Ich Tarzan, du Jane…
Prof. Dr. Anne-Rose Meyer über das Phänomen eines Dschungelhelden in der Phantastischen Literatur
Stellt man die Frage, aus welchem Roman der Satz: „Ich Tarzan, du Jane!“ stammt, weiß jeder, um welchen Helden es sich handelt. Die insgesamt 24 Bände umfassende Reihe stammt von Edgar Rice Burroughs, und ihr Held ist selbst 100 Jahre nach Erscheinen noch immer bekannt. Woran liegt das?
Meyer: Burroughs hat eine ungeheuerliche, auch heute noch spannend zu lesende Entwicklungsgeschichte geschrieben, mit der er Liebe, Abenteuer, Lebensgefahr verbindet. Wir haben es folglich mit einem Genremix zu tun, der von vielem etwas bietet und folglich eine breite Leserschaft anspricht. Zudem sind die mehr als 20 Romane der Tarzan-Reihe regelrechte „Pageturner“. Burroughs arbeitet mit zweisträngigen Handlungen und einer bewährten Cliffhanger-Technik: Man will wissen, wie es mit den Figuren weitergeht, ob sie überleben, ob das Paar Tarzan – Jane zueinander findet usw. Dazu kommt, dass Burroughs vor allem im ersten Tarzan-Roman, Tarzan by the Apes, höchst markante Situationsbilder liefert: ein muskelbepackter Mann, der sich an Lianen durch den Urwald schwingt, der eine schöne Frau an seine unbekleidete Brust gedrückt herumträgt, der mit Affen spricht: Dies sind Szenen, die im Roman ausführlich beschrieben werden und die auch für alle bildlichen Darstellungen – sei es im Comic oder in den mehr als einhundert (!) Verfilmungen – zentral sind. Inklusive des Tarzan- „Jodlers“, der spätestens durch Johnny Weissmüllers Verkörperung auch zu einer akustischen Signatur der Gestalt geworden ist. Sie hat also einen hohen Wiedererkennungswert, wozu auch der wohlgestaltete, in weiten Teilen des ersten Tarzan-Romans auch als nackt beschriebene Körper des Titelhelden sicher beiträgt. Erschienen Anfang des 20. Jahrhunderts, also in einer Zeit verhältnismäßig großer Prüderie, war dies sicherlich für eine breite Leserschaft attraktiv und ist es auch noch in unserer körperbetonten Gegenwart.
Interessant ist auch die Grundkonstellation, um die es in Tarzan by the Apes und auch in den Nachfolgebänden geht: das Verhältnis von Mensch und Natur. Der Mensch erscheint als Mängelwesen, das – so scheint es zunächst – den Unbillen des Dschungels kaum etwas entgegenzusetzen hat. So sterben etwa Tarzans Eltern, die im Dschungel ausgesetzt worden sind. Tarzan selbst aber gelingt es immer wieder, seinen Verstand einzusetzen und dadurch sein Leben und das Leben anderer zu retten. Burroughs wiederholt dies refrainartig in seinen Romanen: Das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die ratio, und deswegen kann der Mensch auch in einer unwirtlichen oder gar feindlichen Umwelt überleben.
Am 20. Juni 1921 erscheint als 8. Band der Tarzan-Reihe der Roman „Tarzan der Schreckliche“. Darin trifft Tarzan auf Monster der grauen Vorzeit und zähmt ein riesiges Ungeheuer, das sogenannte Gryf. Was fasziniert den Leser an solch einer Parallelwelt?
