen-Hecht zum 100. Todestag von Wilhelm Conrad Röntgen
Genau vor 100 Jahren, am 10. Februar 1923, starb einer der berühmtesten Söhne des Bergischen Landes in München, dessen Entdeckung der X-Strahlen die medizinische Diagnostik revolutionierte: Wilhelm Conrad Röntgen. Wie entdeckte er die nach ihm benannten Röntgen-Strahlen?
Lützenkirchen-Hecht: Eigentlich war das ein Zufall. Kurz vorher hatten Johann Hittorf und andere mit Elektronenstrahlen experimentiert und Röntgen hatte das aufgegriffen. Er war sehr vielfältig interessiert und hat ebenfalls Experimente durchgeführt. Was man damals machte, man hielt in den Elektronenstrahl z.B. ein Fadenkreuz, und auf dem Leuchtschirm dahinter konnte man sehen, dass von den Strahlen, die auf das Fadenkreuz treffen, nichts mehr dahinter auf dem Schirm ankam. An diesen Stellen leuchtete dann auch nichts. Röntgen ist dann einen Schritt weitergegangen und hat die ganze Apparatur in schwarze Pappe eingepackt und dann hinter dieser Pappe wieder eine Fotoplatte oder einen Leuchtschirm aufgestellt. Und dann sah er, dass da eine Spur drauf war, woraus er schloss, dass da etwas Anderes sein musste. Und so entdeckte er die Röntgenstrahlen. Die Elektronen werden also durch das Glas oder die Fotoplatte abgebremst und die Elektronenenergie in das, was wir heute Röntgenlicht nennen, umgewandelt.
Ein Irrtum führte dazu, dass er die Schule ohne Abschluss verließ. Was war geschehen?
Lützenkirchen-Hecht: Das ist ein bisschen kurios. Seine Mutter war Holländerin und er ist schon in jungen Jahren sehr viel durch die Gegend gereist. Das, was man heute, zumindest vor der Coronakrise, praktiziert hat, dass man ins Ausland geht und einen Austausch hat, das hat Röntgen schon in seiner Kindheit und Jugend gemacht. Er war in Apeldoorn und ist in Utrecht zur Schule gegangen. Dort kursierte eine Karikatur seines Klassenlehrers und man unterstellte ihm die Urheberschaft. Da halfen dann auch keine Entschuldigungen, er ist daraufhin von der Schule geflogen und hatte daher keinen Schulabschluss.
Röntgen war ein Stehaufmännchen. Über Kurse und eine Aufnahmeprüfung studierte er dennoch in der Schweiz und legte 1868 sein Diplom als Maschinenbauingenieur ab. Wie kam er denn dann zu der Physik?
Lützenkirchen-Hecht: Röntgen war sehr vielfältig interessiert. Er ist über einen Freund zum Maschinenbau gekommen, der ihn an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich) brachte. Er war an Maschinenbau interessiert, weil ihn Mechanik und Konstruktion faszinierte. Bereits in Holland hatte er auch in einer Art Gaststudium Kurse in Biologie, Mathematik, Physik und Chemie besucht, ohne aber offiziell als Student zugelassen worden zu sein. Daher, vermute ich, ist sein wirklich sehr weit aufgestelltes Interesse an diversen Fächern zu erklären. So kam er dann auch wieder über einen Freund, August Kundt, zur Physik und promovierte.
Schon vor seiner bedeutendsten Entdeckung war Röntgen, der seit 1888 an der Universität in Würzburg lehrte und viele Rufe an andere Universitäten ablehnte, in der Fachwelt hochgeachtet. Seine erste Probandin war seine Frau, die er der Strahlung aussetzte. Was hat er denn an ihr geröntgt?
Lützenkirchen-Hecht: Die Hand! Das ist eines der bekanntesten Bilder und in den Annalen der Physik auch ein Titelblatt gewesen. Man kann da den Ehering erkennen, vom heutigen Stand der Technik mit sehr schlechter Auflösung, aber damals revolutionär. Man konnte durch die Hand sehen. Röntgen hat dann auch sofort sehr viel experimentiert, unterschiedliche Materialien in den Strahl hineingehalten und gesehen, dass der Ring viel mehr von der Strahlung absorbiert, als das Knochengewebe oder die Haut. Er war sehr schnell und sehr weit für seine Zeit. Er hat immer gesagt, die Forschung, die er macht, solle einen breiten Nutzen haben. Er hat keine Patente auf seine Erfindungen angemeldet, sondern alles frei publiziert und auch seine Entwürfe, die er für die Veröffentlichungen gemacht hatte, sofort an die Kolleginnen und Kollegen europaweit weitergegeben und damit auch für eine sehr schnelle Verbreitung gesorgt. Von dieser wichtigen Entdeckung sollte man flächendeckend Nutzen ziehen.
