Als eine verstimmte Violine Eingang in die Musikwelt fand
Jahr100Wissen-Interview mit dem Musikwissenschaftler Hans-Werner Boresch zum 100. Todestag des Komponisten Camille Saint-Saëns
Am 16. Dezember 1921 starb der Komponist Camille Saint-Saëns, den Zeitgenossen schon in jungen Jahren zum neuen Mozart kürten. Wer war dieser Ausnahmekünstler?
Boresch: Sicher einer der fruchtbarsten und vielseitigsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, was auch daran liegt, dass die Zeit seiner kompositorischen Tätigkeit nicht weniger als 80 Jahre umfasst. Daneben konzertierte er häufig als Organist und als Pianist, er trat mit fünf Jahren zum ersten Mal öffentlich auf – zum letzten Mal übrigens in seinem Todesjahr 1921. Zudem war er zeitlebens interessiert an anderen Künsten, aber auch an Wissenschaften, insbesondere Naturwissenschaften. Saint-Saëns zählt zu den Gründern der Société astronomique de France. Er war also ein Universalist, von dessen Privatleben man allerdings sehr wenig weiß.
Franz Liszt hatte einen nachhaltigen Einfluss auf ihn. Kann man das in seinen Werken hören?
Boresch: Vielleicht hätte er ohne die Bekanntschaft mit Liszt nicht seine „symphonischen Dichtungen“ – darunter Danse macabre – komponiert.
Es ist das kompositorische Prinzip der Themen-Transformation, das wohl von Liszt angeregt ist. Das bedeutet, dass ein Thema oder ein Motiv im Laufe eines längeren Werks mehrfach vorkommt, allerdings z. T. radikal verändert – also transformiert – wird. Ein Beispiel ist die Dritte Symphonie von Saint-Saëns, in der zu Beginn ein Thema eingeführt wird, das mehrfach aufgegriffen wird, dessen Charakter sich aber immer ändert. Das Stück wurde übrigens im seinerzeit sehr populären Familienfilm „Ein Schweinchen namens Babe“ verwendet.
„Samson et Dalila“ gilt als seine erfolgreichste Oper. In der Beschreibung zu diesem Werk heißt es: „In einer Folge von meisterhaft ineinander übergehenden Szenen werden Religion und Verführung unwiderstehlich miteinander verknüpft.“ Nach der Uraufführung 1877 in Weimar, dauerte es noch 13 Jahre, bis man sie in Frankreich erleben konnte. Waren Religion und Verführung zu heikel für ein großes Publikum?
Boresch: In Weimar hatte sich wohl Liszt, der Saint-Saëns gewogen war, für die Uraufführung eingesetzt. In Frankreich galt Saint-Saëns zu dieser Zeit als „einfallslos“ und – zumal in seinen Opern – als Wagnerianer. Somit wurde er als Gift für die Theater-kassen betrachtet. Als „Samson et Dalila“ zunächst in der Provinz in Rouen in Frankreich aufgeführt wird, ist er dagegen ein anerkannter Komponist, dem man aber nun in Deutschland, wegen angeblich Wagner-feindlicher Äußerungen, reserviert begegnet.
Was macht den Reiz seiner sinfonischen Werke wie z.B. „Danse macabre“ aus?
Boresch: Zu ihrem Reiz trägt sicherlich deren Klangfarbe bei: Im „Danse macabre“ verwendet Saint-Saëns z. B. eine verstimmte Solo-Violine und ein – damals ungebräuchliches – Xylophon. In seiner Dritten Symphonie fügt er dem Orchester eine Orgel und ein vierhändig zu spielendes Klavier hinzu.
Den Karneval der Tiere, mit dem Untertitel Grande fantaisie zoologique, eines seiner heute bekanntesten Werke gab er erst nach seinem Tod zur Aufführung frei. Warum?
Boresch: Die ersten Ideen zum Carnaval des animaux erhielt Saint-Saëns wohl in seiner Zeit als Klavierlehrer an einer privaten Musikschule. Erst 20 Jahre später brachte er das Werk zu Papier, uraufgeführt in einem Karnevals-Konzert eines Cellisten.
Saint-Saëns wollte mit dem Verbot wohl verhindern, dass das Werk seine 'seriösen' Kompositionen in den Schatten stellt. Es war also eine Frage des gewünschten Images. Heute kennen die meisten Menschen gerade dieses Werk, in dem auch wieder das Xylophon vorkommt.
Was bedeutet Camille Saint-Saëns für die Musikgeschichte?
Boresch: Für mich ist, neben den Werken, die noch heute durch Aufführungen präsent sind, vor allem bedeutsam und zukunftweisend, dass er 1908 die erste spezifisch für einen Film verfasste Musik vorlegte – für L'Assassinat du Duc de Guise. Das gab es in dieser Form vorher nicht. Es ist die erste Partitur für einen Film.
Charakteristisch für die Rezeption von Saint-Saëns scheint mir eine Diskussion über ein ästhetisches Problem, nämlich das der „sinnlichen Schönheit“ von Kunst zu sein, die Thomas Mann in seinen Roman Doktor Faustus an einem Beispiel von Saint-Saëns sich entzünden lässt. Als dort in einer abendlichen Zusammenkunft von Musikern und Musikfreunden Schallplatten gehört werden, ist auch eine Arie aus „Samson et Dalila“ darunter, die einer der Anwesenden als ´blödsinnig schön` qualifiziert. Der Protagonist des Romans – Adrian Leverkühn – hält dagegen, dass der „Geist durchaus […] von der animalischen Schwermut sinnlicher Schönheit aufs tiefste ergriffen werden“ könne.
Uwe Blass (Gespräche vom 02.11.2021)
Dr. Hans-Werner Boresch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Musikpädagogik in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität-Wuppertal.