Meyer: Die Tarzan-Bände basieren letztlich auf einer realen historischen Situation, das ist die Kolonisierung des afrikanischen Kontinents durch die Engländer: Die Eltern Tarzans, Lord und Lady Greystoke, machen sich per Schiff zu einem Kontrollbesuch in einer Kolonie an der Westküste Afrikas auf. Die Mannschaft meutert und setzt das Paar am Strand einer unbewohnten Insel aus. Es überlebt bis kurz nach der Geburt seines Sohnes. Eine Affenmutter, die ihr Junges verloren hat, nimmt sich des Kleinen an. Der Rest ist bekannt und von diesem Punkt an nimmt die Erzählung eine Wendung ins Phantastische. Die insgesamt 26 Bücher, die Borroughs zwischen 1912 und 1946 über Tarzan schrieb, führen uns an verschiedene, für den europäischen Leser meist exotisch wirkende Schauplätze. So etwa auch in ein vergessenes Tal, in dem Dinosaurier leben. Michael Crichton mit seinem Roman Lost World mag dadurch inspiriert worden sein! Und wir genießen auch heute noch das gedankliche Spiel mit der Frage „Was wäre, wenn…?!“ Es ist ein Kennzeichen phantastischer Literatur, gewohnte Alltagswahrnehmungen zu überschreiten oder zu verfremden. Etwas Außergewöhnliches wird erkennbar. Es gibt Theorien, denen zufolge phantastische Literatur vor allem in Umbruchzeiten gefragt ist. Dies könnten man auch von den ersten Tarzan-Bänden sagen. Meine Theorie hierzu lautet, dass die umfassende Technisierung, Globalisierung, Industrialisierung, Kolonisierung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle westlichen Staaten tiefgreifend geprägt hatte, die Sehnsucht nach Natur, nach deren Geheimnissen, nach einer ‚wilden‘ Gegenwelt in besonderer Weise befördert hat.
Im angelsächsischen Sprachraum ist das Werk Burroughs ein absoluter Klassiker der Phantastik. In Deutschland hat er diesen Status nicht erreicht. Woran liegt das?
Meyer: Auch in Deutschland ist Tarzan populär, allerdings weniger in Romanform denn als Comic oder Film. Dies hat damit zu tun, dass vor allem der erste Roman letztlich eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ist: Tarzans Eltern, die als Stellvertreter der englischen Krone gleich zu Beginn des ersten Romans eingeführt werden, können in dem gefährlichen Dschungel nicht überleben, den sie doch eigentlich als überlegene Europäer beherrschen sollten. Tarzan wächst dort unter Affen auf und verkörpert dadurch eine Utopie, nämlich die Versöhnung von Mensch und Natur. Der Mensch ist Freund oder doch wenigstens ein fairer Gegner des Tieres, lebt mit diesem in Einklang und nimmt sich nur, was er zum Überleben braucht. Tarzan ist aber sehr deutlich auch als Engländer gestaltet, als Adliger. Immer wieder ist in den Romanen davon die Rede, dass er den Charakter eines wahren Gentlemans nicht verleugnen könne, dieser ihm angeboren sei. Doch zieht es ihn auch immer wieder nach Afrika zurück. Aus angelsächsischer Perspektive geht es folglich nicht nur um eine spannende Geschichte, sondern auch um die Auseinandersetzung mit einem Selbstbild, wie sie beispielsweise auch Joseph Conrad in Heart of Darkness 1899, wenn auch literarisch und inhaltlich auf andere Weise, geführt hat. Diese Rezeptionsebene fehlt im deutschsprachigen Raum völlig. Egal, wie widrig die Umstände sind, der weiße Herrenmensch, der englische Lord, überlebt und sorgt für Recht und Ordnung. Dies ist die unterschwellige, aber doch deutlich vernehmbare Botschaft der Tarzan-Romane.
Die Figur Tarzan gehört in die Gruppe der sogenannten Wolfskinder, also Menschen, die in ihrer Jugend eine Zeit lang isoliert von anderen Menschen aufwuchsen. Rührt der Heldenstatus daher, dass ihn der Leser mit keinem realen Menschen vergleichen kann?
