Operation Nemesis:
Attentat auf den früheren osmanischen Innenminister in Berlin
Interview mit der apl. Professorin Dr. Sabine Mangold-Will
Am 15. März 1921 erschoss Soghomon Tehlirian im Auftrag eines armenischen Geheimkommandos in der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg den vormaligen osmanischen Innenminister Talât Pascha. Was war der Grund dafür?
Mangold-Will: Für Tehlirian und die armenische Geheimorganisation, der er angehörte, war der Grund offensichtlich: Mehmet Talât Pascha galt bereits den Zeitgenossen als Hauptverantwortlicher der Verfolgung und Ermordung der christlichen Minderheiten, insbesondere der Armenier und Griechen, im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges.
Talât bildete mit Kriegsminister Enver und Marineminister Cemal seit 1913 das Machtzentrum des Osmanischen Reiches. Er war einer der führenden politischen Köpfe des bis 1908 oppositionellen, nationalistischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“, das die vollständige Türkifizierung des Osmanischen Reiches anstrebte. Als Innenminister war Talât maßgeblich für die konkrete Umsetzung einer Bevölkerungs- und Verfolgungspolitik verantwortlich, die auf die radikale Dezimierung nichttürkischer Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich abzielte.
Der Mord an dem osmanischen Innenminister war eine Tat, die unter dem Decknamen „Operation Nemesis“ lief. Was steckte dahinter?
Mangold-Will: „Nemesis“ wollte – darauf weist bereits der Name hin – Rache: Rache für ein Verbrechen, das wir heute mit dem Begriff des Völkermordes adäquat erfassen. Talât war bereits 1919 in den unter alliierter Besatzung stattfindenden Istanbuler Prozessen von einem osmanischen Gericht zum Tode verurteilt worden – allerdings in Absentia, so dass das Urteil nicht vollstreckt werden konnte. Die „Operation Nemesis“ wurde von den Daschnaken, einer 1890 gegründeten, armenisch-nationalistischen und sozialistischen Partei organisiert, die in der englischsprachigen Fachliteratur in der Regel als „Armenian Revolutionary Federation“ bezeichnet wird. Die Daschnaken unterhielten bereits während des Weltkriegs paramilitärische Einheiten, um einen bewaffneten Widerstand der osmanischen Armenier zu etablieren.
Die Verfolgung und Ermordung von schätzungsweise 300.000 bis 1,4 Millionen Armeniern war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. In seinem Buch „Operation Nemesis“ nimmt sich der Kulturwissenschaftler und Leiter des Potsdamer Lepsius-Hauses Rolf Hosfeld dieses Themas an. Er konstatiert, dass die systematische Vernichtung der Armenier nach 1915 nur im Schatten des Krieges möglich war und de facto unter dem Schutz des Bündnisses mit dem Deutschen Reich stattfand. Warum sah das Deutsche Reich tatenlos zu?
Mangold-Will: Die Antwort steckt in Ihrer Frage: Deutschland war mit dem Osmanischen Reich seit 1914 verbündet und betrachtete die Stabilität der Orientfront als kriegsentscheidend. Die deutsche Argumentation setzte sich dabei aus wenigstens zwei Elementen zusammen: Die deutschen Diplomaten betrachteten den Umgang mit den christlichen Minderheiten als innenpolitische Angelegenheit des Osmanischen Reiches. Die deutschen Militärs im Osmanischen Reich akzeptierten zudem die Erklärung der osmanischen Regierung, die Armenier stellten eine (militärische) Bedrohung für die innere wie äußere Stabilität des Osmanischen Reiches dar. Von Reichskanzler Bethmann Hollweg ist der Satz überliefert: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.“ Damit ist die Motivlage des Deutschen Reiches erklärt. Im Übrigen gab es sehr wohl Stimmen aus der deutschen Diplomatie und von Militärs vor Ort sowie Privatpersonen, wie der evangelische Theologe Johannes Lepsius, die hinter den Kulissen oder öffentlich auf die Verbrechen der Jungtürken hinwiesen und Einhalt forderten.