Röntgen war der erste Nobelpreisträger für Physik. Wann hat er die Auszeichnung erhalten?
Lützenkirchen-Hecht: 1901. Also die Entdeckung war im Dezember 1895 und 1896 folgte die Publikation. Röntgen hat von Anfang an die Möglichkeiten dieser Technik erkannt. Es war eine revolutionäre und eine für die Menschheit wirklich wichtige Entdeckung. Auf einmal bestand die Möglichkeit, durch den Körper hindurch zu gucken. Für die Medizin, auch für die Technik und die Archäologie ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten. Man konnte Schweißnähte röntgen, Mauerwerk oder Mumien durchleuchten, ohne Beschädigungen anzurichten. Die Nobelstiftung wurde 1900 gegründet, und die direkte Verleihung an Wilhelm Conrad Röntgen ein Jahr danach dokumentiert die große Bedeutung seiner Entdeckung.
1923 war Röntgen, der an Darmkrebs litt, Patient von Ferdinand Sauerbruch, einem weiteren berühmten Sohn des Bergischen Landes, der sich bei seinem Patienten darüber beklagte, dass Röntgens Entdeckung viele Ärzte verleite, nicht mehr genau zu untersuchen. Wissen Sie, was er darauf antwortete?
Lützenkirchen-Hecht: „Wo viel Röntgenlicht ist, muss auch Röntgenschatten sein.“
Ist doch passend. Heute weiß man ja viel mehr als früher. Viele Wissenschaftler haben sich damals viel zu hohen Strahlendosen ausgesetzt. Auch durch die Elektronenstrahlen sind viele Forscher*innen damals an Kehlkopfkrebs erkrankt, weil sie immer in ihre Apparaturen hineingeschaut haben. Die Leichtigkeit, mit der man dann Knochenbrüche diagnostizieren konnte, hat vielleicht damals Ärzte verführt, „wild“ alles zu röntgen und darauf spielte Sauerbruch wohl auch an.
Nach seinem Tod verfügte er testamentarisch, dass alle seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen zu vernichten seien, was seine Freunde auch taten. Daher existieren auch nur noch wenige Dokumente von ihm. Warum hat er das wohl gemacht?
Lützenkirchen-Hecht: Röntgen war ein sehr kritischer Zeitgenosse. Bevor er irgendetwas publizierte, also veröffentlichte, hat er das doppelt und dreifach geprüft. Er wollte, durch die Vernichtung seiner Unterlagen, nach seinem Tod sicher auch verhindern, dass sein Ruf geschädigt wurde und andere Wissenschaftler vielleicht seine Entwürfe nicht in seinem Sinne nutzten. Er war da sehr kritisch mit sich selbst. Für uns heute ist das natürlich auch schade, weil historisch Interessierte keine Möglichkeit haben, auf seine Manuskripte zurückzugreifen, um vielleicht erfahren zu können, was er gedacht hat und wie er vorgegangen ist. Da gäbe es sicher viele Dinge, die man noch entdecken könnte.
In Lennep gibt es bis heute das Deutsche-Röntgen-Museum. Waren Sie schon mal drin?
Lützenkirchen-Hecht: Ja, schon mehrfach. Das ist eine tolle Sache. Ich bin jedes Mal wieder begeistert, weil dort auch stetig an den Ausstellungen gearbeitet wird. Es gibt Themen, wozu wieder neue Ausstellungen konzipiert werden. Sowohl für Kinder, als auch für Erwachsene und Wissenschaftler*innen ist ein Besuch immer interessant und lohnenswert.
Uwe Blass
Apl. Prof. Dr. Dirk Lützenkirchen-Hecht ist Mitglied des Instituts Kondensierte Materie – Röntgenphysik in der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften an der Bergischen Universität.