Meyer: Tatsächlich kann Burroughs für seine Tarzan-Romane auf eine lange literarische Tradition zurückgreifen: Beginnend bei Romulus und Remus über Wolfdietrich, Titelheld des gleichnamigen mittelhochdeutschen Heldenepos, und Mowgli aus The Jungle Book von Rudyard Kipling aus dem Jahr 1894. Es ließen sich noch viele Titel und Namen ergänzen. Etwa die zahlreichen phantastischen Geschichten, in denen vom ausgehenden 18. Jahrhundert an die Frontstellung von Mensch und Affe zugunsten hybride erscheinender Wesen aufgegeben wird. Spannend speziell an Burroughs Romanen ist, dass er mit Tarzan eine Gestalt geschaffen hat, die zwar einerseits übermenschlich stark erscheint und auch über einen außergewöhnlich edlen Charakter verfügt, die aber andererseits auch ganz menschlich ist und in ihrer anfangs ganzen körperlichen und geistigen Schwäche gezeigt wird. Immer wieder weist der Autor auf die Unzulänglichkeiten seines Geschöpfes hin, das erst nicht lesen und sprechen kann, das unbekleidet durch den Dschungel tobt, sich gerne auch einmal von einer saftigen Raupe ernährt oder rohes Fleisch von einem frisch erlegten Tier reißt und gierig verschlingt. Kurz – das sich in vielen Situationen ganz anders verhält, als es der wohlerzogene Europäer täte, und dabei leicht anarchische Züge aufweist. Durch das sorgfältig austarierte Verhältnis von Attraktion und Repulsion in der Figur Tarzan lassen sich viele Leser faszinieren. Burroughs hat einen Entwicklungsroman geschrieben: Tarzan wird sich – ähnlich wie ein Dschungel-Narziss – seiner Gestalt und Einzigartigkeit bewusst, als er sein Spiegelbild in einem Teich erblickt. Anhand der Bücher, die seine Eltern in den Dschungel mitbringen konnten, bringt er sich selbst das Lesen bei. Das Vorbild für eine solche Episode haben wir in Mary Shelleys Roman Frankenstein von 1818. Tarzans Heldentum, das auf enormer körperlicher Kraft basiert, wird vom Autor sorgsam aufgebaut. Er teilt uns ausführlich mit, wie Tarzan heranwächst und an Stärke gewinnt, ja gewinnen muss, um zu überleben. Wir sehen Tarzan auch oft schwach, verletzt, blutüberströmt, einmal sogar komatös. Aber er steht immer wieder auf. Damit ist er ein Vorbild. Als Tarzan den Dschungel verlässt, lernt er bei einem französischen Freund sprechen und alles über die feine Lebensart. In Szenen mit erheblichem komischen Potential werden wir beim Lesen Zeuge, dass Tarzan den eigenen Fingern Messer und Gabel gegenüber den Vorzug gibt. Er ist also beides: ein letztlich unbezwingbarer, edelmütiger Held und jemand, der das, was man herkömmlicherweise unter „Kultur“ versteht, erst kennenlernen muss. Die mit dieser Konstellation verbundenen Themen erweisen sich als zeitlos: der Umgang mit der eigenen Andersartigkeit in einer zunächst fremden Gruppe, Prozesse der Individualisierung und Kultivierung, der Umgang mit den eigenen Stärken und Schwächen.
"Tarzan" ist triviale Unterhaltung par excellence und gehört als dienstältester Held der Populärkultur zu den Vorreitern seiner fantastischen Art. Wer sind seine Follower?