Talât Pascha floh bereits Ende 1918 in einer nächtlichen Aktion aus dem Osmanischen Reich und gelangte mit deutscher Hilfe nach Berlin, wo er weitgehend unbehelligt in der Hardenbergstraße leben konnte. Warum halfen ihm die Deutschen?
Mangold-Will: Das Osmanische Reich war vier Jahre lang der Verbündete des Deutschen Reiches. Die ehemaligen Partner sahen es als ihre Pflicht an, die osmanische Führungsriege vor dem Zugriff der Alliierten zu schützen. Eine Aburteilung der Osmanen unter „Siegerjustiz“ erschien ihnen als Menetekel für die eigene Zukunft. Die neue politische Elite der jungen Weimarer Republik war zudem keineswegs glücklich über die Anwesenheit Talâts und anderer jungtürkischer Flüchtlinge; aber sie stellte das Asyl nie offiziell in Frage. Das hing auch damit zusammen, dass die Mehrheit der Weimarer Gesellschaft eine juristische Verurteilung der Verbündeten wie der eigenen Verantwortlichen der Jahre vor 1918 ablehnte.
Im Prozess vor dem Berliner Landgericht III sprachen die Geschworenen den Beschuldigten Tehlirian frei. Warum?
Mangold-Will: Einer der Prozeßbeobachter, der Wuppertaler Schriftsteller und Pazifist Armin T. Wegner, der den Krieg als Sanitätsoffizier im Osmanischen Reich verbracht hatte, bezeichnete den Prozess gegen Tehlirian ein „Tribunal der Menschheit“, ein „Urteil von weltgeschichtlicher Bedeutung“. Denn obwohl der Staatsanwalt es ablehnte, die Verantwortung Talats vor Gericht zu behandeln, ließen sich die Geschworenen durchaus von den Vorwürfen gegen ihn beeindrucken. Juristisch allerdings beruhte der Freispruch auf der Feststellung der verminderten Schuldfähigkeit des Täters. Die Geschworenen glaubten dem Mörder, er sei ein direktes Opfer der Verfolgung gewesen und habe die Ermordung seiner Familie miterlebt. Dabei gab es bereits zeitgenössisch Hinweise, dass es sich bei Tehlirian um einen politisch motivierten Attentäter handelte.
Der Völkermord an den Armenieren ist bis heute ein umstrittenes Thema. In einer Resolution, die 2016 von Union, SPD und Grünen in den Bundestag eingebracht worden war, heißt es: „Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.“ Das Gedenken des Bundestags sei darum auch ein Ausdruck des besonderen Respekts. Die Türkische Republik, die sich selbst unter der Regierung Erdogan weiterhin als Teil Europas begreifen will, hat sich hingegen nie bei den Armeniern für die Gräueltaten entschuldigt. Warum stellen sich Regierungen gar nicht oder erst sehr spät ihren Verantwortungen?
Mangold-Will: Die verzögerte politische Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern in Deutschland ist leicht zu erklären: Die Verfolgung der Christen im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges stand in der Bundesrepublik Deutschland nachvollziehbarerweise hinter der viel drängenderen Aufarbeitung der Shoah zurück. Die Türkische Republik dagegen verweigert die Anerkennung der Gräueltaten als Genozid bis heute explizit, weil sie sich nie grundsätzlich von der Türkifizierungspolitik der Jungtürken des Ersten Weltkrieges distanziert hat. Zudem fürchtet sie armenische Reparationsforderungen. Das Europa-Parlament hat indes bereits 1987 vom Völkermord an den Armeniern gesprochen. Der deutschen Parlamentsresolution vergleichbare Stellungnahmen gibt es mittlerweile zudem in vielen, vorwiegend europäischen Staaten, so in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz.
Uwe Blass (Gespräch vom 04.01.2021)
Dr. Sabine Mangold-Will studierte Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Sie ist außerplanmäßige Professorin für Neure und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.