Meyer: Interessanterweise wird Tarzan in den meisten Darstellungen zur Weltliteratur gar nicht genannt, obwohl kaum eine Figur um die Jahrtausendwende – mit Ausnahme vielleicht Dracula – die Populärkultur und die sogenannte Unterhaltungsliteratur so stark geprägt hat. Ähnlich wie Superman ist Tarzan ein guter Charakter, der über sagenhafte Kräfte verfügt und der Sieger bleibt, auch wenn ein Kampf manchmal aussichtslos erscheint. Einem solchen Helden folgt man gerne. Einerseits. Andererseits könnte man auch fragen, ob die Zeit für solche Helden nicht doch vorbei ist: Tarzan als geborener Lord ist zweifellos eine Figur des britischen Imperialismus. In dieser ist die Überlegenheit der „white masculinity“ eines „ultimate male“ nach den Standards von 1912 verkörpert, um einige Grundbegriffe der postkolonialen Gender-Forschung in Anschlag zu bringen. Demgegenüber erscheinen sogenannte „Schwarze“ im Roman ausschließlich stereotypisiert entweder als grausame Menschenfresser oder als naiv-lebensuntüchtige Hausangestellte. Falls sie überhaupt erwähnt werden. Einer der Hauptgegner Tarzans ist wohl nicht ganz zufällig Russe. Und die Großstadt, die Tarzan zufolge gefährlicher sei als der Dschungel, ist Paris und nicht etwa London oder New York. Tarzan ist zwar als Grenzgänger zwischen sozialen Gruppen, Schichten, Ländern, Kulturen und Spezies konzipiert, u.a. dies macht seinen Reiz aus und führt uns als Lesern viele verschiedene Orte, Charaktere und Situationen vor Augen, häufig sehr abenteuerliche und außergewöhnliche und daher interessante. Aber in die Tiefe gehen die Schilderungen Burroughs nicht. Die Romane sind allesamt stark handlungsorientiert und stellen den Kolonialismus an keiner Stelle in Frage. Die Hierarchie im Figurenensemble – ganz oben der englische Adel, dann lange Zeit nichts, dann Adlige anderer Herkunft und US-Amerikaner, gefolgt von der nicht-adligen Bevölkerung der westlichen Staaten und ganz unten alle mit dunklerer Hautfarbe – bleibt stets gewahrt. Und Tarzan bleibt immer der Chef, ob Mensch oder Tier gegenüber. Eine solche ungebrochene Perspektive ist wohl heutzutage glücklicherweise nicht mehr zeitgemäß. Tarzan ist deswegen eine aufmerksame, kritische Leserschaft zu wünschen, die beobachtet, wie enorm erfolgreiche Romane dazu beigetragen haben, eine kolonialistische Denkweise zu formen und zu festigen. Und Autorinnen und Autoren, die diese auch wiederum spannende Geschichte für unsere Zeit unter neuen Vorzeichen fort- oder neuschreiben.
Die Tarzangeschichte ist sowohl als Serie und Comicverfilmung umgesetzt worden als auch mehrere Male als Realfilm - zuletzt 2016 - in den Kinos gelaufen. Warum interessieren wir uns auch nach 100 Jahren noch immer für einen laut jodelnden, lianenschwingenden Affenmenschen im Lendenschurz?
Meyer: In den Tarzan-Romanen werden viele Themen verarbeitet, die auch heute noch von großem Interesse sind: unser Verhältnis zu Natur und Kultur etwa, Möglichkeiten des Überlebens in der ‚Wildnis‘ und unser Vertrauen in die eigenen Kräfte. Auch das Verhältnis von Mensch und Tier – in den meisten Tarzan-Romanen als überwiegend harmonisch gestaltet – ist heute sogar noch aktueller als vor hundert Jahren. Tarzan lässt sich auch den im wahrsten Wortsinn starken Charakteren zuordnen, von denen wir nicht genug bekommen können: Rambo, dem Terminator, Superman… Wollen wir nicht alle wenigstens ein klein wenig sein wie sie?
Uwe Blass (Gespräch vom 21.05.2021)
Prof. Dr. Anne-Rose Meyer studierte Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft, Neuere Germanistik und Romanistik an der Universität Bonn und promovierte ebd. 2000. Meyer habilitierte sich 2009 an der Universität Paderborn. 2018 wird sie zur apl. Professorin an der Bergischen Universität ernannt. Sie lehrt Neuere deutsche Literatur in der Fakultät für Geistes- und Naturwissenschaften ebenda.